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3.7. Auf dem Weg zum international renommierten Verlag
(1885 – 1888)


„Trotz mancher taktischer Meinungsverschiedenheiten ließ sich die Partei von der mühsam erklommenen Höhe der theoretischen Erkenntnis nicht mehr herabwerfen. Sie marschierte vielmehr rüstig auf dem gewonnenen Hochlande voran. Der Sozialdemokrat sammelte in der Sozialdemokratischen Bibliothek die hervorragenden Schriften der älteren sozialistischen Literatur, während sich die Internationale Bibliothek, die Dietz in Stuttgart herausgab, neuen sozialistischen Forschungen eröffnete" (Mehring 1909, S. 274f.).

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3.7.1. Überlegungen zur Herausgabe einer „Internationalen Bibliothek"

Auch 1885 weitete sich die Produktion des Verlages in Stuttgart noch nicht erheblich aus [ Zu Ehren des 1884 verstorbenen Albert Dulk erschien dessen Werk „Der Irrgang des Lebens Jesu" (Teil 1 1884 und Teil 2 1885, ESZ 1881, A 13), dazu der erste Teil einer kurzen „Encyclopädie und Methodologie der politischen Ökonomik" (A 22a). Hinzu kamen mehrere Nachdrucke des Stenographischen Berichtes über die Reichstagsdebatte zur Verlängerung des Kleinen Belagerungszustandes über das Hamburger Gebiet (A 25), eine Fortsetzung der schon in der Hamburger Druckerei ab 1878 begonnenen Dokumentation über die betreffenden Beratungen (vgl. Graf 1989, Anh., S. 33) sowie eine „Statistische Übersicht der Wahlen zum Deutschen Reichstage" (A 26).] , die finanziellen Belastungen waren hoch gewesen, außerdem hatte die Verlagerung der Druckerei viel Zeit (und Geld) verschlungen. Heinrich Dietz konnte aber befriedigt feststellen, daß sein Konzept richtig gewesen war. Für den Stuttgarter Verlag standen durch den finanziellen Erfolg des Hamburger Geschäftes nun ausreichend Mittel zur Verfügung, um auch größere Vorhaben zu realisieren [ „Wir arbeiten jetzt mit 8 großen Schnellpressen und vollständiger Einrichtung aller Nebenbranchen" (ebd.). ] (HD an KK, 27. 6. 1885, IISG, K D VIII, Br. 71). Gleichzeitig war es Heinrich Dietz nach vielen Mühen und vergeblichen Anläufen endlich gelungen, ‘die Scheidewand’ zu den Sortimentsbuchhändlern zu durchbrechen: „Den Buchhändlern war es geradezu ein Greuel, etwas aus unseren Händen zu empfangen und zu vertreiben. Der Petroleumsduft umwob uns auf Schritt und Steg", schrieb er an Kautsky. Seine Vorgänger hätten viel zu ungeschickt agiert und wären zu einseitig vorgegangen, so daß auch die bekannten sozialistischen Schriftsteller bisher gezwungen waren, ihre Werke in bürgerlichen Verlagen unterzubringen (HD an KK, 15. 5. 1886, IISG, K D VIII, Br. 108). Bracke in Braunschweig hatte es seiner Zeit versucht, konnte aber in den Buchhandel nicht vordringen und mußte sich deswegen auf den Kreis der Parteikolporteure beschränken (Kautsky 1913, S. 3f.).

Auf Heinrich Dietz kamen im Stuttgarter Parteigeschäft inzwischen ganz unterschiedliche Aufgaben zu, so schaltete man ihn manchesmal als Vermittler von Geldanlagen ein, z.B. für Gewerkschaftsvereine, die unter dem Sozialistengesetz ebenfalls zunehmend mit Auflösung rechnen mußten. Heinrich Dietz vermittelte Zahlungen ins Ausland, die Gelder wurden umgehend zurücktransferiert, diesmal an Dietz selbst, der es dem Vorstand der Organisation zurückgeben wollte. Alles wurde ordnungsgemäß quittiert, die Gewerkschaftsvermögen standen der inländischen Organisation weiter zur Verfügung [ „Ein Centralverband will sein Geld der Quittung wegen nach der Schweiz senden . [...] Nach Empfang soll der Betrag wieder nach Deutschland gesandt werden, und zwar an mich. Dem [sic] Empfänger in der Schweiz erhält dann wiederum eine Quittung, daß das Geld zurückgezahlt ist. Die Leute wollen bei einer eventuellen Auflösung belegen können , daß das Geld sich im Auslande befindet und dort für Streikzwecke aufbewahrt wird" (HD an HS, 8. 2. 1886, AdSD, NL Schlüter, B 30. Hervorhebungen im Orig.). Gemeint war hier die Buchbinder-Gewerkschaft (13. 2. 1886, ebd.). Die Malergewerkschaft steckte 1887 ihr Geld in das neue Gebäude der Hamburger Druckerei (vgl. dazu weiter unten), im Gegenzug wünschte sie eine Bescheinigung aus der Schweiz, daß der Betrag – 10.000 Mark – für den Unterstützungsfond der Malergehilfen zu Hamburg-Altona-Wandsbeck dort angelegt worden wäre (2. 7. 1887, ebd.). Im Namen eines Fachvereins erkundigte sich Heinrich Dietz kurze Zeit darauf, ob man wohl ein Bargeld-Konto bei einer Schweizer Bank auf drei Namen anlegen könnte oder ob es sinnvoller wäre, für das Geld Staatspapiere zu kaufen (4. 12. 1887, ebd.).] : „Das Vorgehen ist korrekt, und wir müssen hier helfen" (HD an HS, 13. 2. 1886, AdSD, NL Schlüter, B 30).

Für den Zusammenhalt der Stuttgarter Sozialdemokraten sorgte, neben den wenigen öffentlichen Versammlungen in der Zeit der Illegalität, ein ausführliches Veranstaltungsprogramm. Zum Beispiel veranstaltete der ‘Vergnügungs-Klub’ „Vorwärts" mehrere Ausflüge. Offen kündigte man solche Treffen im „Schwäbischen Wochenblatt" und versprach, daß für ‘Ausnahme-Zigarren’ gesorgt werden würde. ‘Alle Vorwärtsschreitenden’ lud man herzlich zur Teilnahme ein (vgl. StA Lb, F 201, Bü 651).

Von den Stuttgarter Verhältnissen war Heinrich Dietz aber alles andere als angetan. Mit Georg Baßler verband ihn ein schon längerer Streit, und für die gesamte örtliche Parteiorganisation hatte er herben Spott bereit: „Das Völkchen krakehlt sich an und rennt wie toll durcheinander. Bösch, Stern, Wiesinger mit den jungen Leuten auf der einen, die alten Landescomité-Mitglieder nebst Anhang (die Repräsentation des reinen Schwabentums) auf der anderen Seite. Jetzt fangen sie an, sich gegenseitig auszuschließen! Wenn in einer Parteiversammlung die Köpfe leidlich zurechtgerückt sind, fängt der Lärm am anderen Tag auf einer anderen Ecke wieder an. Wenn die Interessen der Partei nicht darunter leiden würden und nicht in der Tat einige recht bedenkliche Leute (wie Stern [ Den Heinrich Dietz wenig später ‘Itzig’ Stern nannte: „Aus diesem juif de Babenhausen fliegt eine Broschüre heraus, wenn er sich an eine [sic] Straßenecke stößt oder wenn ihm jemand kräftig auf die Schulter schlägt" (an HS, 2. 6. 1886, AdSD, NL Schlüter, B 30).] und Wiesinger) sich unter den Krakehlführern befänden, so wäre die Geschichte eigentlich ganz ergötzlich" (HD an HS, 20. 4. 1886, AdSD, NL Schlüter, B. 30).

Heinrich Dietz warnte deswegen Karl Kautsky: „An Baßler bitte ich in geschäftlichen Angelegenheiten nicht zu schreiben. Seitdem ich sic! den Menschen selbständig gemacht habe, ist er anstatt fleißiger noch fauler geworden, er kümmert sich um gar nichts, arbeitet zehn Stunden in der Woche, und läuft, was das Schlimmste ist, besoffen in die Mitgliederversammlung, um Skandal zu machen, der ohne ihn gerade genug vorhanden ist. Ein Tölpel bleibt ein Tölpel" (7. 6. 1886, IISG, K D VIII, Br. 112; Hervorhebungen im Orig.).

Daß das Verhältnis zu Baßler merklich abgekühlt war, hatte wohl auch noch einen anderen Grund. Albert Dulk mochte mit seiner Klage über die fehlenden moralischen Qualitäten der Stuttgarter Parteiführer (vgl. Kap. 3.5), zu denen er auch August Bebel und Heinrich Dietz gezählt hatte, nicht ganz unrecht gehabt haben. Denn Ende 1885 wurde Heinrich Dietz mit 42 Jahren erneut Vater. Seine Tochter Anna Maria kam am 27. November zur Welt. Die Mutter war Anna Bertha Frank, eine Schwester von Georg Baßlers Frau Caroline [ Nach Mitteilungen von Siegfried und Georg Bassler, Ev. Kirchenregister. Das kleine Mädchen wurde – wie damals bei unehelichen Kindern üblich – zu einer Familie aufs Land gegeben.] .

Ab Ende September 1885 gab Hermann Schlüter, auf den Beschluß des Kopenhagener Kongresses hin, im Züricher Parteiverlag mit großem Erfolg die „Sozialdemokratische Bibliothek" heraus (NZ 1895). Darin wurde „zu möglichst billigen Preisen das Beste der sozialdemokratischen Broschürenliteratur in einheitlicher Form dem Publikum zugänglich" gemacht (SD 7[1885]Nr. 39, zit. in Bartel/Schröder/Seeber 1980, S. 201.). Es handelte sich zunächst um Nachdrucke älterer – in Deutschland verbotener – Schriften, die teilweise aktualisiert und ergänzt wurden (vgl. hierzu auch ESZ 1981, S. 215ff.; Läuter 1966; insgesamt Schaaf 1970 und 1980). Später kamen neue dünne Broschüren zu aktuellen Tagesfragen sowie Separatabdrucke wichtiger Beiträge der sozialdemokratischen Tagespresse hinzu (ESZ 1981, S. 220).

1886 veränderte Heinrich Dietz eine Restauflage von Engels’ in Zürich erschienenen Buch „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats": „Wenn mein Plan nach Wunsch zur Ausführung gelangt, so nehme ich eine Partie, etwa 1000 (aber zu einem ermäßigten Preise!), lasse Titel und Umschlag entsprechend abändern und das Heft genau in das nötige Format bringen, was ohne Schwierigkeiten zu machen ist" (HD an HS, 3. 12. 1885, AdSD, NL Schlüter, B 30). So wurde verfahren, und Heinrich Dietz bestellte die Exemplare im Januar 1886. „Ich werde das Buch als II. Auflage inserieren" (29. 1. 1886, ebd.). Außerdem bat er auch noch um das gleiche weiße Papier für das neue Titelblatt [ Es handelte sich nicht um eine Neuauflage, wie z.B. die Verlagsbibliographie verzeichnet (ESZ 1981, A 27) . ] (8. 2. 1886, ebd.). Die angebliche zweite Auflage des Buches von Friedrich Engels war ausschließlich für den Vertrieb durch den Buchhandel bestimmt, „es wird auch flott verlangt" (HD an HS, 20. 4. 1886, AdSD, NL Schlüter, B 30).

Im Stuttgarter Verlag erschienen 1886 außer dem „Ursprung der Familie [...]" mit Ausnahme von Bruno Geisers Schrift zur internationalen Friedensgesellschaft und der Darstellung von Max Quarck über die Arbeiterschutzgesetzgebung (ESZ 1881, S. 38) nur noch mehrere Nachdrucke und Fortsetzungen. Seitdem die Stuttgarter Druckerei nicht mehr unter seiner persönlichen Verantwortung betrieben wurde und sich Heinrich Dietz ganz dem Verlag widmen konnte, hatte er sich schon eine Weile Gedanken über die Parteiunternehmen gemacht. Anfang des Jahres machte er deutlich, was er von ihnen hielt: „Die Parteiunternehmen unserer Partei bilden, wenn nicht eine bessere Ordnung der Dinge geschaffen wird, ein Paradies-System aus. Ich danke für diese Perspektive" (an KK aus Berlin, 20. 1. 1886, IISG, K D VIII, Br. 92).

Für sein Unternehmen in Stuttgart hatte Heinrich Dietz daran gedacht, ähnlich der Züricher „Sozialdemokratischen Bibliothek" in Deutschland eine Schriftenreihe mit legaler sozialistischer Literatur zu beginnen, einheitlich ausgestattet – was in der Zeit nicht üblich war (aber bei der „Sozialdemokratischen Bibliothek" Erfolg hatte) – und billig zu erwerben: „Seit Jahr und Tag trage ich die Idee im Kopfe, eine Bibliothek herauszugeben, die vorzugsweise für die arbeitenden Klassen sowie auch diejenigen bestimmt sein soll, die wenig Zeit haben, die Originalwerke der großen Bahnbrecher auf dem Gebiete der Natur- und der Gesellschaftswissenschaften zu lesen" (15. 5. 1886, IISG, K D VIII, Br. 108). Mit Karl Kautsky, der inzwischen in London lebte, hatte er schon ausführlich ausführlich über dieses Projekt korrespondiert: „Ich will noch einmal [...] auf die ‘Bibliothek’ zurückkommen. Es soll nicht eine Serie, sondern womöglich endlos werden. Interessante, für uns wertvolle Monographien, Biographien pp. könnten hier Aufnahme finden, ohne daß für jedes einzelne Werk kostspielige Reklamen und Anzeigen notwendig sein" würden (HD an KK, 11. 11. 1885, IISG, K D VIII, Br. 85). „‘Internationale Bibliothek’ (wie gefällt Ihnen der Titel?)" (16. 7. 1886, Br. 117).

Mit der nötigen – und ihm eigenen – Vorsicht [ „[...] da ich mit verhältnismäßig geringen Mitteln ausgerüstet bin und umsonst auf die Dauer nicht arbeiten kann [...] Nur bei sorgfältigster Vorbereitung, unter der Voraussetzung gediegener Akquisition, ist auf eine Rentabilität zu rechnen" (HD an KK, 15. 5. 1886, IISG, K D VIII, Br. 108).] galt es, somit „den sozialistischen Verlag in Deutschland zu fördern; unsere literarischen Erzeugnisse auch anderen Kreisen zugänglich zu machen, die bis jetzt ganz merkwürdige Begriffe von dem hatten, was wir denn eigentlich wollen und auch über die Form, in welcher wir unsere Anschauungen äußern [...] Ich muß aber [...] Sorge tragen, daß mein Verlag fortwährend durch geeignete Werke belebt wird. Man darf nicht in Vergessenheit geraten [...] Hier haben Sie den Schlüssel zu dem Bibliotheks-Unternehmen" (Br. 108).

Heinrich Dietz profitierte in der Zukunft nicht zuletzt von dem enormen Anstieg der Nachfrage nach Büchern, besonders in den industrialisierten Ballungszentren. Die Buchproduktion stieg schon seit Beginn seiner Tätigkeit in Stuttgart kontiunierlich an [ 8.326 Titel waren im Jahre 1851 neu erschienen; 1875 waren es schon 12.843, 1910 bereits 30.317 (Vgl. hierzu Berman 1982). „Erst mit dem endgültigen Übergang in die industrielle Zeit verlagerte sich der Schwerpunkt des literarischen Schaffens in die Großstädte" (Berman 1982, S. 79).] , durch den technischen Fortschritt bedingt: 1884 war die Setzmaschine erfunden worden, Dampfkraft und mechanische Druckmaschinen konnten eingesetzt werden, später gab es auch Rotationsdruckmaschinen. Nach und nach verfügten auch die potentiellen Käufer eines Verlegers von Sozialistica über höhere Löhne. Nur in Ausnahmefällen handelte es sich bei den Titeln aus dem Stuttgarter Verlag um reine Agitationsliteratur. Der wissenschaftliche Anspruch forderte die Leser heraus, schloß andererseits aber Gruppen des ‘Proletariats’, zumal die vollkommen mittellosen, als Kunden aus.

Heinrich Dietz erkannte dabei die Zeichen der Zeit, nämlich eine fortschreitende Kommerzialisierung des Buchgeschäfts, und machte sie für die Zwecke der Partei nutzbar. Seine ‘Verlegerphilosophie’ legte er in einem seiner vielen Briefe an Karl Kautsky im Herbst 1886 dar: „Ich beurteile die Situation in Deutschland von einem ganz eigenen Gesichtspunkt. So lange ich mit der ruhigen, von jeder Renommisterei und Radaumacherei weit entfernten Weise meine Geschäfte betreibe, die Erzeugnisse mit einem gewissen großkapitalistischen Chic in die Welt einführe, wird man mir weiteres gestatten, als wie den Lärmmachern, wie z. B. Viereck [...]. Dabei muß man sorgsamst alles vermeiden, was eventuell Anlaß zu einem Einschreiten geben könnte" (18. 10. 1886, IISG, K D VIII, Br. 136). Außerdem arbeitete Heinrich Dietz gegen den in seiner Branche üblichen Trend, die Autorenpreise zu drücken: „Wir zahlen das Honorar pränumerando, also nicht nach dem Verkauf, sondern vorher" (HD an Natalie Liebknecht, 21. 12. 1905, IML, NL Liebknecht, 34/84).

Auch seine Gedanken über die allgemeine politische Lage und die sozialistische Literatur im besonderen vertraute Heinrich Dietz Kautsky an. Im Herbst, noch kurz vor dem Haftantritt, schrieb er: „Es ist wohl richtig, daß die theoretischen Kenntnisse bezüglich unserer Prinzipien im Schwinden sind, dasselbe ist aber auch der Fall in Bezug auf allgemeine Bildung. Eine seltsame Verrohung macht sich geltend, die wohl vor ca. 15 – 10 Jahren zurück in unseren Kreisen vorhanden war, aber nicht dominierend. Der Intellekt ist hin, der Knüppel geblieben. Dazu haben jedoch am meisten die letzten Kriege und die geradezu verrückt geleitete Schule beigetragen. Eine sorgfältig gewählte, für große Massen berechnete sozialistische Literatur kann viel bessern, aber nicht alles. So lange die Schule in den Händen muckerischer Lehrer und politischen Pfaffen liegt, wird im großen und ganzen nichts Ordentliches erreicht. Vielleicht macht ‘Knüppel aus dem Sack’ eines schönen Tags der Lumperei den Garaus, dann wollen wir hoffen, daß soviel Vernunft zurückbleibt, daß nicht alles im Hexensabbat untergeht" (24. 10. 1886, IISG, K D VIII, Br. 137).

Die „Bibliothek", die der konstatierten Verflachung entgegenwirken sollte, war nach Heinrich Dietz’ Willen zunächst darauf angelegt, die Theoretiker der sozialistischen Bewegung, „allen voran Marx [...] leicht faßlich" dazustellen [ Heinrich Dietz in einem Brief an Karl Kautsky (15. 5. 1886, IISG, K D VIII, Br. 108). Später wurde besonders den DDR-Verlagen vorgeworfen, durch Vereinfachung (möglicherweise auch durch ‘Interpre-tation’) Texte zu popularisieren. Schon Heinrich Dietz als der wichtigste Parteiverleger machte diese Art der Veröffentlichungen zu seinem Programm. Allerdings erschienen bei ihm die Bearbeitungen nicht unter der Autorenschaft der ‘Klassiker’. Vgl. hierzu auch das Programm der Heinrich-Dietz-Ge-sellschaft, vorgestellt von Kampffmeyer in: Vorwärts 1922 [c] (Kap. 4.1.19).] . Nachdem Heinrich Dietz – ganz in Kautskys Sinne – Heinrich Brauns Rückkehr in die Redaktion der „Neuen Zeit" verhindert hatte [ Wilhelm Liebknecht versuchte 1886, Heinrich Braun wieder als Redakteur der „Neuen Zeit" durchzusetzen. Diesmal aber weigerte sich auch Heinrich Dietz (HD an KK, 24. 2. 1886, IISG, K D VIII, Br. 97). Damit war ganz offenbar der Konflikt der vergangenen Jahren zwischen Heinrich Dietz und Karl Kautsky endgültig beigelegt und Kautsky im Gegenteil für den Stuttgarter Verlag noch wichtiger geworden.] : „Was wohl aus der Geschichte herausgekommen wäre, wenn Braun, wie es in seinem und des Alten Plan lag, ‘Platz’(!)-Redakteur hätte spielen sollen? Der Mann soll studieren, seiner Frau Kinder machen und den Herrgott einen guten Mann sein lassen – zum praktischen Mittun ist er nicht zu gebrauchen" (HD an KK, 24. 10. 1886, IISG, K D VIII, Br. 137; vgl. auch Gilcher-Holtey 1986, S. 54), bekam Karl Kautsky auch eine Art Lektorenfunktion für die „Internationale Bibliothek" [ Die sieben Titel der ersten zwei Jahre erschienen fast alle unter der Herausgeberschaft von Karl Kautsky (Adler u.a. 1954). Er korrespondierte mit August Bebel über die „Internationale Bibliothek", teilte ihm auch mit, er wollte eine Einheitlichkeit wahren und auch nur Autoren mit einem einheitlichen Standpunkt engagieren, keine Vorschriften erteilen, die die einzelnen Schriftsteller nur unnötig einengen würden. „Freilich bin ich durch diesen Grundsatz in der Wahl meiner Mitarbeiter sehr beschränkt" (25. 10. 1886, in: Bebel/Kautsky 1971, S. 57, Hervorhebung von mir). Daraus wird Kautskys Verantwortung für die „Internationale Bibliothek" ganz deutlich.] . Er bereitete zuerst eine Unterreihe mit Schriften über die Sozialisten des 16. und 17. Jahrhunderts vor [ Karl Kautsky versuchte, auch August Bebel für die Naturwissenschaftler des 18. Jahrhunderts zur Mitarbeit zu gewinnen. Er bat ihn um eine Darstellung über den französischen Sozialisten Charles Fourier (geschrieben während der Haftzeit 1886/87, 1888 als Band 6 aufgenommen; Bebel/Kautsky 1971, S. 54ff.). ] (KK an AB, 25. 10. 1886, Bebel/ Kautsky 1971, S. 58).

Zur ersten Serie gehörten populäre naturwissenschaftliche Darstellungen zur wissenschaftlichen Unterstützung materialistischer Auffassungen. Heinrich Dietz äußerte dazu in einem Brief an Friedrich Engels, er wollte in der „Internationalen Bibliothek" mit einer kurzgefaßten Erdgeschichte bis zum Auftreten der Menschen (Dodel-Port, ESZ 1881, A 142), der schon erschienenen Arbeit von Köhler über die Weltschöpfung (A 37) und der Darwinschen Theorie „etwas Zusammenhängendes" vorlegen und mit der Engelsschen Schrift „Der Ursprung der Familie[...]" zum Abschluß bringen (im IML, zit. in Läuter 1966, S. 220).

Ein starkes Interesse in der sozialdemokratischen Öffentlichkeit an verständlich geschriebenen Darstellungen der Natur-, der Staats- und Gesellschaftswissenschaften konnte bisher vom bürgerlichen Buchhandel nicht ausreichend befriedigt werden, die Werke waren in der Regel nur für Fachleute geschrieben, in fast jedem Falle aber zu teuer gewesen. Heinrich Dietz begann mit den Vorbereitungen noch 1886, mit der Herausgabe wollte er beginnen, sobald eine Serie von ‘mindestens 8 – 10 Heften komplett und druckfertig’ vorlag (HD an KK, 15. 5. 1886, IISG, Kautsky-NL, D VIII, Br. 108).

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3.7.2. Fortsetzung des Geheimbundprozesses in Freiberg

Am 26. Juli 1886 wurde das Revisionsverfahren im ‘Geheimbundprozeß’ gegen die Teilnehmer des Kopenhagener Kongresses, der nun immerhin schon drei Jahre zurücklag, vor der Ferien-Strafkammer des Freiberger Landgerichts eröffnet. Insgesamt drei Tage lang wurde dort erneut verhandelt. Und wieder sprach vorwiegend August Bebel für die Angeklagten. Keinerlei Auskunft war über ihre Beziehung zum „Sozialdemokrat" zu bekommen, so sehr sich das Gericht auch bemühte. Nach einem Bericht in der Hamburger „Bürgerzeitung" beschränkte sich Heinrich Dietz’ Rolle im Prozeß auf eine knappe Antwort zur Frage des Richters: „Herr Dietz, wünschen Sie die Verbreitung des „Sozialdemo-krat?"" – „In dieser Beziehung hat mein Herz keine Wünsche", eine Replik, der sich auch Karl Frohme, Philip Müller und Carl Ulrich anschlossen (SD 8[1886]Nr. 32). Das Urteil wurde am 4. August verkündet, und diesmal gab es einen Schuldspruch: Die Angeklagten Auer, Bebel, Frohme, Ulrich, Viereck und von Vollmar wurden zu je neun Monaten, die Angeklagten Dietz, Müller und Heinzel zu je sechs Monaten Gefängnishaft verurteilt. Die längeren Strafen wurden damit begründet, daß „die Mitgliedschaft der Ersteren an der in Frage stehenden Verbindung nach dem Ergebnisse der Beweisaufnahme länger gedauert" habe: Sie wären nämlich schon auf dem Parteikongreß in Wyden gewesen [ Zu Georg von Vollmars Verurteilung wegen der Teilnahme am Wydener Kongreß siehe Kap. 3.5.4, FN 44.] (Schwabe 1886, S. 516).

Das Urteil wurde nicht nur in der sozialdemokratischen Presse scharf kritisiert [ Eine Zusammenstellung in: Preßstimmen 1886.] , weil es nicht einfach gewesen war, aus denselben ‘Beweisen’ [ Die ‘Beweise’ hatte sich auch das Chemnitzer Gericht erst nachträglich verschafft, z.B. das Protokoll des Kopenhagener Kongresses. So waren auch alle ‘neuen’ Beweise nachgeschoben: „Citate aus späteren Nummern des Sozialdemokrat, aus Reden der Angeklagten, welche von ihnen während des inzwischen stattgehabten Reichstags gehalten worden waren etc." (Schwabe 1886, S. 517). ] ganz andere Sachverhalte zu konstruieren. Das Reichsgericht und mit ihm das Freiberger Landgericht faßten den Begriff der Zugehörigkeit zu einer verbotenen ‘Verbindung’, der der Anklage zugrundelag, dann wesentlich weiter. Denn anders konnte offenbar die gewünschte Verurteilung nicht erreicht werden. Dazu wurden Erkenntnisse verwandt, die selbst noch nach dem Freiberger Freispruch in Prozessen in Hamburg und München gewonnen worden waren. Den Angeklagten wurde – entgegen der Gesetzeslage – nicht etwa der Beitritt zu der Vereinigung nachgewiesen, sondern als Beweis ‘konkludente’ Handlungen herangezogen [ „Handlungen, die auf das Vorhandensein eines bestimmten Willens hindeuten und damit eine bestimmte Rechtsfolge herbeiführen" (Bartel/Schröder/Seeber 1980, S. 210). Die jetzt gültige Formulierung heißt ‘billigend in Kauf nehmen’.] – in die das Gericht alles mögliche hineininterpretieren konnte (vgl. Bartel/Schröder/Seeger 1980, S. 210; Schwabe 1886, S. 517 u. 519). Die Rechtsbeugungen gingen so weit, daß Rechtsanwalt Munckel deswegen schließlich feststellte: „glücklicherweise habe der höchste Gerichtshof des Reichs erklärt, die ‘Verbindung’ müsse sich mit ‘öffentlichen Angelegenheiten’ beschäftigen, denn sonst wäre jede Familie in Gefahr, als eine Verbindung im Sinne des Strafgesetzbuchs angesehen zu werden" (zit. bei Mehring 1909, S. 285).

Der Kopenhagener Kongreß selbst spielte eine ganz untergeordnete Rolle. Obwohl Anlaß der Verhaftungen und Strafverfolgungen, bot der Kongreß doch, „wie man sich überzeugen mußte, an und für sich allein betrachtet, zunächst keinen ausreichenden Anhalt zu einem weiteren strafrechtlichen Vorgehen" und taugte am Ende auch nur noch als ‘Beweismittel’ (Schwabe, S. 518).

Gegen die Sozialdemokraten begann mit der in Freiberg konstruierten Rechtslage eine ganze Serie von Geheimbundprozessen [ In Altona wurden schon am 5. August Sozialdemokraten verhaftet: „Was sagen Sie zu dem Urteil? [..., hier ist] z.B. gestern die ganze Altonaer Organisation oder wie es sonst heißt, von der Polizei aufgehoben worden. Das wird einen bösen Prozeß gegen. Einige 1000 Mark Geld und [...] reichliche Schriften sind beschlagnahmt und vorläufig 10 Mann eingelocht" (HD aus Hamburg an KK, 6. 8. 1886, IISG, K D VIII, Br. 121).] (Bartel/Schröder/Seeber 1980, S. 211; Herrmann/Emmrich 1989, S. 286). Wesentlich trug zur schnellen Polizeiaktion bei, daß das Urteil gedruckt wurde (Urteil 1886) – ein sonst nicht übliches Verfahren, das eine beliebige Versendung an „sämtliche deutsche Polizeiministerien und zur Darnachachtung" erlaubte [ Zu befürchten stand nun, daß auch andere Reichstagsabgeordnete mit gerichtlicher Verfolgung rechnen mußten. Deswegen wurde der Beschluß gefaßt, „auf exponierte Posten wenn irgend möglich nur noch junge ledige Genossen zu stellen, die sich durch agitatorische Tätigkeiten den Behörden noch nicht zu sehr bekannt gemacht hätten" (v. Madai, 15. 11. 1887, zit. in: Höhn 1964, S. 293). Eine Folge des beginnenden Generationswechsels in der sozialdemokratischen Führungsschicht war, daß die neuen Vorstände in den Lokalorganisationen zunächst Schwierigkeiten bekamen, wegen mangelnder Erfahrung und Autorität nicht anerkannt wurden, oder auch schwere Fehler machten (ebd.).] (SD 8[1886]Nr. 37, vgl. auch Lipinski 1928, S. 95). Eine Erklärung der Fraktion, dem „So-zialdemokrat" nunmehr und notgedrungen die Eigenschaft als offielles Parteiorgan abzu-sprechen [ Ab dem 5. November 1886 erschien der „Sozialdemokrat" mit dem verändertem Untertitel: „Organ der Sozialdemokratie deutscher Zunge" (SD 8[1886]Nr. 45) anstelle „Zentral-Organ der deutschen Sozialdemokratie" (bis SD 8[1886]Nr. 44).] (SD 8[1886]Nr. 43), konnte daran nicht viel ändern.

Dieses Mal legten die Verurteilten Berufung ein: „Unsere Revision beim Reichsgericht gelangt zur Verhandlung, und zwar am 11. Oktober! Die Herren haben Eile. Ich werde alles aufbieten, um Strafaufschub zu erlangen" (HD an KK, 2. 10. 1886, IISG, K D VIII, Br. 131). Die Berufung wurde erwartungsgemäß zurückgewiesen: „Lieber Freund, teile Ihnen mit, daß das Reichsgericht die Revision verworfen hat. Ich muß also auf alles gefaßt sein, da nicht mit Sicherheit anzunehmen ist, daß Aufschub bewilligt wird" (HD an KK, 11. 10. 1886, IISG, K D VIII, Br. 135).

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3.7.3. Haft in Chemnitz

Kurz vor dem entscheidenden Prozeß im sächsischen Freiberg hatte Heinrich Dietz wohl doch schon mit einer Verurteilung gerechnet: „In unserem guten Deutschland kommt es mir vor, als wenn man Lust hat, uns in nächster Zeit einige derbe Rippenstöße zu versetzen. Die Luft riecht so eigenartig" (an HS, 12. 6. 1886, AdSD, NL Schlüter, B 30). Auch in der Partei sah Heinrich Dietz nirgendwo Unterstützung: „Die aktiven Parteikreise sind leider für uns kaum zu verwenden. Die Leute lernen nichts mehr und besitzen einen Dünkel, der sie den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen läßt" (11. 9. 1886, Br. 127).

Deshalb hatte Heinrich Dietz schon frühzeitig Vorkehrungen für seine mögliche Abwesenheit vom Stuttgarter (und Hamburger) Geschäft getroffen, bevor er die Haft antreten mußte. „Im Oktober denke ich die Strafe anzutreten und stürze mich demgemäß scharf in die Arbeit, um unter möglichst geringer Schädigung an der unangenehmen Sache vorbeizukommen" (15. 8. 1886, IISG, K D VIII, Br. 122). Ausführlich korrespondierte Heinrich Dietz in diesen Wochen mit Karl Kautsky, wohl auch, um ihn zu beruhigen, die Haftzeit würde sich keineswegs schädlich auf die „Neue Zeit" und auf Kautskys Stellung im Verlag auswirken. Wilhelm Blos sollte „für die Redaktion [der „Neuen Zeit", agr.] zeichnen und in jeder Hinsicht verträglich sein. Er liest die Revision nur in Bezug auf unser Straf- und Sozialistengesetz. Alles andere kümmert ihn nicht" (IISG, K D VIII, Br. 17, ähnlich Br. 123). Blos hätte sich im übrigen sehr zu seinem Vorteil entwickelt, meinte Heinrich Dietz, nachdem dieser nicht mehr unter Geisers Einfluß stünde (16. 8. 1886, Br. 123). Es war noch so viel zu bewältigen: Die Ankündigung der geplanten „Internationalen Bibliothek" (vgl. Kapitel 4.5.3) sowie der Prospekt für den nächsten Jahrgang der „Neuen Zeit" mußten noch fertiggestellt werden, bevor Heinrich Dietz seine ‘Sitzung’ antreten sollte (KK an AB, 17. 8. 1886, Bebel/Kautsky 1971, S. 54).

Seinen Genossen in der Stuttgarter Druckerei – namentlich Georg Baßler – traute Heinrich Dietz nicht viel zu, und so versicherte er Kautsky: „Ich habe jetzt Vorkehrungen getroffen, daß, sobald die Luderei während meiner Abwesenheit passiert, sofort die Neue Zeit in eine andere Druckerei wandelt" (25. 8. 1886, Br. 124). Er selbst war unsicher, wie er den Stand und die Zukunft des Geschäftes bewerten sollte. Einerseits befürchtete Heinrich Dietz – wohl zu recht – empfindliche geschäftliche Einbußen während seiner Abwesenheit [ Das kam besonders in den Briefen an Hermann Schlüter zum Ausdruck (AdSD, NL Schlüter, B 30).] . Er war nun einmal der Meinung, ohne seine Aufsicht könnte nichts ordentlich erledigt werden. „Der Verleger ist nicht nur verantwortlich für das, was in dem Blatte steht", begründete er seine Haltung, „sondern auch für das gesamte geschäftliche Gebaren der Redaktion und Expedition, auch der Drucker kann sich an ihn halten" (an WL, 23. 8. 1886, IML, NL Liebknecht, 34/18, Hervorhebung im Orig.). Kurz vor seinem Haftantritt aber war er andererseits wieder recht zuversichtlich. Zum Abschied ermahnte er Karl Kautsky: „Arbeiten Sie nicht zu viel, auch in solchen Dingen muß weise Maß gehalten werden" (18. 10. 1886, IISG, K D VIII, Br. 136).

Heinrich Dietz hatte zwar alles versucht, um für sich noch einen Aufschub vor dem Strafantritt zu erreichen, aber keinen Erfolg gehabt (HD an KK, o.Dat. Anfang bis Mitte Nov. 1886, IISG, K D VIII, Br. 17). Er rechnete am Ende fest damit, geschäftlich „nicht ohne einige böse Schrammen" davonzukommen. Pessimistisch sah er in die Zukunft: „Mir graut geradezu vor der kommenden Unordnung" (7. 9. 1886, Br. 125). Aber vor allem: „Das Allerschlimmste bei mir ist der Ekel vor der Kost" (an HS, 5. 10. 1886, AdSD, NL Schlüter, 30/25).

Die ‘Einberufungsordre’ forderte Heinrich Dietz auf, sich am 17. November 1886 im Gerichtsgefängnis Chemnitz einzufinden [ „Die herrschende Klasse warf ihn 1885 zusammen mit Bebel und anderen wegen Teilnahme am Kopenhagener Kongreß sechs Monate ins Gefängnis" (Schälicke 1952). Andere nicht zutreffende Angaben in Keil 1956 und Munzinger-Archiv 1914.] (HD an KK, Br. 139 u. 140). Mit ihm waren dort Stefan Heinzel und Philipp Müller inhaftiert. Auch August Bebel ‘saß’ ab dem 15. November zunächst einige Tage in Chemnitz, wurde dann aber nach Zwickau verlegt (Herrmann/Emmrich 1989, S. 286 [ Emig/Schwarz/Zimmermann schrieben über seine Gefängnisstrafe, er hätte sie „mit Bebel u.a. 1886/87 in Leipzig verbüßen" müssen (1981, S. 17).] ). Die Verurteilten wurden zwar – wie Bebel schon mehrfach zuvor – nicht wie die gewöhnlichen Häftlinge behandelt, konnten während des Hofgangs zusammen sein, hatten Licht von 6 Uhr morgens bis 22 Uhr, sie durften sich zusätzliche Verpflegung bringen lassen, ein bis zwei Zeitungen täglich lesen und mußten nicht arbeiten [ Diese Hinweise verdanke ich Ursula Herrmann.] , doch die Einschränkungen waren natürlich gravierend. Das sächsische Innenministerium verordnete z.B. kategorisch: „Keinesfalls Ausnahme für Tabakgenuß, weder Rauchen noch Kauen oder Schnupfen für die Sozialisten!" (11. 11. 1886, IML NL Bebel, 22/65) Die Gefängnisleitung überwachte die Korrespondenz, die Briefe wurden geöffnet (ebd.). Heinrich Dietz bat ‘alle vorwiegend von Arbeitern gelesenen Zeitungen’ (BüZtg.) um eine Mitteilung, man sollte ihm nichts nach Chemnitz schicken: „Derartige Briefe und Kreuzbandsendungen gelangen nicht in meine Hände, und wenn dies auch geschehen würde, so wäre ich gar nicht in der Lage, jemandem raten oder helfen zu können. Ich bitte Sie, dies, soweit es möglich ist, anderen mitzuteilen. Man erspart mir dadurch Unannehmlichkeiten" (zit. in: BüZtg. 7[1887]Nr. 6, 8. 1.).

Im „Sozialdemokrat" widmete ‘Die rothe Kröte’ den Verurteilten ein langes ‘Weihnachtslied’ (SD 8[1886]Nr. 52), darin hieß es:

„Laßt nur getrost den Dingen
Der Zukunft ihren Lauf;
Es hält der Sache Gelingen
kein deutscher Richter auf.

Und schloß man für die Sache
Euch hinter Mauern ein,
‘Für Freiberg unsre Rache!’
Soll Euer Trostwort sein!"

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3.7.4. Reichstagswahlen 1887

1886 noch spottete die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag über die ‘Gemeingefährlichkeit’ ihrer Abgeordneten [ Im Reichstag wurde wieder einmal über die Verlängerung des Sozialistengesetz verhandelt. ] . Zu beachten wären die grotesken Unterschiede ihrer Gefährlichkeit, denn aus dem Belagerungsgebiet um Hamburg wären zum Beispiel nur Ignatz Auer, Wilhelm Blos und Heinrich Dietz ausgewiesen, „alle übrigen können nach Hamburg kommen, die sind dann also nicht gemeingefährlich. In Berlin sind gemeingefährlich die Abgeordneten Auer, Liebknecht, Hasenclever, Rödiger und Viereck, die anderen sind nicht gemeingefährlich; außerdem sind wir alle nicht gemeingefährlich für die Dauer der Reichstagssession, da dürfen wir hier sein, und ich glaube, auch noch 48 Stunden nachher – alsdann beginnt unsere Gemeingefährlichkeit: wenn wir nicht gehen, werden wir am Kragen gepackt und hinausgeworfen" (zit. in Laufenberg 1931, S. 473). Alle Argumente nützten aber immer noch nichts. Am 31. März 1886 beschloß die Mehrheit im Reichstag eine Verlängerung des Sozialistengesetzes, allerdings nur um weitere zwei Jahre (Rieber 1984, S. 315; Sten. Ber. 1886, S. 1799f.).

Versuche, neben gesetzlichen Einschränkungen diesen unterschiedlich ‘gemeingefährlichen’ Sozialdemokraten ihre Basis durch die staatlichen Sozialreformen zu entziehen sowie Hoffnungen auf eine Annäherung der Partei an Bismarcks Kurs waren in den letzten Jahren fehlgeschlagen [ Vgl. hierzu z.B. Pack 1961.] . Die Antwort darauf war eine verschärfte Anwendung des Sozialistengesetzes: „Da die in dem §1 des Gesetzes gekennzeichneten Bestrebungen im Lauf der Zeit bei der öffentlichen Agitation immer unverhüllter zu tage traten, erschien es notwendig, die Zügel wieder etwas schärfer anzuziehen" (v. Madai, 24. 7. 1886, zit. in: Höhn 1964, S. 268). Eingeleitet wurde die neue Phase mit einem Streikerlaß des preußischen Innenministers von Puttkamer am 11. April 1886 (Rieber 1984, S. 316 u. 325), der das Sozialistengesetz vorwiegend auf Gewerkschaftsversammlungen und -aktivitäten ausdehnte, denn vorgeblich barg ‘jeder Streik die Hydra der Revolution in sich’ (Herrmann/Emmrich 1989, S. 285). Im Zuge des härteren Kurses gegen die Sozialdemokraten wurde Paul Singer, Abgeordneter des 4. WK, nach Beendigung der Reichstagssession Ende Juni aus seiner Heimat Berlin ausgewiesen (SD 8[1886]Nr. 27).

Bismarck hatte im November 1886 versucht, sich durch den Reichstag eine Aufstockung des Militäretats auf sieben Jahre (Septennat) bewilligen zu lassen – wieder einmal erpresserisch mit Kriegsgefahr drohend. Einen angebotenen Kompromiß – Bewilligung der Mittel auf drei Jahre – wollte Bismarck nicht akzeptieren und löste den Reichstag gleich nach der 2. Lesung der Militärvorlage am 14. Januar 1887 auf (Sten. Ber. 1887, S. 433; Laufenberg 1931, S. 525). Danach schlossen sich die nationalliberale, die deutsch- und die freikonservative Partei zu einem Kartell zusammen [ Auch ‘Septennats-Wahlen’ oder ‘Faschingswahlen’ (am Wahltag – 21. Februar 1887 – war Rosenmontag). Verspottet wurde gleichzeitig das Wahlkartell, das die Wahlen zur Farce machten (‘Kartell-Wahlen’; vgl. z.B. Mehring 1909, S. 287ff.).] . Sie alle schürten die Furcht vor dem Krieg und verbreiteten die Parole: Nur die Bewilligung des von Bismarck geforderten Militäretats (für die kommenden sieben Jahre) könnte den Frieden sichern (Laufen-berg 1931, S. 527).

Die Oppositionsparteien wurden im Wahlkampf – wie ‘gewohnt’ – behindert, Flugblätter entweder gleich verboten oder die Verteilung verhindert (S. 528). Erneut wurden die Belagerungsgebiete noch einmal ausgedehnt, und zu den dergestalt erschwerten Bedingungen kam hinzu, daß inzwischen die in Freiberg verurteilten Abgeordneten im Gefängnis saßen und für die Parteiagitation ausfielen. So kündigten die Sozialdemokraten im Wahlkreis Hamburg II ihren Kandidaten an mit dem Zusatz: „J.H.W. Dietz, Stuttgart, z.Z. Chemnitz" (StAH S 1213). Die massiven Repressalien und Haussuchungen, die die Wahlvorbereitungen begleiteten, erwiesen sich jedoch als vergeblich. Schon die „Bürgerzeitung" urteilte vorher offen ironisch über die Konkurrenten, die in Hamburg gegen August Bebel und Heinrich Dietz antraten: „Es wird sich auch wohl ziemlich gleich bleiben, wer sich zu dieser Durchfallkandidatur hergibt" (BüZtg. 7[1887], Nr. 21, 26. 1.). Heinrich Dietz und August Bebel konnten, trotz der Behinderungen und obwohl sie im Gefängnis waren – oder gerade deswegen -, ihr Mandat gleich in der Hauptwahl wieder gewinnen [ WK I: Bebel: 14.497, Braband (Nationalliberale P.): 9.578; Richter (Freisinnige P.): 3.510; WK II: Dietz: 18.672, Versmann (Nationalliberale P.): 6.058), Adloff (Freisinnige P.): 5.219. Gegenüber den Wahlen 1884 steigerte Heinrich Dietz dementsprechend seinen Stimmenanteil noch einmal um über 4.000 Stimmen (StAH S 1200; Laufenberg 1931, S. 535f.).] . Die Hamburger Wähler ließen sich nicht irreführen. Das Vierstädtegebiet um Hamburg erwies sich damit wieder als eine der sozialdemokratischen Hochburgen [ Auch Karl Frohme wurde im ersten Wahlgang in Altona gewählt, Stephan Heinzel kam im Wahlkreis Hamburg III mit dem höchsten Stimmenanteil in die Stichwahl, unterlag dann aber noch einmal dem Reeder Woermann [Voss-Louis 1987, S. 210]). Das Mandat konnte dort erst gewonnen werden, als Heinzel nicht mehr zur Wahl antrat.] .

Die Sozialdemokraten verloren jedoch, unter den repressiven Umständen nur eingeschränkt aktionsfähig, reichsweit über die Hälfte ihrer Mandate, verbesserten aber ihren prozentualen Anteil an den Wählerstimmen auf etwa 10 % (Herrmann/Emmrich 1989, S. 288). Mit August Bebel, Karl Frohme und Heinrich Dietz konnten drei von den verbliebenen 11 sozialdemokratischen Abgeordneten zu Beginn der neuen Legislaturperiode nicht an den Reichstagsverhandlungen teilnehmen. August Bebel hatte noch bis zum August in Zwickau zu bleiben, Heinrich Dietz ‘saß’ bis Mai im Gefängnis.

1887 war es Wilhelm Liebknecht, der kein Mandat erhalten hatte, obwohl er als Angehöriger der radikaleren Strömung in der Fraktion dringend gebraucht wurde. An den Überlegungen, ob man für Wilhelm Liebknecht einen sicheren Wahlkreis freimachen sollte (und könnte), beteiligte sich ein Freund Bebels und Liebknechts: Ignaz Bahlmann brachte Heinrich Dietz und dessen Hamburger Mandat ins Gespräch. Er wäre auch bereit gewesen, Heinrich Dietz in Chemnitz zu besuchen und dort auf einen Rücktritt zu Liebknechts Gunsten zu drängen, schrieb Julie Bebel ihrem Mann. Das wäre bei Bahlmann „förmlich zur fixen Idee geworden" (6. 3. 1887, IML, NL Bebel, 22/141), und sie wüßte wirklich nicht, wie der den Mut dazu aufbrächte, die Angelegenheit im Gefängnis zu besprechen. Bahlmann hätte sogar versucht, über Helene Dietz sein Ziel zu erreichen (9. 3. 1887, ebd.). August Bebel erwartete von Heinrich Dietz zunächst einen freiwilligen Verzicht, wollte ihn aber nicht verärgern und antwortete: „Dietz darf unter keinen Umständen angegangen werden, für Liebknecht zurückzutreten, das würde ihn schwer beleidigen. Wenn seine Gesinnung so ist, wie man voraussetzt, wird er es freiwillig tun. Wenn nicht, bleibt’s, wie es ist" (28. 2. 1887, IML NL Bebel, 22/149, Hervorhebung im Orig.). Wenig später verwahrte sich August Bebel noch einmal strikt gegen Ignaz Bahlmanns Bemühungen, sich in die Mandatsangelegenheit einzumischen und besonders, ihn, Bebel, als angeblichen Befürworter der Aktion auszugeben. Im übrigen hätte Wilhelm Liebknecht – weil Heinrich Dietz seine enorme Stimmenzahl „hauptsächlich tausenden von Kleingewerbetreibenden" verdankte, „die in ihm ihresgleichen sehen" und sich bei einem Rücktritt schwer verprellt vorkämen – in Hamburg auch gar keine Chance (an JB, 7. 3. 1887, ebd.). Bebels Überlegung zielte in dieselbe Richtung, wie er schon einmal (1881) eingeschätzt hatte: Der Zusammenschluß aller bürgerlichen Parteien würden einen erneuten Sieg im Wahlkreis Hamburg II verhindern.

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3.7.5. Nach der Haft

Solange ihr Mann in Chemnitz ‘saß’, übernahm Helene Dietz die Geschäftsführung des Stuttgarter Verlages. So konnte Heinrich Dietz sicher sein, daß wenigstens die Finanzen ‘glatt abgewickelt’ werden würden (HD an KK, 16. 8. 1886, IISG, K D VIII, Br. 123). Karl Kautsky würdigte Helene Dietz und ihre Entschlossenheit später mit großem Lob: „Wer Dietz ehrt, muß auch diese tatkräftige und kluge Frau ehren, die so verständnisvoll und standhaft mit ihm den Kampf gegen alle die Mißhandlungen mitkämpfte, die unter dem Schandgesetz namentlich über die Ausgewiesenen in ruchloser Hetzjagd verhängt wurden" (Kautsky 1913, S. 7).

Helene Dietz hatte während der sechs Monate ihren Mann nicht ein Mal besuchen können, das Fahrgeld war ihr zu hoch gewesen. Das Angebot von Ignaz Bahlmann im Frühjahr 1887 – allerdings in Verbindung mit dem Vorschlag gemacht, Heinrich Dietz sollte doch zugunsten Wilhelm Liebknechts auf sein Reichstagsmandat verzichten – wies Frau Dietz zurück (JB an AB, 9. 3. 1887, IML, NL Bebel, 22/141; AB an JB, 13. 3. 1887, 22/149).

Während der Haft hatte Heinrich Dietz wenig Möglichkeiten gehabt, sich um die Druckerei in Hamburg und den Verlag in Stuttgart zu kümmern. Auch an Karl Kautsky schrieb er nur zwei Briefe. In einem versicherte er zwar, es ginge ihm den Umständen entsprechend gut, aber: „die Unruhe wächst von Tag zu Tag. Ob das nun Nervosität oder ein physischer Vorgang ist – ich weiß es nicht, aber ich wünsche den 17. Mai bald hinter mir zu haben" (1. 4. 1887, IISG, K D VIII, Br. 147).

August Bebel war besorgt: „Dietz schrieb mir vorige Woche. Er scheint sich in der Haft nicht sehr wohl gefühlt zu haben. Er selbst sei 4 Pfund leichter geworden [...] Auch schreibt er von der ‘entsetzlich langen Zeit’, die es gewesen sei" (AB an JB, 21. 6. 1887, IML, NL Bebel, 22/149). Heinrich Dietz hatte vorher keinerlei Erfahrungen mit politischer Haft gemacht, so hatte diese Zeit für ihn starke Nachwirkungen. Mit seiner ohnehin angegriffenen Psyche verkraftete er Schikanen im Gefängnis weniger leicht als andere sozialdemokratische Abgeordnete, die zum Teil recht routiniert mit den Haftbedingungen umgehen konnten. Heinrich Dietz war als Familienvater und als Leiter des Stuttgarter Verlags gewohnt, Anordnungen zu geben, in seiner Umgebung wurde er ‘Papa Dietz’ genannt, oder auch ‘der Onkel’ (G. Schöpflin 1947, S. 24). Mit patriarchalischem Gestus herrschte er über seine Familie und seine Geschäfte. Selbst bei Karl Kautsky hatte er es versucht [ Manchesmal klang ein strenger Hausvaterton in den Briefen an Karl Kautsky an. Beispielsweise im Sommer 1886, als Heinrich Dietz nach Hamburg fahren mußte, verlangte er – vordergründig wegen der anstehenden Korrekturen für die „Neue Zeit": „Es wäre mir lieb, stets genau zu wissen, wo Sie stecken" (21. 7. 1886, IISG, K D VIII, Br. 119). 1902 wollte Karl Kautsky längeren Urlaub von der Redaktionstätigkeit der „Neuen Zeit" nehmen. Heinrich Dietz beschied ihm kurz angebunden: „Sie wollen ein halbes Jahr Urlaub nehmen. Dieser Urlaub kostet M. 2500. Die Kosten sind zu teuer, der Urlaub ist nicht nötig." Allenfalls könnte er sich von der zeitlichen Belastung etwas befreien, er müßte jedoch anwesend sein, um notfalls eingreifen zu können (29. 7. 1902, IISG, K D VIII, Br. 315).] , der später notierte: „Papa Dietz war in manchen Dingen ein großer Sonderling. Und im Geschäft ein Autokrat – allerdings ein wohlwollender. Doch nichts vertrug er schwerer als eine Beengung seiner eigenen Bewegungsfreiheit. Er wollte alle Menschen glücklich sehen, die in seinen Unternehmungen und für ihn arbeiteten. Aber sie sollten nicht glücklich werden durch eigene Kraft, sondern durch ihn" [ Berthold Heymann notierte Ähnliches: „Wer sein Mitarbeiter war, wurde zugleich sein Freund und konnte seiner tatkräftigen Hilfe gewiß sein, wenn er ihrer bedurfte " (1930).] (Kautsky 1960, S. 525).

Die Eindrücke der gerade überstandenen Haft mochten der Grund dafür gewesen sein, daß Heinrich Dietz für die „Neue Zeit" kurz nach seiner Entlassung eine Abhandlung für modernen, ‘humanen’ Strafvollzug rezensierte. In den vom Hamburger Gefängnisdirektor Adolf Streng verfaßten „Studien über Entwicklung, Ergebnisse und Gestaltung des Vollzugs der Freiheitsstrafe in Deutschland" (Stuttgart: Enke, 1886) legte dieser ein Plädoyer für die Reform der Haftbedingungen, für gesonderte Behandlung ‘politischer Gefangener’ und für den Ausschluß von schulpflichtigen Kindern unter 14 Jahren vom Strafvollzug vor. Heinrich Dietz merkte in der Rezension an: „Die Arbeiter sollen, gestählt durch ihr Klassenbewußtsein, sich die Macht im Staate erringen, die sie ihrer Intelligenz und Zahl nach zu beanspruchen haben; dann wird höchstwahrscheinlich den Isolier-Gefängnissen [ Streng forderte in seinen Studien, die Gefangenen zu isolieren, um den noch zu Bessernden eine Chance zu geben. Dieses Verfahren ermögliche u.a. „die Trennung jugendlicher Verbrecher von dem korrumpierenden Zusammenleben mit Gewohnheitsverbrechern" (Dietz 1887, S. 294).] und Arbeitshäusern die letzte Stunde schlagen [...]. Damit ist nicht gesagt, daß es in einer späteren Zeit Verbrecher gar nicht mehr geben wird, sondern wir wollen nur darauf hindeuten, daß bei stets zunehmender Kultur und unter endlicher Beseitigung des heutigen Produktionssystems die Verbrechen gegen das Eigentum, und was dahin gehört, verschwinden dürften – wohin dann mit den noch bleibenden Übeltätern, ist eine Frage, über die wir uns vorläufig den Kopf nicht zu zerbrechen brauchen" (Dietz 1887, S. 294f.).

Auch auf den Widerspruch zwischen der Forderung nach strenger Bestrafung der Trunksucht und die gerade wieder zur Debatte stehenden staatlichen Schnaps- und Branntweinmonopole kam Heinrich Dietz in der Rezension zu sprechen. Mit einem Seitenhieb auf die Freisinnige Partei empfahl er dem Staatsrechtler und Abgeordneten Hänel, sich in die rezensierten „Studien" zu vertiefen, denn „der germanische Durst ist rentabel, und wir möchten einmal sehen, was daraus werden sollte, wenn der Bier- und Schnapskonsum auf die Hälfte oder gar noch tiefer sinken würde". Auch der loyale Staatsbürger könnte nicht ohne ‘Eiertänze’ durchs Leben kommen, und „trinkt er sich einmal einen Spitz, so soll er ihn ohne Furcht vor dem Staatsanwalt nach Hause tragen" (S. 298).

Aus seinem Text ging die persönliche Betroffenheit hervor, Heinrich Dietz kannte nun Isolation und Gängelung in der Unfreiheit aus eigener Anschauung. Er hatte, anders als angekündigt, keine ‘gemütliche’ Zeit gehabt [ „Die ‘Sitzung’, denke ich, soll allseits etwas zu Gunsten der Neuen Zeit abwerfen. Man muß aus der Not eine Tugend machen und auch dem Ungemach eine gemütliche Seite abzugewinnen suchen" (HD an KK, 25. 8. 1886, IISG, K D VIII, Br. 124).] . Am 17. Mai 1887 war Heinrich Dietz wieder in Freiheit (Auer 1890/1913, S. 246; Schw.Tgw. 1913). Die Situation in Deutschland schien ihm jetzt unwirklich und das Ende seiner Haft noch nicht wirklich gekommen, sondern nur vertagt (HD an KK, 21. 6. 1887, IISG, K D VIII, Br. 148).

Zwar war die gegenüber Karl Kautsky geäußerte Hoffnung, „daß die Affäre ohne Schaden, oder doch wenigstens ohne großen Schrecken an uns vorübergehen wird" (18. 10. 1886, IISG, K D VIII, Br. 136), doch nicht unbegründet gewesen: Nach der Rückkehr aus Chemnitz konnte er einigermaßen zufrieden feststellen: „Soweit ich bis jetzt sehen kann, ist alles leidlich gut gegangen – mehr kann man nicht verlangen" (21. 5. 1887, Br. 148). Dennoch: Unermüdlich – als galt es, jetzt zu retten, was zu retten war – und kaum wieder im Geschäft, machte er sich auf die Rundreise, um überall nach dem Rechten zu sehen (HD an KK, 2. 6. 1887, Br. 149): „Mit Not und Mühe ist die Gefängnishaft mit ihren geschäftlichen Folgen überwunden, und nun sitze ich fest. Das kommt von der verflixten Entfernung aller Teile. In Hamburg lasse ich drucken, in London sitzt mein verehrter Herr Redakteur und ich muß in Stuttgart hausen, um die Welt mit meinen Raritäten zu versorgen" (HD an KK, 5. 7. 1887, IISG, K D VIII, Br. 153).

Heinrich Dietz war tätig bis zur Erschöpfung: „Ich habe mich etwas heftig wieder ins Geschäft gestürzt, und das scheint mir nicht sehr gut zu bekommen. Die Hand kann kaum die Feder halten" (aus Hamburg, 10. 6. 1887, Br. 150). Er schonte sich weiterhin nicht. Im besonders heißen Sommer 1887 war er immer noch pausenlos unterwegs: „Ich habe vom 17. Mai bis jetzt auch eine zu schreckliche Zeit durchgemacht. Ein paar Mal durch Deutschland gehetzt, um überall das losgerissene Leinen wieder anzunageln, bis ich schließlich in einem Zustand zu Hause angelangt, der derart war, daß ich nicht einmal das Rollen eines Wagens ohne Aufregung hören konnte" (HD an KK, 7. 7. 1887, IISG, K D VIII, Br. 155).

Die Last der Verantwortung für das Stuttgarter Parteiunternehmen ließ Heinrich Dietz bald hart werden [ Das verstärkte sich in den späteren Jahren, als das Parteizentrum sich nach Berlin verlagerte und noch mehr, als eine neue Generation die Führungspositionen in der Partei besetzte.] . Besonders deutlich wurde seine Verbitterung nach den Anstrengungen im Anschluß an die Haft in Chemnitz: „Ich handle in allen Dingen, da mir meine Verantwortlichkeit dem Publikum sowie der Partei gegenüber stets voll bewußt ist – selbständig, ich verlange und wünsche auch keinen Rat, nachdem ich leider einsehen mußte, daß ein solcher gar nicht zu erlangen ist. Ich bin dabei leidlich gefahren und würde in demselben Augenblick, wo mir Ratgeber an die Seite gestellt werden, abdanken. [...] Also, Befürchtungen, ich könnte mir von jemand in die Suppe spucken lassen, sind grundlos" (HD an KK, 14. 7. 1887, IISG, K D VIII, Br. 156).

Die Nervosität sollte er nicht mehr verlieren: Julius Motteler nannte ihn später einen ‘Neu-rastheniker’ [ „Neurasthenie [gr.] (Nervenschwäche) [...] äußert sich nach einer erbrachten Leistung aufgrund einer mangelnden Motivation (z.B. innerer Widerspruch, Bewußtsein der Sinnlosigkeit) in lustloser Verstimmtheit, reizbarer Erschöpfung, Unfähigkeit zur Entspannung [...]" (Meyer 1980).] (JM an KK, 10. 5. 1901, IML, NL Kautsky, 55/20). War er bisher schon recht isoliert gewesen, hielt er sich nun noch mehr für sich. Wilhelm Keil stellte in seinen Memoiren fest, der Parteiverleger „führte ein etwas abgesondertes Leben. In den Versammlungen sah man ihn nur bei besonderen Anlässen" (Keil 1947, S. 139).

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3.7.6. ‘Sozialistica in großbürgerlichem Chic’

Bruno Geiser hatte die Zeit genutzt, in der Heinrich Dietz im Chemnitzer Gefängnis saß, um mit Unterstützung seines Schwiegervaters Liebknecht und Wilhelm Hasenclever ein Konkurrenzunternehmen zur „Internationalen Bibliothek" ins Leben zu rufen, ein Unternehmen, das bei Heinrich Dietz offene Verachtung provozierte: „Geiser gibt flott eine Volksapotheke, welche ‘das gesammelte menschliche Wissen’ für 10 Pfg. anzeigt, heraus. Viel Glück damit. Größerer Schund ist bislang noch nicht produziert worden". Heinrich Dietz sah jedenfalls keine Veranlassung, seinerseits die „Internationale Bibliothek" zu vernachlässigen, damit wollte er unbeirrt weitermachen (HD an KK, 25. 6. 1887, IISG, K D VIII, Br. 151).

Der erste Band der „Internationalen Bibliothek" erschien 1887 [ Läuter schrieb, daß die ersten zwei Bände der „Internationalen Bibliothek" noch 1886 erschienen (1966, S. 219). Die Verlagsbibliographie aber registriert sie erst für 1887 (ESZ 1981, S. 199). Der Druck war während Heinrich Dietz’ Haftzeit erfolgt. Wahrscheinlich wurde ähnlich verfahren wie 1883/1884 mit der „Misère" von Karl Marx.] : Eine deutsche Übersetzung von Edward Avelings „Die Darwinsche Theorie". „Die „Internationale Bibliothek" will gleichfalls auf diesem Gebiet eingreifen und an dem Bestreben, dem Volke die Schätze des menschlichen Wissens in geeigneter Form zuzuführen, teilnehmen" (aus einer Verlagsanzeige im „Wahren Jacob", zit. in Läuter 1966, S. 219).

Die Bücher in der neuen Reihe wurden in Lieferungen verkauft [ Schon im Jahre 1876 war einer Expeditionsanzeige des „Hamburg-Altonaer Volksblatts" zu entnehmen, daß längere Texte in Lieferungen angeboten wurden (HAV 2[1876]Nr. 74 vom 20. 6.), um die Leser durch die Möglichkeit der Ratenzahlung nicht übermäßig hoch zu belasten. Dieses Prinzip machte sich der Verlag in Stuttgart beim Vertrieb der „Internationalen Bibliothek" erneut zunutze.] , das monatlich erscheinende Heft enthielt meistens vier Druckbögen und kostete 50 Pfennige. Vier bis fünf Hefte gehörten in der Regel zu einem Band, und zur letzten Sendung bekamen die Kunden einen einheitlich gestalteten roten Einband. Zum Start der „Internationalen Bibliothek" verschickte Heinrich Dietz kostenlos große Mengen des ersten Heftes sowie ‘eine Unmasse Zirkulare’ als Werbung. „Gedruckt sind 5.000, [...] Abonnentenstamm der Internationalen Bibliothek sind 3000. Es wird aber viel [...] nachverlangt und zwar ganz unterschiedlich. Marx und Köhler [ Gemeint waren Oswald Köhler: „Weltschöpfung und Weltuntergang" (1887, IB Bd. 3) und Karl Kautskys „Karl Marx’ Ökonomische Lehren" (1887, IB Bd. 2). Parvus kritisierte später, durch diese Art von Popularisierung hätte der Stubengelehrte Kautsky die revolutionäre Lehre von Karl Marx verwässert: „K. Kautsky glaubte [...] Marx dadurch zu verbessern, daß er ihn umschrieb. Von Marx die Gedanken, von Kautsky der Stil und das Ganze auf einen Umfang reduziert, wie er dem Volksaufklärungsbedarf des Verlegers J.H.W. Dietz am besten paßte. Dabei ging Saft und Kraft verloren" (in: Die Glocke 1(1915), H. 1, zit. in: Scharlau/Zeman 1964, S. 198).] gehen am besten" (HD an KK, 10. 9. 1887, IISG, K D VIII, Br. 167). Die Stuttgarter Behörden beobachteten das Erscheinen dieser wissenschaftlichen Buchreihe mit Interesse, schritten aber nicht ein (vgl. StA Lb E 173I, Bü 745).

Das Verhältnis von Karl Kautsky und seinem Verleger nahm inzwischen symbiotische Züge an. Sie brauchten einander, obwohl sie immer wieder übereinander klagten. Karl Kautsky zum Beispiel, der damals gerade an einer Darstellung über Thomas Morus arbeitete, beschwerte sich unzufrieden über die ständigen Mahnungen aus Stuttgart: „Dietz sandte mir gestern einen Jammerbrief, wie gewöhnlich, daß die Druckerei sich verspätet habe und ich mich daher beeilen solle. Aber ich lasse mich nicht wieder notzüchtigen, die Sache über’s Knie zu brechen. Diese Lieferungswerke sind etwas Schauderhaftes" (KK an FE, 18. 8. 1887, Engels/ Kautsky 1955, S. 209, Hervorhebung im Orig.). Kautsky aber brauchte einen Verleger, der ihm die technischen Möglichkeiten zur Verfügung stellte, die formalen und organisa-torischen Arbeiten abnahm und das finanzielle Risiko trug (Gilcher-Holtey 1986, S. 48).

Heinrich Dietz, der mit ‘seinem’ Verlag ehrgeizige Pläne verfolgte, brauchte seinerseits einen „Intellektuellen als sachverständigen Mitarbeiter", der „den von Dietz angeregten Kanon der sozialistischen Klassiker im Sinne seiner theoretischen Konzeption ausgestaltet" (Gilcher-Holtey, ebd.). So war Karl Kautsky weit mehr als ein Zeitschriftenredakteur und Lektor für die anspruchsvolle Buchreihe „Internationale Bibliothek", er wurde mit der Zeit zu einem seiner wenigen Freunde, dem Heinrich Dietz auch seine persönlichen Sichtweisen, seine politischen Einschätzungen mitteilte [ Das gilt vor allem für die späteren Jahre, die ich hier nicht ausführlich behandle.] . Die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden für die Sozialdemokratische Partei so wichtigen Persönlichkeiten intensivierte sich ganz erheblich, ohne daß sie politisch immer übereinstimmten. Heinrich Dietz war selbst – und wurde – bestimmt kein ‘Marxist’, auch wenn er sich so bezeichnet haben sollte, wie Kautsky an Eduard Bernstein schrieb: „Dietz ist jetzt völlig auf unserer Seite, er schrieb mir, er sei aufrichtiger Marxist" (KK an EB, 3. 5. 1886, zit. in Rieck 1974, S. 271).

In dem Brief, auf den Kautsky hier Bezug nahm, hieß es: „Ich war s.Z. ein warmer Anhänger Lassalles, dessen eminent praktische Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung von keinem aufrichtigen S. D. geleugnet werden kann – der Lassalleanismus ist heute jedoch ein überwundener Standpunkt, die Bewegung ist weit über den nationalen Rahmen, der für Lassalle unentbehrlich war, hinausgewachsen, und es gibt für uns nur noch ein Entweder-Oder! Hie Proletariat und der Emanzipationskampf im marxistischen Sinn, der keine Deutelei zuläßt, dort eine untergehende Gesellschaftsform, die sich mit sozialistischem Flitterwerk das Dasein verlängern möchte" [ Daß sich Heinrich Dietz selbst als ‘Marxisten’ bezeichnete, kann aus diesem Brief m.E. nicht geschlossen werden. Da keiner der Interpreten bisher seinen eigenen Begriff des ‘Marxisten’ definierte, blieb – und bleibt – dieser Streit müßig. Aber es sollte nicht außer acht gelassen werden, daß Heinrich Dietz doch manches Mal seine eben gerade kategorisch geäußerte Meinung änderte. Als ‘Neurastheniker’ in der Partei bekannt, war er häufig wechselnden Stimmungen unterworfen, und „da passierte es nicht selten, daß er später etwas anders denke als vorher" (JM an KK, 10. 5. 1901, IML, NL Kautsky, 55/20).] (HD an KK, 28. 4. 1886, IISG, K D VIII, Br. 104). Diese eindeutige Stellungnahme verwundert aus der Feder des inzwischen etablierten Parteiverlegers. Zutreffender scheint seine Position durch eine programmatische Rede zum Verhältnis von Kapitalismus und Sozialismus charakterisiert zu sein: „Die Utopisten, wie Babeuf, St. Simon, Fourier u.a.m. haben mit ihrer Kritik des Kapitalismus ganze Arbeit geliefert. Der Mittelpunkt des Sozialismus bleibt aber Deutschland. Hier hat Ferdinand Lassalle mit seinem Arbeiterprogramm den Arbeitern den Weg gezeigt, den sie gehen müßten und den sie auch gingen" [ Diese Rede hielt Dietz in Hamburg anläßlich der erneuten Nominierung zum Reichstagskandidaten und im Vorfeld des Parteitages 1897. „Nachdem dann noch Ferdinand Lassalle als Apostel der deutschen Sozialdemokratie in einigen Worten gefeiert war, kam Redner endlich zum Schluß – den er anscheinend von einem Blatte ablas -" (Überwachungsbericht in StAH S 5800, Bd. 1, 11. 9. 1897).] .

Heinrich Dietz’ wechselnde Selbsteinschätzung kam auch zum Ausdruck, als er 1888 rückblickend seine Rolle beim Konflikt um den Fortbestand der „Neuen Zeit" nahezu uminterpretierte: „Ich habe schon oft die Bemerkung gemacht, daß bei solchen Gelegenheiten unsere biedern Genossen zuerst riefen: Rettet das Geschäft! Das kommt mir gerade so vor, als wenn bei einer Feuersbrunst einer einen Nachttopf mit Lebensgefahr aus den Flammen holt" (1.4.1888, IISG, AdSD NL Schlüter, B 30). Seine Überlegungen als Verleger waren in erster Linie ökonomisch und auf praktikable ‘Mischkalkulation’ ausgerichtet. Für die Finanzierung der Parteiliteratur war er ganz allein verantwortlich, diese Last nahm ihm niemand mehr ab. Weil er mit der Zeit über ein Sortiment verfügte, das die defizitären Titel deckte, konnte er auch die Texte publizieren, die sich zunächst oder immer schlecht verkauften. Nach seiner Erfahrung könnte sich ein sozialdemokratisches Presseunternehmen nur über Wasser halten, schrieb er später an Victor Adler, als der ihn für ein österreichisches Zeitungsunternehmen um Rat fragte, wenn „Geld und wiederum Geld geopfert" würde. Rentabel wirtschaftete solch ein Geschäft nur ohne Zensureinschränkungen oder mit bourgeoisen Praktiken, wie Niedrighalten der Honorare und Mitarbeiterlöhne, Verarbeitung minderwertigen Papiers „unter gleichzeitiger Ausdehnung des Inseratenteils der Zeitung [...]. Dazu gehört ein ganz rücksichtsloser Mensch mit eiserner Hand, [...] der Wenige schindet, um Vielen das Mittel zur Abwehr gegen Schinderei zu bieten" (HD an VA, 10. 4. 1899, IML I 6/2/58).

Eigentlich hatte Heinrich Dietz gar nicht nötig, an Wilhelm Liebknecht zu schreiben: „Ich bitte Sie zu berücksichtigen, daß ich ein wenig kapitalkräftiger Anfänger bin, der jeden Schritt – klein oder groß – reiflich zu überlegen hat". Seine Grundhaltung als selbständiger Verleger ließ er in der Fortsetzung des Briefes an den Parteivorstand deutlich werden: „Es gibt auch einen Ehrgeiz, oder nennen wir es Pflichtgefühl: jedem gerecht werden zu wollen, der einem ein Manuskript gibt, resp., von dem man es übernimmt. [...] Ich hoffe bestimmt, meinen Weg in dieser trüben Zeit einhalten zu können, um später, wenn uns wieder freundliche Tage beschert sein werden, offenen Auges die Kritik meiner Parteigenossen aushalten zu können" (22. 5. 1888, IISG Korr. Liebknecht, add. 16 IML Ms 57/59).

Die „Internationale Bibliothek", obwohl zu Beginn nicht besonders erfolgreich [ „50 Pf. für ein Heft, wenn sein Inhalt auch noch so gut ist, ist für die meisten Arbeiter zu viel, 10 Pf. fallen ihnen leichter [das bezog sich auf das genannte Geisersche Konkurrenzunternehmen; agr.]. Obendrein hatte er [H.D., agr.] mit den ersten Heften keinen besonderen Griff gemacht. Daß das Unternehmen mit dem Darwinismus begann, mit dem heute alle Welt überfüttert wird, war nicht geschickt" (AB an JB, 21. 6. 1887, IML, NL Bebel, 22/150).] , brachte bald steigende Auflagen und beträchtliche Gewinne. Zusammen mit dem „Wahren Jacob" bildete dieser Erfolg eine solide finanzielle Grundlage für den Verlag. Heinrich Dietz brachte seine nie abreißenden Klagen vor diesem Hintergrund als reine Angewohnheit vor. Die Frage einer möglichen Einstellung der „Neuen Zeit" – obwohl ihr Defizit noch einmal angestiegen war und sie sich auch später nicht selbst tragen konnte – stand nicht mehr zur Debatte. 1887 schrieb Heinrich Dietz an Karl Kautsky, er wäre alles in allem mit dem Resultat zufrieden, das galt auch für die „Neue Zeit", deren Abonnenten nun in überwiegender Zahl aus den besser situierten Kreisen stammten (HD an KK, 10. 9. 1887, IISG, K D VIII, Br. 167). Das für Heinrich Dietz ungewöhnliche Lob relativierte er jedoch sofort: „Zufrieden sollten Sie nicht sein, denn ein zufriedener Redakteur ist ein Unding" (13. 10. 1887, Br. 171).

Die „Internationale Bibliothek" begründete schließlich den hervorragenden Ruf des Stuttgarter sozialistischen Buchverlages, denn „diese Bibliothek zeigte von vornherein einen internationalen Charakter [...], wie der Dietzsche Verlag überhaupt. Dieser sollte ein Sammelpunkt der bedeutendsten Marxisten aller Länder werden, denn nur dadurch konnte unsere Lehre ihre volle aufklärende Kraft entfalten. Wie sehr Dietz dies Streben gelang, ist heute allgemein bekannt" (Kautsky 1913, S. 6).

Nach dem ersten Band der „Internationalen Bibliothek" – von einem Engländer verfaßt – erschienen in kurzer Folge drei weitere: von Karl Kautsky eine Erläuterung der ökonomischen Lehren von Karl Marx, Oswald Köhlers „Weltschöpfung und Weltuntergang" sowie „Die ländliche Arbeiterfrage" des russischen Autoren N. A. Kablukov (ESZ 1981, S. 199). Die Übersetzung des letztgenannten Titels, die Ossip Zetkin erstellte, hatte sich Heinrich Dietz zur Durchsicht mit nach Chemnitz ins Gefängnis genommen [ „Dietz liest Russisch und etwas Polnisch, denn er war s. Z. in der Fremde dort" (JM an B.A. Jedrzcewski, 4. 12. 1901, IML, NL Motteler, 12/31).] . Er war entsetzt, berichtete er Karl Kautsky nach seiner Rückkehr. Als er sich den Text vornahm, „da bin ich vor Schreck mit Klappsitz, Bank, Manuskript und Teile [sic] etc. auf die Erde gefallen. Sie war nicht zu gebrauchen" (7. 7. 1887, IISG, K D VIII, Br. 155). Besonders ärgerte ihn, daß er die Arbeit des Übersetzers schon bezahlt hatte (700 Mark, ‘das schöne Geld’).

So gut es ihm möglich war, hätte er den Auszug aus Kablukovs Hauptwerk überarbeitet, „und daß mir dabei eine ganze Reihe Ungehörigkeiten passiert sind, darf nicht Wunder nehmen". Heinrich Dietz gab dem Text ein ‘Nachwort des Übersetzers’ bei und ging darin ausführlich auf die deutschen Verhältnisse ein (Dietz 1887). Dennoch war Heinrich Dietz mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Er wäre nun mal kein Gelehrter, äußerte er Kautsky gegenüber, „und wenn ich jetzt an die ‘Ländliche Arbeiterfrage’ denke, aus dem ich den eigentlichen Kablukovschen Kern herausschälte, so läuft’s mir siedendheiß über den Rücken" (ebd.). Im Verlagsvermerk kündigte Heinrich Dietz deswegen eine neue Ausgabe des Kablukovschen Textes an: „Die vorliegende Schrift ist ein freibearbeiteter Auszug aus dem gleichnamigen russischen Werke von N. Kablukow; die Übersetzung des hochinteressanten und umfangreichen Werkes befindet sich in Vorbereitung" – sie erschien aber nie [ Schon Läuter bezweifelte die Autorenschaft von Kablukov und bemerkte, in der Schrift würden immer wieder Werke von Marx und Engels zitiert, das paßte seiner Meinung nach nicht zu dem ‘Volkstümler’ Kablukov. „Offensichtlich ist die „Ländliche Arbeiterfrage" gar keine Übersetzung, sondern die Arbeit eines deutschen Sozialdemokraten, der anonym bleiben wollte" (1966, S. 220f.).] .

Mit dem Konzept der „Internationalen Bibliothek" hatte der Stuttgarter Verlag ein Programmangebot, das nicht nur hohe Gewinne erwirtschaftete, sondern dem Verlag endgültig sein eindeutiges Renomee verschaffte. Stolz stellte Heinrich Dietz fest: „Ich höre [...] im Großen und Ganzen in allen Kreisen, daß man den Schriftstellern und dem Verlag eine nicht gewöhnliche Achtung entgegenbringt; es werden die Leistungen und der Mut, in der heutigen Zeit derartige Unternehmungen mit Erfolg aufrechtzuerhalten, im besten Sinne gewürdigt. Das mag uns genügen" (HD an KK, 10. 9. 1887, IISG, K D VIII, Br. 167).

Die Planungen für die gesamte erste Serie der „Internationalen Bibliothek" waren Mitte 1889 abgeschlossen und genug Manuskripte bis 1891 vorhanden. Weitere Texte nahm Heinrich Dietz nicht an, denn er plante, die zweite Serie generell zu einem höheren Preis zu verkaufen. Für die innerparteiliche Werbung wollte er sich noch etwas einfallen lassen, „ganz ohne die Parteigenossen ist die Herausgabe doch nicht möglich" (HD an KK, 4. 6. 1889, IISG, K D VIII, Br. 199). Die Vertriebsform sollte geändert, die äußere Aufmachung aber in der zweiten Serie beibehalten werden: „Ich werde den richtigen Leserkreis zu finden wissen, und derjenige unter den Parteigenossen, der Geschmack an solcher Lektüre findet, kann es haben. [...] Das Publikum, dieses Ungeheuer, entscheidet; es will die illustrierten Hefte, und warum soll ich sie denn nicht geben?" Damit könnte er im Gegenteil die ‘große Literatur’ fördern, wenigstens materiell (12. 6. 1889, Br. 200).

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3.7.7. Das Verbot der „Bürgerzeitung" und die Gründung des „Hamburger Echos"

Obwohl schon für den Sommer 1886 angekündigt, fand der sozialdemokratische Parteikongreß erst im Herbst 1887 statt. Vom Sonntag, den 2., bis zum Donnerstag, den 6. Oktober, trafen sich die Delegierten bei Bruggen (SD 9[1887]Nr. 43), „mitten in einer romantisch gelegenen Gegend" (SPD-Protokoll 1887, S. 5) in der Nähe von St. Gallen. Heinrich Dietz hatte den Aufruf trotz der gerade überstandenen Haftstrafe mit unterzeichnet (SD 9[1887]Nr. 37), konnte aber am Kongreß schließlich nicht teilnehmen, weil er in Hamburg gebraucht wurde: „Durch die Hamburger Affäre bin ich leider nicht zum Parteitag gekommen. Ich habe so manches auf dem Herzen gehabt, was nun bis auf weiteres ruhig liegen bleiben muß" [ Gegenstand der Rechenschaftsberichte und Debatten war unter anderem die Arbeit des Fraktionsvorstandes sowie die Haltung der Reichstagsfraktion. Ein Redner monierte in der Diskussion, daß der Bericht gar nichts über das Thema Dampfersubventionen erwähnt hatte. In diesem Zusammenhang verlangte der Pfälzer Franz Ehrhardt, die seiner Meinung nach zu gemäßigt agierende Fraktion sollte doch im Reichstag „gerade herausgesagt ‘ruppiger’ auftrete[n]" (SPD-Protokoll 1887, S. 17; Steinberg 1967, S. 31, FN). Bei der Behandlung der Initiativanträge kam auch das Verhalten derjenigen Reichstagsmitglieder zur Sprache, die den Aufruf zum Parteikongreß nicht unterschrieben hatten. Ausdrückliche Mißbilligungen wurden gegen Bruno Geiser und Louis Viereck ausgesprochen, „diesen Persönlichkeiten" sollte künftig „eine Vertrauensstellung in der Partei nicht mehr übertragen werden" (ebd. S. 48).] (HD an KK, 13. 10. 1887, IISG, K D VIII, Br. 171). Insbesondere mit Eduard Bernstein hätte er ‘sich gern gerieben’, „wenn die ‘dämlichen’ Hamburger mich nicht per ordre de moufti vom Besuch zurückgehalten hätten" (26. 10. 1887, Br. 173). Denn Ende September war die „Bürgerzeitung" verboten worden, ausgerechnet wegen eines Artikels mit dem Titel „For-ce is no remedy": Gewalt ist kein Heilmittel (in der Nummer 219, vgl. SD 9[1887]Nr. 40).

Anfang August des Jahres war Heinrich Dietz schon einmal in Hamburg gewesen: „Ich sitze im kontinentalen London und ärgere mich über die von Dunst und Rauch verhüllte Sonne und über die unverschämt langen Nasen der Hamburger Juden auf dem Steinweg und dem Dreckwall, die schon Heine oftmals unruhige Nächte bereiteten. [...] Daß mein Papierjude, der [für die Internationale Bibliothek, agr.] liefern soll, einen fast germanischen kartoffelähnlichen Gesichtsvorsprung besitzt, scheint mir von guter Vorbedeutung" (an KK, 1. 8. 1887, IISG, K D VIII, Br. 160; Michaelis & Co., Admiralitätsstraße 73/74, belieferte die sozialdemokratische Druckerei in Hamburg während der gesamten Dauer des Sozialistengesetzes StAH S 1365 Bd. 22, Bericht vom 4. 4. 1893). Im September, als alles so schnell gehen mußte, konnte Heinrich Dietz zunächst nur bis an die Grenze des Belagerungsgebietes fahren (HD an KK, 25. 9. 1887, IISG, K D VIII, Br. 168), um von dort um Aufenthaltsgenehmigung nachzusuchen.

Den inkriminierten Artikel in der „Bürgerzeitung" nahm der Hamburger Polizeisenator Hachmann zum offiziellen Vorwand, ihr eine Aufhetzung zur Gewalt zu unterstellen (Laufenberg 1931, S. 557). Näher aber liegt die Vermutung, daß die „Bürgerzeitung", die inzwischen deutlicher sozialdemokratische Positionen vertreten hatte, dem Senat inzwischen zu lästig wurde: einerseits wegen ihrer detaillierten Berichterstattung über den Freiberger Prozeß und über einen Folgeprozeß gegen Hamburger Sozialdemokraten (S. 541ff.), andererseits wegen ihrer Haltung gegen den Anschluß der Hansestadt an das deutsche Zollgebiet. In der Begründung der Reichskommission auf die Beschwerde von Johannes Wedde gegen das Verbot hieß es deshalb folgerichtig: „Es ist [...] davon auszugehen, daß dieses Blatt nach direkten Äußerungen und der tatsächlichen Haltung konsequent und unentwegt auf dem Standpunkt der extremen deutschen Sozialdemokratie steht [...] Wenn [...] das Verbot der Nr. 219 vom 18. September aufrechterhalten werden muß, [...] handelt es sich lediglich darum [...], daß nunmehr die jahrelange gesetzwidrige Haltung der Zeitung endgültig reprobiert wird" (zit. in: Stern 1956, S. 262f.). Persönliche Interessen der an der Herausgabe der „Bür-gerzeitung" beteiligten Personen könnten „in keiner Weise in das Gewicht fallen und berücksichtigt werden" (ebd.): Auch Johannes Wedde als Redakteur wurde ausgewiesen. Daraufhin zog er nach Lübeck [ Er richtete Ende August 1888 eine Petition an den Hamburger Senat, seine Ausweisung aufzuheben, hatte damit aber keinen Erfolg (StAH, S 149/485, zit. in Jensen 1966, S. 148). Johannes Wedde konnte lebend nicht wieder in seine Heimatstadt zurückkehren.] .

Gleichzeitig mit der „Bürgerzeitung" verboten wurde der sonntags in Norddeutschland verbreitete „Stadt- und Landbote", der aus Artikeln der „Bürgerzeitung" bestand. Außerdem konnte auch eine illustrierte Sonntagsbeilage („Sonntagsblatt" [ Bei Laufenberg hieß die Beilage „Rundschau" (1931, S. 673).] ) nicht mehr erscheinen, die Begründung war: sie läge der „Bürgerzeitung" gratis bei, wäre also ein Bestandteil dieser Zeitung (Sten. Ber. 1890, S. 1161). Bis zu seinem Haftantritt im November 1886 hatte Heinrich Dietz die Redaktion selbst wahrgenommen. Danach sollte sie durch Bruno Geiser erledigt werden, „der langweilige Peter bekam aber sofort mit dem Geschäft [in Hamburg, agr]. Streit und mußte infolgedessen abgesägt werden. Seit der Zeit macht’s die Redaktion der Bürgerzeitung zur allgemeinen Unzufriedenheit des Publikums. Ich nahm es von Nr. 48 an wieder in die Hand, um noch am Schluß des Jahrgangs etwas frisches Leben hineinzubringen" (HD an KK, 26. 7. 1887, IISG, K D VIII, Br. 159). Nach dem Beschluß der Reichskommission wäre jedoch ein selbständiges Erscheinen der Sonntagsbeilage eventuell noch möglich gewesen (Stern 1956, S. 263).

Obwohl die Druckerei unter der erfahrenen Leitung von Reinhard Bérard in guten Händen war, wurde Heinrich Dietz doch als der ‘Besitzer’ zu allen geschäftlichen Transaktionen gebraucht. So auch nach dem Verbot der „Bürgerzeitung", als sich die Hamburger Sozialdemokraten sofort wieder an die Herausgabe einer neuen Zeitung machten. Das „Echo" – der Name stand für das Programm – erschien unter dem Motto: „Kein politischer Standpunkt soll sich einer Begünstigung durch das „Hamburger Echo" rühmen dürfen" (Laufen-berg 1931, S. 558). „Was natürlich nur auf Täuschung berechnet war", kommentierte Baasch (1930, S. 119). Otto Stolten übernahm die Redaktion des seit dem 2. Oktober 1887 herausgegebenen Blattes. Gustav Stengele, der bisher als Setzer bei der „Bürgerzeitung" gearbeitet hatte, trat später auch in die Redaktion ein. Die weiter expandierende Parteidruckerei war zum 1. Juli 1887 in das ehemalige Haus eines Klavierfabrikanten in der Großen Theaterstraße 44 umgezogen [ Ein Denunziant empfahl der Hamburger Polizei, sie möge das Gebäude und seine Ausstattung doch genau durchsuchen, es gäbe da nämlich ‘verborgene eiserne Treppen und geheime Fahrstühle’ (StAH S 1353, 23. 2. 1887). Die Polizei fand nichts dergleichen.] , ab Anfang November wurde dort dann auch das „Echo" hergestellt (Laufenberg, S. 558).

Neben dem „Hamburger Echo" hatten die Hamburger Sozialdemokraten noch eine weitere Zeitung gegründet. Die „Hamburger Rundschau" erschien unter der ‘Leitung’ des ‘Fortschrittsmannes’ Hermann Grüning ab dem 30. Oktober 1887 im ‘Verlag von J.H.W. Dietz’. Auch bei der „Rundschau" handelte es sich um ein ‘farbloses’ Blatt, es erschienen jedoch eindeutigere Äußerungen. Das „Echo" wurde – nach den Erfahrungen mit der „Bürgerzeitung" – dagegen sehr zurückhaltend redigiert. Die „Rundschau" wandte sich vorwiegend an die Bezieher des „Sonntagsboten" (Jensen 1966, S. 144ff.), wurde aber schon mit der Nummer 5 als wahre Nachfolgerin der „Bürgerzeitung" endgültig verboten und der Herausgeber sowie Johannes Wedde deswegen angeklagt. Hermann Grüning spielte in den Augen der Politischen Polizei lediglich die Funktion eines ‘Sitzredakteurs’, während der angeblich nur ‘als Mitarbeiter gewonnene’ Johannes Wedde ihrer Meinung nach den größten Teil der Artikel selbst verfaßte [ Zum Anlaß des Verbotes nahm man eine tatsächlich von Wedde geschriebene Lübecker Korrespondenz. Darin warnte er vor Annahme einer erneuten Verlängerung des Sozialistengesetzes, weil das nur noch mehr Erbitterung bei den Sozialdemokraten hervorrufen könnte. Das interpretierte der Polizeisenator als Aufruf zur Gewalt. Das Gericht allerdings folgte der Argumentation des Hamburger Senates nicht und weigerte sich, ein Verfahren zu eröffnen (Jensen 1966, S. 148). Das Verbot der „Hamburger Rundschau" wurde aber auch nach der Beschwerde bei der Reichskommission in Hamburg aufrechterhalten. ] . Die Anhänger der Hamburger Sozialdemokraten mußten sich danach mit dem „Hamburger Echo" zufriedengeben.

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3.7.8. Expatriierung der Sozialdemokraten?

Ab 1887 war auch in Stuttgart das Sozialistengesetz wieder wesentlich schärfer gehandhabt worden. Dort hatte sich die „Behörde – wahrscheinlich auf Betreiben von Berlin aus" schrieb Heinrich Dietz an Kautsky, „mehr wie mir lieb ist, mit meinem Verlag beschäftigt. Ich weiß es aus ganz zuverlässiger Quelle. Der Minister des Innern ist nämlich gestorben und an dessen Stelle ein eigentümlicher Mann getreten, der im Volksmund ‘die Hyäne von Munderkingen’ genannt wird, und mit den jetzigen Berliner Gewalthabern durch dick und dünn läuft" (HD an KK, 13. 10. 1887, IISG, K D VIII, Br. 171).

Zur nächsten Debatte Ende 1887 über die Verlängerung des Sozialistengesetzes forderte Bismarck zusätzliche verschärfende Maßnahmen: die Möglichkeit der ‘Expatriierung’ für ‘gefährliche’ Sozialdemokraten [ „Bismarcks Rache für St. Gallen" (Bartel/Schröder/Seeber 1980, S. 256). Eine knappe Erläuterung zum ‘Expatriierungsgesetz’ findet sich bei Pack 1961; vgl. hierzu z.B. auch Laufenberg 1931, S. 572ff.] (SD 10[1888]Nr. 3). Verbunden damit war die Hoffnung, sich auf diese Weise auch der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten zu entledigen: Durch Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft und den sicherlich folgenden Verlust derselben in allen Bundesstaaten verlören sie alle Rechte aus der Staatsangehörigkeit, mithin auch das passive Wahlrecht; eine viel einfachere Methode, als allen sozialdemokratischen Abgeordneten einzeln den Bezug des „Sozialdemokrat" nachzuweisen (Laufenberg 1931, S. 572ff.). Heinrich Dietz nahm die Drohung sehr ernst: „Da wird man sich bald in einem Winkel der Schweiz nach einer Buchdruckerstelle umsehen müssen [...] Meiner Überzeugung nach wird der Expatriierungsparagraph in irgend einer Form durchgedrückt werden" (HD an HS, 4. 12. 1887, AdSD, NL Schlüter, B 30). Dennoch ließ er sich nicht beirren: „So leicht sollen sie mich nicht kriegen" (HD an KK, 7. 2. 1888, IISG, K D VIII, Br. 186).

Nach außen hin blieb er gelassen, obwohl es ja auch seine eigene Zukunft betraf. Überlegungen für den Ernstfall hatte er zu dem Zeitpunkt schon angestellt: „Über den großen Bach gehe ich nicht; es bleibt bei der Schweiz oder Dänemark. Wenn ich nichts zu buchdruckern finde (was aber schwerlich der Fall sein wird), so ergreife ich etwas anderes, gleichviel was. In solchen Dingen laufe ich meinen Weg allein" [ Die von Bismarck gewünschten Bestimmungen fanden im Reichstag keine Mehrheit, nachdem Berichte über das Verhalten der Spitzel anläßlich des sozialdemokratischen Parteitages bei St. Gallen aus der Schweiz bekannt geworden waren (HD an KK, 7. 2. 1888, IISG, K D VIII, Br. 186).] (HD an HS, 2. 1. 1888, AdSD, NL Schlüter, B 30).

Heinrich Dietz hatte jetzt sehr wenig Zeit, sich ‘im Reichsstall sehen zu lassen’, denn in dieser gefährlichen Situation galt es, die nötigen Vorbereitungen zur Abwehr möglicher Folgen des geplanten Gesetzes zu treffen (HD an KK, 7. 1. 1888, IISG, K D VIII, Br. 183). Deswegen fuhr Heinrich Dietz schon im Januar 1888 wieder nach Hamburg. Körperlich hatte er sich damit viel zuviel zugemutet: „Wenn ich das Hamburger Geschäft nicht zu warten hätte, wäre ich ein glücklicher Mensch" (HD an KK, 7. 2. 1888, IISG, K D VIII, Br. 186). Er kehrte erschöpft und krank nach Stuttgart zurück (24. 1. 1888, Br. 184).

Am 17. Februar 1888 verlängerte der Reichstag das Ausnahmegesetz tatsächlich noch einmal – allerdings nur für zwei Jahre (anstelle der geforderten fünf) – und mit wesentlich knapperem Abstimmungsergebnis (SD 10[1888]Nr. 8). Schon in den Vorberatungen lehnte die zuständige Reichstags-Kommission mit großer Majorität die verlangten Verschärfungen ab, „nicht der Sache zuliebe, sondern der Sozialdemokratie zum Trotz" (Laufenberg 1931, S. 640).

Als nun knapp 45jähriger hatte Heinrich Dietz seit vielen Jahren ein immenses Arbeitspensum zu bewältigen und schonte sich nur selten. Doch auch jetzt konnte er sich keine Pause gönnen, denn kurz danach traf ein weiteres Verbot das seit einem halben Jahr wöchentlich in Hamburg erscheinende „Illustrierte Unterhaltungsblatt für das Volk". Die Hamburger Politische Polizei beanstandete eine Fabel in der Nummer 26 des Jahres 1888: „Der Bauer und die Tauben" [ Heinrich Dietz berichtete 1890 im Reichstag davon, ohne den Namen des „Illustrierten Unterhaltungsblatts" zu nennen (Sten. Ber. 1890, S. 1162; vgl. Kap. 3.8).] . Vergeblich hatte Reinhard Bérard versucht, eine Druckerlaubnis ohne den beanstandeten Artikel zu bekommen. Ebenso erfolglos beschwerte sich Heinrich Dietz bei der Reichskommission. Es nützte gar nichts, daß er darauf hinwies, „sein Blatt habe niemals den Klassenhaß durch Schilderungen krassester Gegensätze des sozialen Lebens, ‘als seien sie die Regel’, zu erregen, wohl aber auf das sittliche Gefühl der Masse in erhebender Weise einzuwirken versucht" (zit. in: Stern 1956, S. 273; vgl. auch StAH S 1363). Auf seine Argumentation ging man überhaupt nicht ein: In ihrer ganzen Richtung, mit ihrer beabsichtigten Wirkung und den Zielen – so der Kommentar der Reichskommission – gehörte die periodische Druckschrift unter ein dauerndes Verbot gemäß § 11 des Reichsgesetzes gegen die Sozialdemokratie (ebd., S. 279). Heinrich Dietz schrieb resigniert nach London: „In Hamburg ist die Polizei toll. Sie schlägt mir [sic] nach und nach alle Blätter tot" (an KK, 9. 4. 1888, IISG, K D VIII, Br. 192).

Recht bald nach dem Verbot des „Illustrierten Unterhaltungsblatts" gab es in Hamburg wieder ein Wochenblatt für das Volk. Der „Gesellschafter, Blätter für Unterhaltung am häuslichen Heerd sic" erschien ab 1888 wöchentlich am Samstag, unter der Redaktion und im Verlag von J.H.W. Dietz in Hamburg [ Der „Gesellschafter" wurde auch in Hamburg gedruckt. Bei Schadt/Schmierer (1979, S. 358) mit ungenauen Angaben, Stuttgart als Erscheinungsort traf nicht zu (bei Emig/Schwarz/Zimmermann ist der Titel deswegen nicht verzeichnet). Sperlich behauptete (wahrscheinlich nach Schadt/Schmierer), Heinrich Dietz hätte die Redaktion selbst übernommen. Das ist fraglich, obwohl auch im Parteitagsprotokoll 1891 davon die Rede war (SPD-Protokoll 1891, S. 263). Er übernahm als MdR die juristische Verantwortung, allenfalls gab es ein sporadisches Eingreifen (vgl. auch Kap. 4.1, FN 14).] (StAH S 1365, Bd. 22).

In diesem Jahr war Kaiser Wilhelm I. gestorben. Sein Nachfolger hätte möglicherweise eine gründliche Änderung in der deutschen Politik bewirkt, wenn er nicht schon schwer krebskrank gewesen wäre. Der „Sozialdemokrat" nannte Kaiser Friedrich III. ‘liberal’ – in Anführungszeichen. Er starb schon am 15. Juni nach nur hundert Tagen Regentschaft (SD 10[1888]Nr. 12, 13 u. 26). Zur Trauerfeier und der Ergebenheitsadresse an Wilhelm II. fand extra eine kurze Reichstagssession im Juni statt, zu der die gesamte sozialdemokratische Fraktion aber gar nicht erst in Berlin erschien (Sten. Ber. 1888, 3. Session, S. 10). So verpaßte sie den überaus pompösen und militaristischen Auftakt seiner Regierungsübernahme. Der junge deutsche Kaiser wäre „lüstern nach Kriegsruhm" und minderte ‘die Friedens-Aussichten in jeder Weise’, stellte der „Sozialdemokrat" fest (SD 10[1888]Nr. 26). Die Tage des Reichskanzlers Bismarck waren gezählt [ „Sechs Monate will ich den Alten verschnaufen lassen, dann regiere ich selbst" (Wilhelm II., zit. nach der „Kreuzzeitung" in Bartel/Schröder/Seeber 1980, S. 263).] .

Heinrich Dietz geriet auch in Stuttgart wieder in das Visier der Überwachungsbehörden. Das langjährige Parteimitglied Waiblinger – ein Polizeispitzel, wie sich nun herausstellte – half im Juni 1888, die Strukturen der geheimen Stuttgarter Parteiorganisation aufzudekken (vgl. Rieber 1984, S. 593 u. 425ff.). Selbst Vereine wie die „Liederlust" waren vom Verbot bedroht. Von den 222 ihr bekannten und ‘wirklich aktiven’ sozialdemokratischen „Agitatoren und sonstigen Trägern von Vertrauensposten" stammten fast die Hälfte ursprünglich gar nicht aus Württemberg, stellte die Polizeibehörde fest. Einer von ihnen wäre in Lübeck geboren, einen Verlagsbuchhändler gäbe es auch darunter (HStA Stg E 150, Bü. 2044, zit. in Rieber, S. 426, 428). Das im Sommer bei zahlreichen Überwachungen und Haussuchungen erbeutete Material reichte für einen großen Geheimbund-Prozeß nach Freiberger Muster jedoch nicht aus. Im August 1888 erwog die Stuttgarter Regierung, die von Max Schippel verfaßte Schrift „Das moderne Elend" zu verbieten (Gutach-ten in: StA Lb, E 173 I, Bü. 872), weil sie vermutete, daß der Druck angeblich in Stuttgart hergestellt worden wäre. Es stellte sich dann heraus, daß Schippels Buch in Hamburg gedruckt worden war. Und damit erlosch auch das Interesse an einer Strafverfolgung in Württemberg.

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3.7.9. Rückführung der Baßlerschen Druckerei in den Verlag J.H.W. Dietz

Im April 1888 waren auf Bismarckschen Druck hin die wichtigsten Genossen der Redaktion und des Vertriebs des „Sozialdemokrat" aus der Schweiz ausgewiesen worden (Lau-fenberg 1931, S. 575); Hermann Schlüter, Eduard Bernstein, Julius Motteler wichen dar-aufhin mit dem Verlag nach London aus.

Heinrich Dietz beobachtete die Schwierigkeiten, mit denen der Umzug einherging: „Unse-re Leute scheinen sich dort in etwas gedrückter Stimmung zu befinden. Das war ja zu erwarten, insbesondere bei Motteler, der sich schwer in neue Dinge findet. Wenn er nur seine ‘Tante’ erst wieder hat, dann wirds sofort besser gehen" (HD an FE, 2. 6. 1888, IISG, NL Marx/Engels, Korr. L 1135). Heinrich Dietz riet Hermann Schlüter auch noch, in Zürich noch alles mögliche günstig zu verkaufen, und nicht zu etwa versuchen, eine weitere Druckerei zu halten. Drucker könnte er überall finden. „Wenn ich zu befehlen hätte, würde ich sofort alle Drukkereien von uns abstreifen." Es sollte in dieser Situation nicht notwendigerweise ‘jedes Pult und jedes Tintenfaß’ mitgenommen werden, denn: „Wenn wir die Welt erobern wollen, so dürfen uns einige Zentner Schrift und eine ausgeleierte Druckpresse nicht ans Bein gebunden sein" (HD an HS, 1. 4. 1888, AdSD, NL Schlüter, B 30).

August Bebel war zu der Zeit immer noch gezwungen gewesen, seinen Lebensunterhalt als Reisender zu verdienen. Neben seinen Parteiämtern – die manchmal seine Anwesenheit dringend erforderten und ihn zwangen, alles andere zu unterbrechen – und der Arbeit im Reichstag war solche Belastung nicht länger zu bewältigen. Bebel schrieb deswegen im Mai 1888 an Friedrich Engels – noch unter dem Eindruck der Tatsache, daß er seine Geschäftsreise unterbrechen und sich in Zürich selbst um die Ausweisung der Verlagsangestellten kümmern mußte, und unter dem Siegel der Verschwiegenheit: Er wolle nun seine anstrengende Reisetätigkeit aufgeben, „und mir eine andere Lebensstellung suchen. Wahrscheinlich assoziiere ich mich mit Dietz" (an FE, 2. 5. 1888, Bebel/Engels 1965, S. 326). Vereinbart wurde zwischen Heinrich Dietz, Karl Kautsky und August Bebel zunächst, daß August Bebel ab sofort regelmäßig ein Honorar für Artikel in der „Neuen Zeit" bekommen und außerdem ab und an eine Arbeit für die „Internationale Bibliothek" verfassen sollte (Engels/Kautsky 1955, 216f.).

1888 war das Jahr eines bitteren Jubiläums: Aber selbst zehn Jahre Ausnahmegesetz konnten die Kraft und den Willen der Parteimitglieder nicht brechen. Phantasievoll begingen sie im Oktober 1888 einen Gedenktag nahezu in allen Ballungszentren [ „Rache für unsere Gemaßregelten und Verfolgten. 1878 – 88. Hoch lebe die Sozial-Demokratie." Vgl. z.B. Bar-tel/Schröder/Seeber 1980 (hier S. 268f.). Gehißte rote Fahnen, Parolen an Häuserwänden, Mauern und Anschlagsäulen, z.B. „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf!"] , und Ignatz Auer stellte im Auftrage der Partei eine Materialsammlung zusammen. Auch Heinrich Dietz lieferte einen Beitrag. Seinen Formulierungen war noch anzumerken, daß das Gesetz fortdauerte. Heinrich Dietz hielt daher die offizielle Lesart – z.B. der Eigentumsverhältnisse der Hamburger und Stuttgarter Einrichtungen – aufrecht, allerdings in einer Diktion, die nicht an eine Fiktion denken läßt. Die gesammelten Erinnerungen an die bisher überstandenen Repressionen („Nach zehn Jahren", ESZ B 66) konnte erst 1889 im Londoner Verlag erscheinen: Ignatz Auer hatte so viel Artikel bekommen, daß die Dokumentation nicht rechtzeitig fertig wurde. Doch hatte sich das Klima schon verändert. Der „Sozialdemokrat" wurde inzwischen in London zumeist nur gesetzt, „die Formen geschlagen", dann nach Hamburg geschmuggelt. In der Druckerei des „Echo" erfolgte das Gießen und Herrichten der Platten. Auch in anderen deutschen Städten wurde der „Sozialdemo-krat" illegal gedruckt [ Xanthius beschrieb es etwas anders: Danach wurden auch die Platten in Hamburg, aber keinesfalls im Parteigeschäft hergestellt, dafür fand sich immer eine ‘Quetsche’, und „dort, wo zuverlässige Männer in der Nacht den ‘Sozialdemokrat’ erst in Platten gossen und dann sauber druckten, war tags zuvor irgendeine Kriegervereinszeitung aus der Maschine gebracht worden" (Schröder 1913; vgl. auch Laufenberg 1931, S. 608f.; Belli 1978; Hellfaier 1958, S.115ff., 175ff.). Die Zentrale des Versandes in Deutschland befand sich auch schon vor der Übersiedlung der Redaktion nach London in Hamburg, schrieb Laufenberg (Bartel u.a. datieren das erst nach den Umzug [1979, S. 159]). ] . Das geschah inzwischen alles ziemlich ungeniert, denn: „Wo nicht Ungeschicklichkeit im Spiele war, reichte der Witz der Polizei nicht aus, Entdeckungen zu machen" (Bebel 1914, S. 97).

In diesem Herbst übernahm Heinrich Dietz wieder die Leitung der Stuttgarter Parteidruckerei: „Druckerei und Verlag sind jetzt wieder beieinander, hoffentlich mit besserem Resultat als früher", schrieb Heinrich Dietz an Hermann Schlüter. „Der Lärm wurde (gegen den Oberwurstler!) zu groß, so daß ich die ‘Quetsche’ selbst übernehmen mußte" (HD an HS, 6. 11. 1888, AdSD, NL Schlüter, B 30; vgl. auch Fischer 1930). Der ‘Oberwurstler’ Georg Baßler legte auch die Redaktion des „Schwäbischen Wochenblattes" zum Ende September nieder [ Auf der Landesversammlung der württembergischen Sozialdemokraten am 20. Mai 1888 in Bad Cannstatt wurde beschlossen – so vermutete die Polizei – „die Absetzung des Redakteurs des „Schwäbischen Wochenblattes", des Schriftsetzers Georg Baßler" (HStA Stg. E 150, Bü. 2044, zit. nach Rieber 1984, S. 433).] , und das sozialdemokratische Parteiblatt erschien ab dem 1. Oktober wieder im Stuttgarter Verlag J.H.W. Dietz (Rieber 1984, S. 424), nunmehr dreimal in der Woche. Georg Baßler blieb aber als Geschäftsführer in der Druckerei beschäftigt (HE 131900Nr. 90, 19. 4.). Die neue Parteidruckerei blieb von polizeilichen Nachstellungen weitgehend verschont. Im Stuttgarter Stadtpolizeiamt hatte sich offensichtlich eine realistische Einschätzung durchgesetzt: „Eine Durchsuchung der Druckerei des Dietz [...] wurde unterlassen, da derartige Druckschriften erfahrungsgemäß sofort nach Druck aus der Druckerei geschafft werden" [ StA Lb F 201, Bü 662, 21. 1. 1890. Es ging um den Verbotsantrag für ein württembergisches Wahlflugblatt. ] .


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