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3.8. Aufhebung des Sozialistengesetzes – Übergang zur Legalität (1889/90)

„Die Demokraten, das dürfen wir ohne weiteres annehmen, freuten sich, daß das ‘Schandgesetz’ an innerlicher Fäule zusammengebrochen war – die Nationalliberalen und Konservativen haben es der Regierung nie verziehen, daß sie das Gesetz preisgab, ohne einen ernstlichen Versuch gemacht zu haben, es zu halten" (Dietz 1909).

„Daß es in Deutschland flott vorangeht, das sehe & höre ich täglich, & das ist das Beste" (FE an HD, 13. 12. 1890, IISG, Marx/Engels Korr., Br. 389).

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3.8.1. 1889: Der Parteivorstand als ‘stiller Teilhaber’ im Stuttgarter Verlag

1889 hatten sich die Verhältnisse auch in Württemberg schon so verändert, daß die Stuttgarter Sozialdemokraten einen Wahlverein gründen konnten. Sie wählten Heinrich Dietz zu ihrem Vorsitzenden (Keil 1907, S. 7). Der Wahlverein blieb bis zur Gründung der Landesorganisation auf dem ersten Parteitag in der Legalität aktiv.

Im selben Jahr fand der letzte der Geheimbund-Prozesse gegen Sozialdemokraten in Elberfeld statt. Dort war August Bebel mit 86 weiteren Personen, darunter die Abgeordneten Harm, Schumacher und Grillenberger, angeklagt (vgl. z.B. Bartel/Schröder/Seeber 1980, S. 294ff.). Die gegen diese Abgeordneten konstruierte Anklage (Bestehen eines örtlichen Geheimbundes unter der obersten Leitung der Reichstagsfraktion) sollte nach Ansicht der Elberfelder Staatsanwaltschaft auf insgesamt 128 Personen, darunter alle Reichstagsabgeordneten, übertragen werden. Damit war auch Heinrich Dietz noch einmal in Gefahr, für seine Partei ins Gefängnis gehen zu müssen [ Vgl. Schreiben der Staatsanwaltschaft Elberfeld an Reichskanzler von Bismarck (15. 3. 1889, BA-Po 15.01, Nr. 14748) und an die Hamburger Polizeibehörde (19. 3. 1889, StAH S 149/63).] . Der Reichstagsfraktion war aber – trotz schwerster Bedenken – keine Verschwörung nachzuweisen, so mußten sich die Landrichter in Elberfeld mit der Verurteilung der dort ansässigen Sozialdemokraten zufriedengeben (Mehring 1909, S. 286).

1889 schloß Fritz Dietz seine Lehre als Buchdrucker im Hamburger Geschäft ab. Sein Vater gab ihm mahnende Worte auf seinen Lebensweg mit. Fritz, dem der Weg bisher geebnet worden war, sollte in Zukunft stets ‘freundlich und bescheiden’ gegen Vorgesetzte und besonders gegen Untergebene sein, die „in viel schlechterer Lage sich befanden und teilweise in ganz untergeordneten Stellungen ihr ganzes Leben zu verbringen haben. Diesen Leuten gegenüber kann man garnicht freundlich genug sein." Mit dem Lehrabschluß begann für seinen Sohn das Erwachsenenleben, die Pflichten, sich als Handwerker weiterzubilden, aber auch als Mensch „hast du vieles zu erfüllen, was dir bislang fern gelegen hat. [...] Ich erwarte von dir, daß du nach dieser Richtung fleißig bist. [...] Ich erwarte ferner von dir, daß du dich eines moralischen Lebenswandels befleißigst, damit du meinem Namen überall und zu jeder Zeit Ehre machst[...]" (HD an Fritz Dietz, 29. 3. 1889 [ Kopie im Privatbesitz und freundlicherweise zur Verfügung gestellt von F. Pospiech.] ).

1889 veränderte sich auch im Stuttgarter Geschäft einiges. Heinrich Dietz war mit der Druckerei und dem Verlag ganz in die Furtbachstraße 12 umgezogen [ 1897 ‘verkaufte’ Heinrich Dietz das Haus an die Firma J.H.W. Dietz Nachf. Als Eigentümer waren von 1897 bis 1914 Julie Bebel und Heinrich Dietz eingetragen. 1905 wurde das Haus an die Firma Paul Singer weiter’verkauft’. Nach Heinrich Dietz’ Tod ‘erbte’ 1924 die Verlagsbuchhändlerswitwe Helene Dietz, geb. v. Zülow, das Haus (StA Stg., Feuerversicherungsbuch). Es wurde 1944 zerstört und 1956 wieder aufgebaut (vgl. Amtsblatt der Stadt Stuttgart, 16. 10. 1986 [Lenin]). ] . In der Partei wurde aber nicht offiziell bekannt, daß gleichzeitig August Bebel und Paul Singer – die Repräsentaten des Parteivorstands – als Teilhaber in das Stuttgarter Verlagsgeschäft einstiegen. Während Bebel eine (wahrscheinlich nominelle) Einlage von 15.000 Mark mitbrachte, gab Paul Singer nichts hinzu. Heinrich Dietz hatte bisher in die Parteikasse jährlich 12.000 Mark gezahlt. Mit der Geschäftsveränderung wurde – nach Abzug aller Kosten – der Gewinn gedrittelt: ein Teil für die Parteikasse, ein Teil für August Bebel, und das letzte Drittel behielt Heinrich Dietz.

Bruno Schoenlank, der diese Transaktion in seinem Tagebuch notierte [ Bruno Schoenlank schrieb in sein Tagebuch am 20. 3. 1897, Karl Grillenberger hätte ihm damals im Vertrauen die ganze Geschichte über „die Verhältnisse im Verlagsgeschäft unseres wackeren und tüchtigen J.H.W. Dietz" erzählt (Mayer 1971).] , hatte offenbar einen sehr guten Zugang zum allgemeinen Parteiklatsch: Karl Grillenberger hatte die Neuigkeit über eine Beteiligung direkt von Heinrich Dietz erfahren. Die Höhe der fraglichen Summen hatte Bamberger, Bernsteins Schwager und Grillenbergers Freund, weitererzählt. Nach diesem Bericht war ihm, Schoenlank, der „Mißmut und die Klagen des trefflichen J.H.W. Dietz über die schweren Lasten, die er zu tragen habe" wirklich verständlich (zit. in Mayer 1971, S. 117).

Mit dem Eintritt zweier Vorstandsmitglieder in den Stuttgarter Verlag bekräftigte die Partei ihr Eigentumsrecht. August Bebel stellte später in einem Brief an Rechtsanwalt Heinemann deutlich fest: „Die sozial-demokratische Partei besitzt nicht die Rechtsfähigkeit, Geschäfte zu gründen und zu führen". Das traf insbesondere auf die Zeit der Illegalität zu, galt aber noch lange Zeit weiter. Um dennoch die erwirtschafteten Gewinne nicht an Privatpersonen zu verlieren, setzte die Partei „Verwalter, Treuhänder ein, die die mit den Geldern der Partei gegründeten Geschäfte zu leiten und zu verwalten haben und verpflichtet sind, etwaige Vorverträge der Geschäfte an die Parteikasse abzuliefern. Es ist also kein Privateigentum und Privateinkommen vorhanden" (29. 11. 1911, IML, NL Bebel, 22/128). Obwohl Heinrich Dietz an Karl Kautsky noch im Frühjahr 1885, kurz vor dem Abschluß des Umzugs nach Hamburg, geschrieben hatte: „Ich bitte Sie, nicht außer Acht zu lassen, daß ich das Unternehmen ausschließlich für meine eigene Rechnung führe" [ Und nur diese Aussage fand Aufnahme in fast die gesamte Literatur über das Stuttgarter Geschäft.] , so relativierte er selbst diese Aussage und bedauerte im selben Atemzug, daß „nach den jetzigen Verhältnissen" eine Subventionierung des Geschäfts auch undenkbar wäre. Bis auf wenige Ausnahmen hatte Heinrich Dietz kein Geld von der Partei zu erwarten, im Gegenteil: „Alle wollen haben, keiner fragt, woher es kommt" (HD an KK, 6. 4. 1885, IISG, K D VIII, Br. 65).

Heinrich Dietz war also zu jeder Zeit der nominelle Eigentümer und später der von der Partei eingesetzte Geschäftsführer des sozialdemokratischen Parteiverlages [ „In München erklärte auf dem Parteitag der Parteisekretär Auer, daß die drei Blätter Die Neue Zeit, Die Gleichheit, der Wahre Jacob von Anfang an der Partei de facto, jetzt aber de jure gehörten und gehören" (HD an WB, 10. 6. 1905, BA-Po, NL Blos, 1904, Bl. 3). Läuter stützte die These des ‘Privatmannes’ Dietz, der die Stuttgarter Unternehmen eigenverantwortlich betrieb: „Beim Dietzschen Verlag hingegen handelte es sich [...] mindestens bis 1897 um ein unabhängiges Privatunternehmen" (1966, S. 207).] , hatte jedoch zum allergrößten Anteil vollkommen eigenverantwortlich zu wirtschaften [ Ein weiterer Beleg hierfür ist darin zu sehen, daß er gegenüber Hermann Schlüter, Julius Motteler und vor allem August Bebel die Bilanz nach der Umsiedelung der Druckerei nach Hamburg verantwortete (vgl. HD an HS, 22. 7. 1885, AdSD, NL Schlüter, B 30).] . Daß ihm das als geschickter Kaufmann so überaus erfolgreich gelang (und er selbst auch einen gewissen Reichtum erwarb), darin lag sein großer Verdienst und machte ihn – wie August Bebel betonte – für die Partei unentbehrlich (AB an FE, 27. 12. 1892, Bebel/Engels 1965, S. 642).

Im Reichstag nahm Heinrich Dietz – vier Jahre nach der Diskussion um die Dampfersubvention – erstmals wieder aktiv an einer Debatte teil. Schon Ende des Jahres 1888 hatten Beratungen über die staatlichen Alters- und Invaliditätsversicherungen begonnen [ Im Reichstag wäre es ansonsten wieder mal sehr öde, berichtete der Korrespondent im „Sozialdemokrat": „Die Sozialdemokraten sind das Salz des Reichstages. ‘Ohne die Sozialdemokraten wäre es im Reichstage vor Langeweile kaum auszuhalten’ gestand neulich unter vier Augen ein sehr ‘gutgesinnter’ Reichsbote" (SD 10[1888]Nr. 52).] . Heinrich Dietz sprach am 1. April 1889 zur Versicherungsfrage (Sten. Ber. 1889, S. 1175ff.). Fast sechs Jahre zuvor, Ende April 1883, hatte Heinrich Dietz schon einmal als Fraktionsredner zum Thema Sozialreformen gesprochen. Für die Sozialdemokraten lehnte er damals das geplante Finanzierungssystem der Ortskrankenkassen ab: „Dem Arbeiter gebührt die vollständig freie Verwaltung seiner Krankenkasse – und dazu ist er mit vollem Rechte auch befugt. – Der Arbeiter will die Krankenversicherung aus eigenen Beiträgen bestreiten, ohne Zuschuß der Arbeitgeber. Sollen die Arbeitgeber in das Versicherungswesen der Arbeiter mit hineingezogen werden, so finden erstere in der Unfallversicherung hierzu den geeigneten Boden" (Sten. Ber., 24. 4. 1883, S. 2084). Die Sozialdemokraten stellten 1883 vergeblich zahlreiche Änderungsanträge: Der Reichstag nahm das Krankenversicherungsgesetz am 31. Mai mit großer Mehrheit ohne die von den Sozialdemokraten gewünschten Veränderungen an (Laufenberg 1931, S. 354). Heinrich Dietz erklärte deswegen im Namen der Fraktion in der Schlußdebatte: „Nach reiflicher Abwägung des Für und Wider werden wir daher gegen das Gesetz stimmen" (Sten. Ber. 1883, S. 2691).

Auch in der jetzigen Debatte sprach er sich für die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage zur Bildung von ‘freien Versicherungsanstalten’ aus. Dazu kam er auf die Erfahrungen der Buchdruckerinvalidenkassen zurück: „Das, was jetzt die Regierung den Arbeitern als Sozialreform bietet, haben die Buchdrucker bereits seit 40 und 50 Jahren ohne jede fremde Hilfe zu erreichen versucht und auch erreicht, ja sie haben bei weitem mehr getan als das, was die Regierung im entferntesten zu bieten imstande ist" (Sten. Ber. 1889, S. 1175). Er plädierte am Schluß seiner Rede, den zur Diskussion stehenden Antrag der Freisinnigen Partei anzunehmen, die freien Kassen gesetzlich abzusichern, weil „gerade durch Annahme des vorliegenden Antrags dem Gesetz der polizeiliche Charakter genommen werden wird. Durch die gesetzlich garantierte Zulässigkeit freier Organisationen wird wesentlich auf die Versöhnung der Klassengegensätze hingearbeitet, jedenfalls mehr, als dadurch, daß man die Arbeiter konsequent von allem ausschließt und sie unter polizeiliche Bevormundung stellt" (ebd., S. 1176).

Die Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetze wurden Ende Mai im Parlament insgesamt ohne die zusätzlichen Wünsche der Sozialdemokraten angenommen, begleitet von ‘Bravo rechts’ und ‘Zischen links’ sowie ‘wiederholtem lebhaften Beifall rechts und bei den Nationalliberalen’ (Sten.Ber. 1889, S. 2003).

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3.8.2. Januar 1890: Neue Dampfersubventionen und
die ‘gemeingefährlichen Sozialdemokraten’ im Reichstag


Kanzler Bismarck versuchte im Januar 1890, seinen Mißerfolg von 1885 wieder wettzumachen, als der Reichstag ihm nicht die Subventionen für alle geforderten Dampferlinien bewilligt hatte. Deshalb stand die Genehmigung für eine weitere Linie nach Ostafrika auf der Tagesordnung. Heinrich Dietz, der ‘Experte’ der sozialdemokratischen Abgeordneten in dieser Frage, wies den Gesetzesentwurf am 20. Januar im Parlament mit der Begründung zurück, diese Linie diente nun wirklich nur kolonialen Zwecken: „Man jagt in Afrika einem Phantom nach, das man nie und nimmer erreichen wird, denn eine Kolonie für Europäer kann Ostafrika, wenigstens soweit wir Besitz davon ergriffen haben, nie werden" ((Sten. Ber. 1890, hier S. 1107). Im übrigen wäre dann eine Konfrontation mit England unausweichlich.

Schon 1885 hätte er es besser gewußt, erinnerte er das Parlament: Wenn die subventionierten Schiffsverbindungen zusammen mit den schon etablierten Hamburger Linien geführt worden wären, wie er damals verlangt hatte, ständen die beteiligten Firmen jetzt besser da und die investierten Summen hätten ausgereicht. Im Namen der Fraktion forderte er wenigstens die Zusicherung, daß künftig der Einsatz von „Negern und Kulis" verhindert würde. Die weißen Kohlenzieher hätten auf den Schiffen ohnehin Schwerstarbeit zu leisten, sie arbeiteten unter enormem Konkurrenzdruck und mußten dazu auch noch Lohnkürzungen hinnehmen. Zusätzlich von Arbeitslosigkeit durch das Anheuern ausländischer Arbeiter bedroht zu sein, wäre ihnen nicht mehr zuzumuten. Außerdem hätte der Bremer Lloyd – der Empfänger der 1885 bewilligten Subventionen – außerordentlich schlechte Arbeitsbedingungen auf seinen Schiffen zu verantworten. Auf den Hamburger Linien käme das zum Glück nicht vor (Sten.Ber., S. 1108).

Die Regierung machte keinerlei Zugeständnis in dieser Frage (S. 1113). Selbst Heinrich Dietz hielt sich mit einer Einschätzung über die betroffenen Arbeiter nicht zurück: „Sehr richtig hat der Herr Staatssekretär vorhin bemerkt, daß das Menschenmaterial, aus dem sich diese Kohlenzieher rekrutieren, ein schlechtes und verkommenes ist" (S. 1113). Auf eigene Faust hatte Heinrich Dietz zwei Tage vorher versucht, sich für die weißen Arbeiter auf deutschen Schiffen einzusetzen. Im privaten Gespräch mit seinem Hamburger Abgeordnetenkollegen, dem Reeder Woermann [ Woermann war MdR für den Wahlkreis Hamburg III.] , entgegnete dieser ihm aber zynisch, „die Einstellung der Schwarzen sei ein Akt der Humanität" (S. 1108).

Ende 1889 hatten neuerliche Verhandlungen über eine Verlängerung des Sozialistengesetzes begonnen. Einige Paragraphen waren zwar ‘entschärft’, dafür aber nach dem Willen Bismarcks die Bestimmungen zur Ausweisungspraxis erheblich strenger gefaßt worden. Außerdem sollte das Gesetz dieses Mal ‘für ewig’ Geltung bekommen. Die Fortschrittspartei bot den Sozialdemokraten einen ihrer Sitze in der 28köpfigen Reichstagskommission an (SD 11[1889]Nr. 46 u. 47). Nach einiger Bedenkzeit nahm die Fraktion das Angebot an, und mit Paul Singer konnte erstmals ein Sozialdemokrat an den Vorberatungen über das Sozialistengesetz teilnehmen (Sten. Ber. 1889, 5. Session, S. 215). August Bebel prangerte im Reichstag Anfang November die Situation der Verfolgten noch einmal an. Er schilderte an den Beispielen seiner Fraktionskollegen, wie unsinnig die staatlichen Maßnahmen waren: „Unser Kollege Dietz ist aus Hamburg ausgewiesen. Er hat, solange er in Hamburg war, nie in einer öffentlichen Versammlung geredet, er hat dort noch weniger geredet als hier im Reichstag, und das ist sehr wenig; er hat sich nie um die Agitation bekümmert, sich nie öffentlich gezeigt, und doch ist er als staatsgefährlicher Agitator ausgewiesen worden. Und warum? Einzig und allein, weil er der Leiter, und zwar ein ausgezeichneter Leiter, einer großen Druckerei war, in der zugleich ein von der Behörde geduldetes sozialdemokratisches Organ gedruckt wurde. Diese seine geschäftliche Stellung war der einzige Grund, weshalb man ihn aus Hamburg hinausgeworfen hat" (Sten. Ber. 1889, 5. Session, S. 185).

Schon zwei Tage nach seiner Rede gegen die neuen Dampfersubventionen nahm Heinrich Dietz erneut das Wort im Reichstag. Ausführlich sprach er in der laufenden Debatte über die Verlängerung des Sozialistengesetzes zum neuen Entwurf des § 11, die sozialdemokratische Presse betreffend [ Die Reichstagskommission, die die Debatte über eine erneute Verlängerung des Sozialistengesetzes vorbereitete, hatte eine ‘Lockerung’ vorgeschlagen, nach der eine Zeitung erst dann endgültig zur Einstellung des Erscheinens gezwungen wurde, wenn man vorher zwei Einzelnummern – und zwar innerhalb eines Jahres – verboten hatte.] , und trug seine Hamburger Erfahrungen mit den Verboten der „Gerichts-Zeitung" und der „Bürgerzeitung" vor (Sten. Ber. 1890, S. 1160ff.). Damit versuchte er zu belegen, daß die angekündigten ‘Verbesserungen’ gar nichts Wesentliches änderten. Wenn – wie in Hamburg geschehen – die erforderlichen zwei Verbote kurz nacheinander ausgesprochen und gar nicht weiter begründet wurden, trafen die weiter vorgesehenen Maßnahmen alle Zeitschriften desselben Herausgebers, selbst die, in denen keine verbotenen Texte standen. „Nun frage ich, hat der Gesetzgeber, als er dies Gesetz einbrachte und beraten und beschließen ließ, eine solche Handhabung gewollt? Sicherlich nicht!" (S. 1160)

Heinrich Dietz bezog sich in seinen Ausführungen auf das Verbot des „Stadt- und Landboten". Er wäre auf diese Zeitschrift stolz gewesen, weil ihm „eine geheime Verbindung von Zürich aus die Frage gestellt" hatte („damals erschien der „Sozialdemokrat" noch in Zürich", erläuterte er den Abgeordneten): was für ein Blatt denn der „Stadt- und Landbote" wäre, denn „die Abonnenten des „Sozialdemokrat" sprängen ja massenhaft ab; wenn das so fortginge, so würde in Norddeutschland der „Sozialdemokrat" bald nicht mehr gelesen werden! Ich war ganz erfreut von dem Resultat; denn ich muß sagen, daß es nach meiner Anschauung besser ist, wenn die deutschen Arbeiter ein Organ lesen, welches in Deutschland herausgegeben und so redigiert wird, daß die Leser die Interessen der Arbeiter wirklich darin vertreten sehen" [ Auf diese deutliche – und ernstgemeinte – Kritik am „Sozialdemokrat" reagierte aber, soweit ich die Quellen durchsehen konnte, in der Partei niemand. Nach allen anderen politischen Äußerungen konnte es sich aber nicht lediglich um taktische Bemerkungen auf der Bühne des Reichstages gehandelt haben.] (Sten. Ber. S. 1161, Hervorhebungen im Orig.).

Der Hamburger Polizeisenator Hachmann müßte sich selbst anklagen, wenn er solche sozialdemokratischen Blätter verböte. Denn dann käme eben ‘die ausländische Presse wieder herein’, und der „Sozialdemokrat" würde im Hamburger Gebiet wieder mehr gelesen. Wenn man allerdings in Betracht zöge, daß für die sozialdemokratische Presse in Deutschland rund 150 Buchdrucker tätig waren, für die „Bourgeoispresse, wozu ich auch die konservative rechne", dagegen etwa 20.000, so drängte sich ihm der Verdacht auf, der Grund für die ‘unsägliche Furcht’ vor der sozialdemokratischen Presse läge darin, „daß es die Wahrheit ist, die Ihnen in der Arbeiterpresse entgegengehalten wird! Mit jeder Unterdrückung eines Arbeiterorganes versuchen Sie, ein Stück Wahrheit totzuschlagen [...]. Geben Sie lieber der Wahrheit die Ehre, schaffen Sie das unglückselige Gesetz ab, – dann soll es an uns nicht fehlen, in freier Diskussion den Kampf auszufechten; wir werden dann sehen, wer den Kürzeren zieht und wer den Sieg davonträgt" (S. 1163, Hervorhebungen im Orig.).

Inzwischen war in Hamburg der am 13. Januar 1890 in Lübeck verstorbene Johannes Wedde, Herausgeber der „Bürgerzeitung", mit einer „wuchtigen Kundgebung, wie Hamburg seit der Bestattung Geibs keine mehr gesehen hatte" (Laufenberg 1931, S. 665f.) zu Grabe getragen worden. Wedde, nur 48 Jahre alt geworden, durfte erst im Sarg aus dem Verbannungsort in seine Heimatstadt zurückkehren. Mindestens 20.000 Menschen, zahlreiche Arbeitervereine – „eine wahrhaft überwältigende Manifestation" (SD 12[18909Nr. 4) – begleiteten den Trauerzug zum Friedhof Ohlsdorf, vorbei an vielen schwarz geschmückten Läden und auf halbmast gezogenen Fahnen. „Die Reichstagsfraktion hatte einen prachtvollen Palmenzweig gesendet", und Karl Frohme hielt eine kurze, „aber ergreifende Ansprache" (ebd.). Die Polizei ließ die Menge unbehelligt, obwohl der lebende Johannes Wedde als gemeingefährlich ausgewiesen worden war.

Heinrich Dietz’ Reichstagsrede eine knappe Woche danach verursachte in Hamburg einige Aufregung. Insbesondere die Schilderung eines Vorfalls verärgerte den Senat, nämlich, daß der Präses der Polizeibehörde, Hachmann, dem Verleger Jensen nach Abdruck eines Gedichtes gedroht haben sollte, er würde mit Gewehrkolben dreinschlagen lassen (Sten.Ber. S. 1162). Die ‘verschnupften’ Senatoren („Berliner Volksblatt" 13. 2. 1890) forderten ihren Kollegen Hachmann auf, für eine angemessene Gegendarstellung zu sorgen (StAH S 1887, Auszug aus dem Senatsprotokoll 27. 1. 1890). Auffallend ähnliche Artikel, in denen versucht wurde, Heinrich Dietz als Lügner hinzustellen, erschienen dann gleichzeitig in den „Hamburger Nachrichten", im „Hamburger Fremdenblatt" (31. 1. 1890) und in der „Reform" (1. 2. 1890). In der vom Senat lancierten Mitteilung stand dabei erstmalig eine offizielle Begründung, warum Heinrich Dietz, Johannes Wedde und andere Beschäftigte der Hamburger Druckerei ausgewiesen worden waren: nicht etwa wegen der Beteiligung an den sozialdemokratischen Zeitschriften, sondern, „weil dieselben als hervorragende Sozialdemokraten und durch ihre politische Tätigkeit geeignet erschienen, durch Schürung des Klassenhasses zwischen der besitzenden und der arbeitenden Klasse die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gefährden" (HE 4[1890]Nr. 27, 1. 2.).

Alle diese staatlichen Bemühungen fruchteten zu der Zeit nichts mehr. In der Schlußabstimmung im Reichstag am 25. Januar 1890 konnte die Ablehnung des Sozialistengesetzes nach 12 Jahren Dauer nicht mehr verhindert werden. Formal noch bestehend, „verendete es am 30. September 1890" (Thümmler 1979, S. 23).

Mit der Aufhebung des Sozialistengesetzes begann für die Sozialdemokratische Partei eine ganz neue Phase ihrer Parteigeschichte. Obwohl noch immer nicht frei von staatlichen Einschränkungen, Nachstellungen und dem Mißtrauen bürgerlicher Interessenvertreter, expandierte sie stark, und ihr soziales Gefüge stabilisierte sich recht bald. Sie konnte ihre (erzwungene) Selbstisolierung nach und nach aufgeben (Ritter 19632). Die Sozialdemokratische Partei erhielt entsprechend ihrem Wähleranteil nach und nach immer mehr Mandate im Reichstag, später auch in den Landtagen der deutschen Bundesstaaten. Dabei veränderte sich zunächst weder die Politik des Innenministeriums noch die der deutschen Länder gravierend.

Indirekt wurden die Sozialdemokraten durch die Februarerlasse Kaiser Wilhelms II. unterstützt (vgl. Laufenberg 1931, S. 676ff.). Darin forderte er Anerkennung der Arbeiter als Verhandlungspartner, mahnte eine Arbeitszeitregelung an und sprach sich für eine internationale Verständigung der am Welthandel beteiligten Länder sowie für die Einberufung einer Konferenz aus. Bismarck drängte bei Kaiser Wilhelm II. doch noch auf eine Verlängerung des Sozialistengesetzes, scheiterte aber mit diesem Vorhaben nachhaltig [ Die Beziehungen zwischen dem Kaiser und seinem Kanzler hatten sich schon 1889 – wie angekündigt – erheblich verschlechtert, als sich Wilhelm II. persönlich in den Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet einmischte (vgl. z. B. Pöls 1960; Pack 1961, S. 236ff.; Miller/Sauer 1971, S. 70).] . Der Kaiser lehnte die Vorlage am 4. März ab und entließ seinen Reichskanzler am 20. März 1890 (Thümmler 1979, S. 23).

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3.8.3. Reichstagswahlen im Februar

„Wenn die Demokratie damals erwartete, daß die von dem Ausnahmegesetz befreite sozialdemokratische Partei nunmehr mitarbeiten werde an dem Ausbau unserer inneren Gesetzgebung, so sah sie den Wald vor Bäumen nicht. Die Sozialdemokratie hat die Mitarbeit niemals verweigert, nicht nur nach dem Sozialistengesetz, sondern auch vor und während dieser schmachvollen Periode. Daß sie dabei in erster Linie die Interessen der Arbeiter vertrat, wird keinen einsichtigen Menschen wundern, denn dazu ist sie in erster Linie berufen" (Dietz 1909, Hervorhebung im Orig.).

Heinrich Dietz übernahm in Württemberg als Vorsitzender des örtlichen Wahlvereins auch die Leitung einer seit langer Zeit wieder öffentlich tagenden Landesversammlung am 21. Juli 1889 (Rieber 1984, S. 618). Er hielt auch das Einführungsreferat, und bevor die Reichstagskandidaten benannt wurden, sprach Wilhelm Blos als zweiter Abgeordneter.

In ganz Deutschland waren die Vorbereitungen für Neuwahlen angelaufen. Zahlreiche Wahlvereine konnten wegen der verbesserten Bedingungen gegründet werden, außerdem war es langsam wieder möglich, wieder öffentliche Versammlungen abzuhalten. Der Partei fehlte es nun nicht mehr an geeigneten Männern, „allein, wer eine Kandidatur annimmt, begibt sich damit in das Gewühl des Parteikampfes und muß auf die rücksichtlosesten Verfolgungen gefaßt sein – und das hat, wenigstens bei solchen, die eine bürgerliche Position haben, den vollständigen Ruin zu bedeuten" (SD 11[1889]Nr. 8).

Im Januar 1890 zeichnete sich in Württemberg schon deutlich ab, daß sich die Behörden auf eine veränderte Lage einstellten. Nach dem energischen Protest gegen das Verbot eines durch Holoch verlegten und bei Dietz gedruckten Wahlflugblatts, das für den Kandidaten Kittler (Heilbronn) warb, hob man das Verbot rasch wieder auf: „Es handelt sich eben nur um die gewöhnlichen Redensarten, die noch dazu in diesem Falle maßvoller vorgetragen werden, als es meistens zu geschehen pflegt" (Stern 1956, S. 625). Solche ‘Redensarten’ hatten früher regelmäßig zur Unterdrückung geführt.

In Hamburg konnte August Bebel zur Wahl eine Volksversammlung abhalten. Lange vor dem offiziellen Beginn war der Saal bei Sagebiel hoffnungslos überfüllt, in den Straßen rund um das Lokal drängten sich noch immer viele Menschen (Laufenberg 1931, S. 669). Eine Versammlung im II. Hamburger Wahlkreis mit Heinrich Dietz wurde zwar nicht genehmigt, aber doch nur, weil er gar keine Aufenthaltsgenehmigung beantragt hatte (StAH 1596, Bd. III, 21. 1. 1890). An seiner Stelle sprach Paul Singer vor rund 12.000 Menschen, ebenfalls in den Sagebielschen Sälen. Er forderte unter großem Beifall: „Schicken Sie diesmal ein dreiblättriges Kleeblatt nach Berlin!" (Laufenberg, S. 681).

August Bebel und Heinrich Dietz behaupteten ihre Reichstagssitze mühelos. Im III. Hamburger Wahlkreis hätte Johannes Wedde aufgestellt werden sollen. Kurzfristig mußte ein anderer Kandidat gefunden werden: „Was Hamburg betrifft, so hat der Tod Weddes’ eine empfindliche Lücke gerissen. W. wäre der allerbeste Kandidat gewesen. Wir hoffen jedoch, daß der Ersatzmann – über den neuen Kandidaten ist man zur Zeit noch nicht einig – dennoch den Sieg davon tragen wird" (HD an HS, 18. 1. 1890, AdSD, NL Schlüter, B 30). Erst kurz vor den Wahlen wurde Wilhelm Metzger nominiert, und erstmals konnten die Sozialdemokraten auch das Mandat im dritten Wahlkreis [ Die Mitgliederzahlen im dritten Hamburger Wahlkreis nehmen in den folgenden Jahren überproportional zu, so daß er schließlich stärkster Bezirk der Sozialdemokraten Deutschlands vor 1914 wurde (Ulrich 1976). ] erobern. Fast 59 % der Wähler hatten im Vier-Städte-Gebiet den Sozialdemokraten ihre Stimme gegeben [ August Bebel gewann bei stark gestiegener Wahlbeteiligung mit 17.857 Stimmen gegen Dr. Lutteroth (7.946, Nationalliberale Partei) und Dr. Barth (4208, Freisinnige Partei). Heinrich Dietz bekam 22.518 – gegen 7.788 nationalliberale – Stimmen und 3.216 für die Freisinnige Partei. Wilhelm Metzger siegte mit 27.369 Stimmen gegen den Reeder Woermann, der 14.978 Stimmen erhielt (Laufenberg 1931, S. 685).] . Die „Hamburger Nachrichten" zogen erbittet Bilanz: „Ein sächsischer Drechslermeister, ein Stuttgarter Buchdrucker, ein Hamburger Reporter repräsentieren von nun an, falls nicht Zufälle eintreten, auf fünf Jahre Hamburg im Deutschen Reichstag" (zit. in Laufenberg, S. 686).

Auch in der norddeutschen Region war das nicht anders: Karl Frohme gewann in Altona, Hermann Molkenbuhr konnte die Stichwahlen in Ottensen-Pinneberg (6. WK) am 28. Februar 1890 knapp für sich entscheiden (Voß-Louis, S. 218f.).

Wegen der ungleichen Einteilung der Wahlkreise waren die Sozialdemokraten im neuen Parlament allerdings nur mit 35 Abgeordneten (von 397) vertreten, obwohl sie reichsweit knapp 20 % der Stimmen bekommen hatten. Gegenüber den ‘Septennats-Wahlen’ 1887 aber vergrößerte sich die sozialdemokratische Fraktion erheblich. Die bürgerliche Presse begann, über die nun ‘zu groß gewordene’ Partei und ihre sicher bald bevorstehende Spaltung zu spekulieren [ „Es war kein Zweifel – wir hatten uns totgesiegt [...] es war aus mit uns, wir waren toter als tot. [...] Nun – die Auflösung und Spaltung ist gekommen [...] – nur nicht in der Sozialdemokratie. Die 35 sozialdemokratischen Abgeordneten traten zusammen und siehe da, nie ist die Fraktion so einig gewesen, nie herrschte – mit einer einzigen Ausnahme – ein solch einträchtiger kollegialischer Geist in der Fraktion [...] Die Lage ist ja auch außerordentlich günstig" (SD 12[1890]Nr. 22).] (SD 12[1890]Nr. 22).

Zu Beginn des in seiner Zusammensetzung stark veränderten Reichstages [ Zum Reichstag ‘im Zeitalter des persönlichen Regiments Wilhelms II.’ vgl. Frauendienst 1963.] waren die verschiedenen Gruppen und Personen ‘eifrig dabei, sich zu mustern und zu messen’. Mit der neuen und wesentlich größer gewordenen sozialdemokratische Fraktion, früher – als lediglich ‘geduldete’ Partei – in ein Eckchen am Rande des Plenums verbannt und ‘ange-wiesen auf die Gnade der anderen’, nahm auch Heinrich Dietz nun stolz im Parlament Platz: „Auf den Sitzen, wo früher die Rickert, Bamberger und Eugen Richter als Hohepriester des Manchestertums thronten, haben sich jetzt Bebel, Singer und Liebknecht niedergelassen, und unmittelbar neben den heiligen Bänken der ob der Nachbarschaft gar erstaunten Herren vom Bundesrat hat die umstürzlerische Rotte der Sozialdemokraten sich häuslich eingerichtet" (SD 12[1890] Nr. 20).

Man traf sich am Montag, den 5. Mai 1890, zur konstituierenden Sitzung (SD 12[1890]Nr. 18), bestätigte den alten Fraktionsvorstand und beschloß einstimmig, sich an den ständigen Kommissionen zu beteiligen – dieses Mal auch an der Budgetkommission – sowie an allen weiteren Ausschüssen, die Arbeiterinteressen berühren würden (SD 12[1890]Nr. 20). Eine den Sozialdemokraten eigentlich zustehende Schriftführerstelle im Vorstand des Reichstages lehnte die Fraktion einvernehmlich ab, „weil es sich hier nur um ein ornamentales und repräsentatives Amt handelt, das ohne jeden praktischen Nutzen für die Partei ist" (ebd.). Heinrich Dietz wurde von seiner Fraktion in den kommenden Jahren mehrfach in Kommissionen delegiert. Gleich im Mai 1890, zu Beginn der neuen Legislaturperiode, nahm er einen Sitz in der VIII. Kommission des Reichstages (Abänderung der Gewerbeordnung, Sten. Ber. 1890, S. 195) ein.

Parlamentspräsident Levetzow mußte am 7. Mai „wohl oder übel dem Reichskanzler a.D. einige Worte des Lobes widmen", eine peinliche Angelegenheit, bei der sorgfältig vermieden wurde, die Abgeordneten zum Aufstehen zu Ehren des ‘zurückgetretenen’ Kanzlers aufzufordern. Zu viele Reichstagsmitglieder hätten dem nicht Folge geleistet, nicht einmal die Konservativen waren sich da einig. Auch die „patriotische Bravo-Salve" der Nationalliberalen ‘fiel trotz des guten Willens gar schwächlich aus’, ein deutlicher Beweis dafür „wie tot der Kanzler a.D." schon war (SD 12[1889]Nr. 20).

Während Heinrich Dietz zum Wahlkampf und in Berlin unterwegs war, passierte wieder eine unangenehme Panne. Friedrich Engels beschwerte sich energisch über ‘philister-hafte’ Korrekturen, die jemand in Stuttgart an einem seiner Artikel [ „Die auswärtige Politik des russischen Zarismus". Der Artikel erschien gleichzeitig im russischen „So-zialdemokrat" und in der „Neuen Zeit" (Engels/Kautsky 1955, S. 251).] vorgenommen hatte. Aus London grollte ein zorniges ‘olympisches Donnerwetter’ herüber und traf Heinrich Dietz als den Verantwortlichen: „Da ich nicht gewohnt bin, mir dergleichen von Verlegern bieten zu lassen, verbiete ich Ihnen hiermit den Abdruck des Restartikels. [...] Es versteht sich von selbst, daß ich mich in Zukunft hüten werde, noch wieder für eine Zeitschrift zu schreiben, wo man derartigem ausgesetzt ist" (FE an HD, 1. 4. 1890, IISG Marx/Engels Korr., Br. 387).

Heinrich Dietz war aber nur mittelbar beteiligt gewesen, denn Karl Kautsky hatte für die Durchsicht des Textes selbst keine Zeit gehabt, deswegen einige redaktionelle Arbeiten für die „Neue Zeit" an Heinrich Dietz weitergegeben. Mit der Erledigung beauftragte dieser nun seinerseits Wilhelm Blos. „Und der benutzte dieses Interregnum unglaublicherweise dazu, an dem Engelsschen Artikel auf eigene Faust Anmerkungen und Streichungen vorzunehmen" (KK an FE, 3. 4. 1890, Engels/Kautsky 1955, S. 251). Heinrich Dietz war die Angelegenheit sehr unangenehm. „Nur der Umstand, daß die Wahlen und Stichwahlen Dietz fast 4 Wochen lang ununterbrochen von Stuttgart fern hielten und kein anderer Ersatzmann da war, veranlaßten ihn, das Aprilheft der Obhut von Blos anzuvertrauen. Jetzt will er Blos nicht kompromittieren und daher dessen Sünden auf sich nehmen" (KK an FE, ebd., S. 252f.). Für Wilhelm Blos mußte Heinrich Dietz einmal mehr den Kopf hinhalten. Mit seinem Geschenk zum 70. Geburtstag konnte Heinrich Dietz den Meister in London aber wieder versöhnen (FE an HD, 13. 12. 1890, IISG Marx/Engels Korr., Br. 389).

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3.8.4. Der 1. Mai 1890

Nachdem 1889 der Pariser Internationale Arbeiterkongreß beschlossen hatte, den 1. Mai zum Tag der Demonstration für die Forderungen der Arbeiterklasse zu machen, begannen auch in Deutschland die Diskussionen, in welcher Form diesen Forderungen – für die Einführung des Achtstundentags, für wirksamen Arbeitsschutz und das Verbot von Frauennacht- und Kinderarbeit – Nachdruck verliehen werden konnte. Der Kongreß hatte es den nationalen Arbeiterorganisationen überlassen, ob sie Arbeitsruhe und öffentliche Versammlungen oder Demonstrationen in ihrem Land als opportun und durchführbar einschätzten [ „In Anbetracht des Umstandes, daß der amerikanische Arbeiterbund eine solche [internationale] Kundgebung bereits auf seinem im Dezember 1888 zu St. Louis abgehaltenen Kongreß für den 1. Mai 1890 beschlossen hatte, wurde dieser Tag als Zeitpunkt der Kundgebung angenommen, die die Arbeiterschaften der verschiedenen Nationen in der Art und Weise, die ihnen durch die Verhältnisse ihres Landes vorgeschrieben werde, ins Werk setzen sollten" (Laufenberg 1931, S. 659). Von Arbeitsruhe war nicht die Rede, „vielmehr wurde ein dahingehender Vorschlag gerade von deutscher Seite bekämpft und vom Kongresse zurückgewiesen" (S. 660).] .

Die Fraktion als Parteileitung äußerte sich zu dieser Frage zunächst nicht, man hatte es nicht so wichtig genommen [ Franz Mehring räumte später ein: „Bei dieser Lage der Dinge schwieg die sozialdemokratische Reichstagsfraktion wohl allzulange. Sie scheint, erschöpft von den Anstrengungen des Wahlkampfs, die Dringlichkeit der Frage nicht genügend geschätzt zu haben" (1909, S. 329).] . Noch Anfang April schrieb Heinrich Dietz gelassen an Friedrich Engels in London: „Der 1. Mai bewegt die Gemüter in Deutschland recht lebhaft. Wir haben manchen Ruck glücklich überstanden, das gleiche wird auch mit dem 1. Mai der Fall sein. Die Lockspitzel, die eifrig an der Arbeit sind, werden kein Glück bei unseren Arbeitern haben" (7. 4. 1890, IISG, NL Engels, Korr., L 1136). Erst auf ihrem Treffen am 13. April, das die Fraktion zur Besprechung und Vorbereitung eines Parteikongresses im Herbst ohnehin geplant hatte, nahm sie in Halle (Saale) Stellung zu den Maifeiern – das war viel zu spät.

Inzwischen war nämlich deutlich geworden, daß sich sogar die Armee auf eine mögliche oder erhoffte Konfrontation vorbereitete, denn noch galt das Ausnahmegesetz. Deswegen rief die Fraktion hauptsächlich zu Besonnenheit auf. Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse waren für einen Streik ungünstig, befanden die Abgeordneten. „Die Unternehmer und die ihnen gesinnungsverwandten Behörden lauerten nur darauf, den Arbeitern den Sieg des 20. Februars [ Das war der Tag der Reichstagswahlen 1890.] zu entreißen" (Mehring 1909, S. 329; Text der Fraktionserklärung in: Dokumente u. Materialien 1974, S. 326ff.; vgl. Herrmann/Emmrich 1989, S. 323ff.). Gegen diese Argumentation erhoben sich aus der Basis massive Proteste: Froh, endlich in Freiheit für ihre Forderungen eintreten zu können, waren schon längst Beschlüsse zum Streik am 1. Mai gefaßt worden: „Wenn man von der Arbeiterschaft Disziplin verlange, solle auch die Fraktion mit gutem Beispiel vorangehen. Da sie erst am 15. April spreche, sei Wirrwarr die unausbleibliche Folge. Die Fraktion tue am besten, wenn sie sich den Beschlüssen der Arbeiter füge [...]. Das Rückzugblasen sei gleichbedeutend mit einer Niederlage" (Laufenberg 1931, S. 715).

Jakob Stern warnte in einer Stuttgarter Versammlung zu den Arbeitsschutzgesetzen am 20. April vor Unbesonnenheit. Zu den Maidemonstrationen müßte in der Öffentlichkeit vorsichtig agiert werden. Die Frage einer Arbeitsniederlegung bliebe eindeutig den Gewerkschaften zu überlassen. Die Petition an die Stuttgarter Sozialdemokraten, um diesen Appell nachdrücklich zu unterstützen, hatte Heinrich Dietz als einer der ersten unterschrieben [ Die Unterschriftenliste der auf dieser Versammlung verabschiedeten Petition trug die Namen der ‘Hauptführer der hiesigen Sozialdemokraten’ (StA Lb, F 201, Bü 624), ganz oben stand Heinrich Dietz’ Unterschrift, zu der Zeit noch Mitglied in der Arbeiterschutzkommission des Reichstages (Echo 1890). ] . Daraufhin wurde beschlossen, eine Abendveranstaltung als Schwerpunkt der Stuttgarter Maifeier durchzuführen (Eppe 1987, S. 58). Weil kein ausreichend großer Raum für alle Besucher gefunden werden konnte, fanden dann fünf Versammlungen statt. Alle Säle waren mit Bildern von Lassalle und Karl Marx geschmückt und mit Spruchbändern: „8 Stunden Muße, 8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Schlaf" und „Proletarier aller Länder, vereinigt euch" (Rieber 1984, S. 623). Insgesamt 2.500 Menschen nahmen an den Württemberger Maifeiern teil. Umzüge auf den Straßen waren nicht erwünscht gewesen. Die Polizei bereitete sich zwar auf Konfrontationen vor, griff aber nirgends ein, denn vorher hatte sie Absprachen mit den Sozialdemokraten getroffen: „Die bekannten sozialdemo-kratischen Agitatoren wurden [am 28. April, agr.] auf die Stadtdirektion geladen und – höflich – ersucht, doch ja allen ihren Einfluß aufzubieten, um revolutionäre Exzesse zu verhüten" (Keil 1907, S. 7; Rieber 1984, S. 623).

In Hamburg aber wurde trotz der späten Mahnung der Fraktion gestreikt; auch in Berlin riefen Gruppen zur Arbeitsniederlegung auf. Die Arbeiter konnten sich aber nicht durchsetzen. Aussperrungen folgten, die Aktionen endeten mit Niederlagen (vgl. dazu SD 12 1890Nr. 30; Laufenberg 1931, S. 704ff.). Später behaupteten die ‘Jungen’, die Mai-Veran-staltungen und Ausstände hätten zum Erfolg geführt, wenn sie durch nur die Fraktion unterstützt worden wären [ Vgl. zur Auseinandersetzung zwischen den ‘Jungen’ und den ‘Alten’ u.a. Bock 1969, S. 5ff.; Müller 1975.] .

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3.8.5. Parteitag in Halle (Saale)

Anläßlich des ersten legalen Parteitages nach Ende des Sozialistengesetzes [ Vgl. zum Parteitag BLHA, Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 9430.] übertrug die Partei ihm eine ehrenvolle Verantwortung: Heinrich Dietz wurde mit Paul Singer zum Versammlungleiter gewählt. Erstmals seit 13 Jahren konnten sich die Sozialdemokraten wieder im eigenen Land und frei treffen. Ihr Parteitag fand vom Sonntag, den 12., bis zum Samstag, 18. Oktober 1890, in Halle statt. Heinrich Dietz nahm mit Paul Singer auf dem Podium – unter dem Spruchband: ‘Proletarier aller Länder, vereinigt euch!’ – im festlich mit Fahnen, Schildern und Bildern von Lassalle und Karl Marx geschmückten Saal des ‘Hofjägers’ Platz. Als erste Amtshandlung schlug Paul Singer im Namen der Parteitagsvorsitzenden den 410 versammelten Delegierten vor, daß sich die Tagungszeit des Kongresses an der ‘Normalarbeitszeit’ von acht Stunden orientieren und „das Rauchen sowie das Biertrinken im Sitzungssaale vermieden werden" sollte [ Einer der Delegierten überlebte den ersten legalen Parteitag nach Ende des Sozialistengesetzes nicht: Der vom III. Hamburger Kreis entsandte Heinrich Baumgarten erlitt einen Schlaganfall (SPD-Protokoll 1890, S. 239ff.).] (SPD-Protokoll 1890, S. 17f.). August Bebel eröffnete die Verhandlungen mit dem Bericht der Parteileitung.

In Halle änderte die Partei ihren Namen endgültig in „Sozialdemokratische Partei Deutschlands" (SPD-Protokoll, S. 242). Zu ihrem Zentralorgan erklärten die Delegierten das 1884 von Paul Singer gegründete „Berliner Volksblatt", ab 1891 wurde es dann in „Vorwärts" umbenannt. Ignatz Auer sprach für die Fraktion. Seine Ausführungen sowie seine ‘Emotionalität’ veranlaßte die Delegierten mehrfach zur Kritik an ihm. Besonders seine Polemik gegen die Frauen fand dort wenig Beifall. Da half es nichts, daß er über sich und die Reichstagsfraktion befand: „Wir sind ganz nette Kerls" (SPD-Protokoll 1890, S. 158).

Neben der Tätigkeit der Fraktion, dem Organisationsstatut [ Die Fraktion hatte versucht, im Organisationsstatut ihre Kontrolle über den Parteivorstand festzuschreiben – anstelle der Wiedereinrichtung einer Kontrollkommission (SD 12[1890]Nr. 34; vgl. auch Schröder 1912). Namens der Fraktion wehrte Ignatz Auer Kritiken an einer ‘unangemessenen Machtstellung’ ab. Er begründete den Führungsanspruch in einem Artikel des „Berliner Volksblatts" mit dem Vereinsgesetz, wonach gewählte Kommissionen als eigenständige Vereine angesehen würden, die bei ‘Inverbindungtreten’ sofort und legal aufgelöst werden könnten. Anders ginge es nicht, und wenn jemand eine bessere Idee hätte, so „mögen die Herren Kritiker nur ihr Gehirn anstrengen und möglichst praktische Vorschläge aushecken, das wird der Partei viel dienlicher sein, als die Fraktion, deren Mitglieder doch sozusagen auch noch Parteigenossen sind, mit den albernsten und unbewiesenen – weil unbeweisbaren – Vorwürfen und Verdächtigungen zu behelligen" (zit. in SD, ebd.). Gustav Stengele (Wahlkreis Hamburg II) verlangte im Namen der Hamburger Genossen die Aufnahme einer Bestimmung in das Organisationsstatut, wonach die Fraktion nicht nur das Recht zur Teilnahme an Parteitagen bekommen, sondern dazu verpflichtet werden sollte (SPD-Protokoll 1890, S. 144).] , den Verhältnissen der Parteipresse [ Abgelehnt worden war in Halle der Antrag, der die Übernahme der gesamten sozialdemokratischen Presse in Parteibesitz forderte. Es fand sich lediglich eine Mehrheit für die Absicht, für das Zentralorgan und die von der Partei herausgegebenen Schriften eine eigene Druckerei zu errichten. Die Gewinne sollten der Partei zufallen (vgl. Kantorowicz 1922, S. 49ff.). ] und dem Parteiprogramm brachten in Halle mehrere Delegierte die aus ihrer Sicht zu spät erschienene und sehr zurückhaltende Maifeier-Erklärung der Fraktion zur Sprache. August Bebel wies die von den Berliner ‘Jungen’ vorgetragene Kritik zurück: „Die Hamburger haben den Kampf aufgenommen; nirgends ist die Arbeiterklasse so gut organisiert, so reich an Geldmitteln, wie in Hamburg; man hat den Kampf aufgenommen und ist unterlegen [...]. Nun will man einen Sündenbock haben, und der soll die Fraktion sein" (SPD-Protokoll 1890, S. 77).

Im Laufe des Parteitages geriet die Versammlungsleitung stark unter Kritik. Heinrich Dietz und Paul Singer hatten durch Redezeitbeschränkung und andere Eingriffe manche Kritiker in der Diskussion nicht mehr zu Wort kommen lassen. Erst nach massiven Protesten der Delegierten scheiterte Singers Versuch zum Beispiel, den Bericht einer Schiedskommission über den Konflikt zwischen der Fraktion und den Berlinern ohne Debatte anzunehmen – „möge er ausfallen, wie er will" (vgl. SPD-Protokoll, S. 276). Auffällig herablassend behandelten die Männer ihre Genossinnen, die gleiche Rechte für sich – auch in der Parteipresse – verlangten [Emma Ihrer kündigte auf eigene Faust das Erscheinen einer sozialdemokratischen Frauenzeitschrift an und übernahm auch die Redaktion des ersten Jahrgangs. „Die Arbeiterin" erschien in Hamburg im Verlag Fr. Meyer (Druck von .i. Jensen ;) bis Ende 1891 und wurde dann in Stuttgart durch die „Gleich-heit" fortgesetzt (siehe dazu Kap. 4.1). Finanzielle Unterstützung erhielt das Projekt zunächst durch Ihrers Ehemann, einen Apotheker aus Velten in der Nähe von Berlin (Frauenfrage 1930, S. 23f.; Juchacz 1957, S. 24).] . Die Versammlungsleitung griff nur zögernd ein, als ein Delegierter die Frauenzeitschriften mit ‘Kaffeekränzchenblättern’ verglich, und überhaupt nicht, als die Entgegnungen eines Redners auf die entsprechende Beschwerde einer Delegierten sich etwas ‘unter die Gürtellinie’ bewegten. Keine Zurechtweisung kam vom Podium, selbst dann nicht, als diese Entgleisung auch noch von ‘stürmischer Heiterkeit’ begleitet wurde (ebd., S. 235).

Nach dem Kongreß in Halle geriet Heinrich Dietz wieder einmal zwischen die parteipolitischen Fronten. Diesmal ging es um die Diskussion eines neuen Parteiprogramms. Der Entwurf lag – obwohl in St. Gallen schon eine Revision beschlossen war – noch nicht vor (SPD-Protokoll 1890, S. 181). Karl Kautsky engagierte sich sehr in dieser Frage (vgl. dazu Gilcher-Holtey 1986) und veröffentlichte im Januar 1891 einen Artikel von Friedrich Engels zusammen mit einem Brief von Karl Marx (Kritik am Gothaer Programm und an Lassalle). Die Korrektoren erzählten Heinrich Dietz von dem Artikel, der sich darüber sehr erregte. Bevor er den Text noch selbst gelesen hatte, verlangte er entsetzt von Kautsky, man sollte ihn vor dem Erscheinen dem Parteivorstand zur Begutachtung vorlegen (KK an FE, 13. 1. 1891, Engels/Kautsky 1955, S. 270). Doch Kautsky ließ sich nicht beirren, und ganz so schlimm war es wohl doch nicht gewesen, so daß Heinrich Dietz bloß um einige Korrekturen bat (ebd.). Engels ging auf die Wünsche ein, gab „sogar noch in der Einleitung etwas beruhigendes Morphin und Bromkalium" ein, was, wie er hoffte, „auf die elegische Stimmung unsres Freundes Dietz wohl die genügende schmerzstillende Wirkung ausüben wird" (FE an KK, 15. 1. 1891, ebd., S. 270f.).

Damit war es aber nicht getan. Wilhelm Liebknecht (der auch einen Programmentwurf erarbeitet hatte, gegen den in dem betreffenden polemisiert wurde) versuchte, zusammen mit dem offenbar gezielt falsch informierten August Bebel [ Erst später stellte sich heraus, daß Bebel der Brief von Liebknecht ein paar Tage vorenthalten worden war. ] die Auslieferung der entsprechenden Nummer der „Neuen Zeit" zu verhindern. Beide ‘fielen in Berlin über Dietz her und jagten ihn ins Bockshorn’, „so daß der telegraphiert, man solle die Versendung der N.Z. sistieren. Zum Glück war es schon zu spät" (KK an FE, 6. 2. 1891, ebd., S. 274). Wieder einmal wollte sich die Fraktion einmischen. Heinrich Dietz war zu der Zeit krank und für die Reichstagssitzungen beurlaubt (Sten. Ber. 1891, S. 1013 u. 1137). Ignatz Auer schrieb deswegen im Auftrage der Fraktion an Heinrich Dietz, die Abgeordneten erteilten der „Neuen Zeit" ‘eine strenge Rüge’ und kündigte an, die Angelegenheit würde im „Vor-wärts" veröffentlicht. „J.H.W. geriet darüber außer sich und beschwor mich [K.K., agr.], einen konzilianten Artikel zu schreiben. Er hoffe, dadurch die Veröffentlichung des Tadels verhüten zu können" (KK an FE, 18. 2. 1891, ebd., S. 278).

Trotz Karl Kautskys Bemühungen um einen versöhnlichen Ton gelang es aber nicht, die Fraktion zu beruhigen. Der Artikel im „Vorwärts" erschien, und Heinrich Dietz verlangte von Karl Kautsky auch noch, ihn kommentarlos in der „Neuen Zeit" abzudrucken. Dieses Ansinnen wies wiederum Kautsky scharf zurück. Er war sich ziemlich sicher, was zur Verurteilung durch die Fraktion geführt hatte: „Der gekränkte Lassalleanismus ist bloß der Schild, hinter dem sich die gekränkte Eitelkeit der Programmacher und ihrer Freunde versteckt. Ich bin überzeugt, daß viel weniger die Lassalleaner als Auer und Liebknecht gehetzt haben." Zum Glück aber repräsentierten die Fraktionsmitglieder nicht immer die Stimmung in der Partei, das „wissen wir von früher her" [ Schließlich war es Kautskys Programmentwurf, der auf dem Parteitag in Erfurt 1891 angenommen wurde (SPD-Protokoll 1891).] (ebd., S. 279).

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3.8.6. Umstellung auf die Legalität

Ab dem 1. Oktober erschien im Stuttgarter Dietz-Verlag die „Schwäbische Tagwacht" als legale Nachfolgerin des inzwischen schon dreimal wöchentlich herauskommenden „Schwäbischen Wochenblatts" [ Die ersten Redakteure der „Tagwacht" wurden Wilhelm Eichhoff und Johannes Geiger (Hildenbrand 1909). ] . Täglich rollte nun der rote Wagen der „Tagwacht" durch Stuttgarts Straßen. Heinrich Dietz amüsierte sich darüber, daß dieser Anblick ‘einen nationalliberalen Wüterich’ so ärgerte, daß er sich zu der bösen Drohung hinreißen ließ: „Wenn alle Stricke reißen, ‘so hänt mer noch Kanone’„ (Dietz 1909).

Die Stuttgarter Sozialdemokraten hatten das Sozialistengesetz mit einer Traueranzeige verabschiedet, unterzeichnet am 1. Oktober von den ‘trauernden Hinterbliebenen’ und „im Namen der Freundinnen" des Sozialistengesetzes (das waren der „Schwäbische Merkur" und die „Hamburger Nachrichten"): „Gestern Nacht, Schlag 12 Uhr, verschied im Alter von zwölf Jahren unsere innigst geliebte Tochter, Nichte und Freundin Sozialistengesetz. [...] Wer sie noch vor einigen Jahren sah, wie sie von Gesundheit und Jugendfrische strotzte und in ihrem Übermut alles zerschlug, zerbrach und zertrat, was ihr nicht behagte, der mußte von innigem Leid ergriffen werden, wenn er die Abgezehrte schwindsüchtig auf ihrem Krankenlager sah" (Schw. Tgw. 1890, 1. 10.). Den Abend zuvor hatte man kräftig gefeiert (Rieber 1984, S. 625). Jakob Stern führte anläßlich der „solennen [sic]Feier [...] beim Schlag der Mitternachtsstunde" unter ‘homerischem Gelächter’ der Anwesenden „ein blutrotes Taschentuch an seine Augen" und bat die die Feier überwachenden Polizisten übermütig, die Sozialdemokraten „auch ferner mit ihrem geschätzten Besuch zu beehren, zumal sie bei uns Vernünftigeres zu hören bekämen als bei den anderen Parteien" (Keil 1907, S. 7).

Vier Wochen nach dem Ende des Sozialistengesetzes, am 2. November, beschlossen die württembergischen Sozialdemokraten auf ihrer ersten ordentlichen Landesversammlung die Gründung der Landesorganisation und verabschiedeten ein zentralistisches Statut [ Im Gegensatz zum preußischen Recht war ein solches Statut nach dem württembergischen Vereinsgesetz erlaubt (Schadt/Schmierer 1979, S. 353; Christ-Gmelin 1976, S. 46).] . Heinrich Dietz, der die Versammlung leitete und ein Referat über ‘Unsere Parteipresse’ hielt (Steinmayer 1930), wurde einstimmig zum ‘Vertrauensmann’ der Landesorganisation gegenüber der Gesamtpartei gewählt („Berliner Volkszeitung", 6. 11. 1890). In der letzten Nummer des „Sozialdemokrat" hatten die Württemberger noch ihr Bedauern über eine geringe Organisationsdichte ausgedrückt. Aber nun hofften sie auf baldige Besserung, denn: „Wo unsere älteren Genossen früher, ja noch 1884 und 1887, mit Dreschflegeln und Prügeln empfangen wurden, werden wir heute mit Freuden aufgenommen, und wo vor ganz kurzer Zeit der Kriegerverein herrschend war, da macht ihm jetzt der Arbeiterverein das Feld streitig" (SD 12[1890]Nr. 39).

Der Stuttgarter Verlag und die Druckerei hatten sich erheblich vergrößert. Beide Geschäfte prosperierten sehr und nahmen inzwischen das ganze Haus in der Furtbachstraße ein. Der „Wahre Jacob" erschien in einer Auflage von 85.000 Exemplaren, schon die Auflage des „Schwäbischen Wochenblatts" war innerhalb eines Jahres von 4.000 auf 8.000 Exemplare gestiegen (KK an FE, 9. 4. 1890, Engels/Kautsky 1955, S. 253f.; Rieber 1987, S. 166, 424). Heinrich Dietz konnte es sich deshalb leisten, seinen Teil dazu beizutragen, ‘den versprengten Gliedern’ des „Sozialdemokrats" wieder „Heimat und Bürgerrecht zu verschaffen" (HD an JB, Belli 1978, S. 215).

Joseph Belli kam schon zum 1. Oktober in die Stuttgarter Druckerei zurück. Aus London holte man Leonhard Tauscher (er wurde Korrektor) und den Buchbinder Wilhelm Taute (Beier 1966, S. 403f.). Gegen Tauscher strengte Preußen gleich nach seiner Ankunft ein Verfahren an. Im November 1890 wurde der Haftbefehl erlassen. Heinrich Dietz holte Leonhard Tauscher aus dem Gefängnis und zahlte 6.000 Mark Kaution. Das Verfahren wurde im Dezember eingestellt (Schw. Tgw. 201910Nr. 136, 15. 6.).

Conrad Conzett schickte Anfang Oktober die Reste der noch in Zürich lagernden Schriftenvorräte nach Stuttgart. Gewohnheitsgemäß wollten die Württemberger Zöllner die Schriften beschlagnahmen, mußten sich von ihrem Vorgesetzten aber bedauernd sagen lassen: „Do kann mer nix mehr mache. S’ Gsetz isch gefalle!" (Belli 1978, S. 217) Die Restauflagen aber mußte die Stuttgarter Firma bezahlen, obwohl viele der Exemplare „ramponiert und daher unverkäuflich" waren. „Von Zürich übernahm ich seiner Zeit den gesamten Bestand der Bücher [...] Viel lieber wäre es mir gewesen, die äußerlich verdorbenen, von Mäusen angefressenen Bücher einstampfen zu können [ Heinrich Dietz meinte hier Friedrich Engels’ Buch „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft". 300 Exemplare waren inzwischen unbrauchbar und unansehnlich geworden. „Ich stellte eine Kollektion aus den Auflageresten zusammen, ließ sie binden und gab sie den Vereinen etc. zu einem ermäßigten Preise" (HD an FE, 2. 11. 1893, IISG, NL Marx/Engels, Korr. L 1154). ] – die Parteileitung ließ es nicht zu, sie wollte das Geld im Kasten klingen hören" (HD an FE, 2. 11. 1893, IISG, NL Marx/Engels, Korr. L 1154).

Schon im Frühjahr hatte Heinrich Dietz Karl Kautsky vorgeschlagen, für ein bis zwei Jahre wieder zu ihm nach Stuttgart zu kommen. Er selbst hatte so viel mit dem Geschäft zu tun und mußte außerdem noch die Druckerei in Hamburg betreuen. Alle diese Aufgaben und darüber hinaus noch die politische Tätigkeit sowie der Reichstag hielt ihn schließlich von einer konzentrierten Arbeit an der „Neuen Zeit" ab. Als Alternative schlug Heinrich Dietz vor, Karl Kautsky könnte sich einen anderen Verlag für die „Neue Zeit" suchen. Kautsky lehnte einen solchen Vorschlag ab, denn der jetzige Verleger war ihm „immer noch der tüchtigste, intelligenteste und anständigste" [ Auch der alte Streit war vergessen: „Und wenn ich Ursache zu klagen hatte, traf sie im Grunde nicht ihn, sondern die ungünstigen Verhältnisse, unter denen wir arbeiteten" (Kautsky in: Engels/Kautsky 1955, S. 254).] .

Heinrich Dietz wollte Karl Kautsky aber auch deswegen nach Stuttgart holen, weil er in ihm den ‘Cheflektor’ brauchte (KK an VA, 6. 4. 1892, Adler u.a. 1954, S. 87; Läuter 1965, S. 120), „der ihm hilft, Gutes zu finden und Schund abzulehnen. Jetzt hat er niemanden, dessen Rat er einholen könnte. In Stuttgart sitzt niemand als Blos, und der ist völlig versimpelt. Und Dietz hat den Ehrgeiz, einen Verlag zu haben, der sich sehen lassen kann" (KK an FE, 9. 4. 1890, Engels/Kautsky 1955, S. 254). Wie aus dem intensiven Briefwechsel der vorangegangenen sieben Jahre hervorging, waren sich Karl Kautsky und Heinrich Dietz sehr viel näher gekommen. Die anfänglichen Mißhelligkeiten waren (nahezu) ausgeräumt, die Zusammenarbeit und der Gedankenaustausch intensiver geworden. Heinrich Dietz erkannte später an, daß Karl Kautsky für die Bedeutung des Verlages in Stuttgart unentbehrlich war: „Wenn ich – wie Sie freundlich annehmen – auch für unsere sozialdemokratische Literatur etwas getan habe, so mag das wohl so sein, aber immerhin war das nur Kärrnerarbeit, die aber auch verrichtet werden muß. Der Verlag konnte seine Position nur erkämpfen durch die Mitarbeiter, von denen Sie an erster Stelle stehen" (HD an KK, 3. 1. 1900, IISG, K D VIII, Br. 267).

Friedrich Engels riet Karl Kautsky zu einem Umzug, nicht zuletzt deswegen, um den Einfluß auf den Dietz-Verlag zu erhalten: „Die „Neue Zeit" ist ein Machtposten geworden, den bis aufs Äußerste zu halten der Mühe wert ist; und ein Einfluß auf den gesamten Verlag von Dietz, der von jetzt an noch ein wichtigerer Hebel im Parteileben wird, als zur Zeit des Drucks, ist auch a consideration" (ein wichtiger Faktor; FE an KK, 11. 4. 1890, S. 256). Heinrich Dietz schlug Kautsky vor, die „Neue Zeit" in erweiterter Form erscheinen zu lassen. Das hätte auch den Vorteil, längere Artikel, die bis dahin über mehrere Hefte verteilt werden mußten, nun zusammenhängend veröffentlichen zu können. Es wäre außerdem zu erwarten, schrieb er an Karl Kautsky, daß „mehrere ausgezeichnete Kräfte durch die Wandlung der Dinge freigesetzt werden, Sie müssen ihre Arbeitskraft zu verwerten suchen. In erster Linie nenne ich August und Bernstein. Um diese nun zu gewinnen und dazu auch die Möglichkeit, ihnen ein anständiges Einkommen zu sichern, entstand bei mir der Plan der Erweiterung der Neuen Zeit." Mit diesem Hinweis wollte er wohl den Redakteur beruhigen. Denn zunächst argwöhnte Kautsky einen erneuten Angriff auf seine Tätigkeit und die Existenz der „Neuen Zeit" (HD an KK, 11. 6. 1890, IISG, K D VIII, Br. 201).

Wenig später wurde auch Clara Zetkin in Stuttgart beschäftigt (Herrmann/Emmrich 1989, S. 461). Karl Kautsky, der dringend Hilfe bei der „Neuen Zeit" und der „Schwäbischen Tagwacht" brauchte, an der er auch mitarbeitete, hätte sie gern in seiner Redaktion gehabt, aber das war nicht so einfach: „Die Zetkin, die ich auch erwog, paßt Dietz nicht recht" [ Anders stellte sich der Sachverhalt bei Herrmann/Emmrich dar: Clara Zetkin war nach dem Tode ihres Lebensgefährten krank und mittellos nach Deutschland zurückgekehrt. Durch August Bebels Vermittlung konnte sie sich in einem Sanatorium etwas erholen. „Danach hatte ihr Heinrich Dietz Arbeit in seinem Verlag angeboten" (1989, S. 461). ] (KK an FE, 8. 9. 1890, Engels/Kautsky 1955, S. 260). Keiner der von ihm vorgesehenen Redakteure verspürte so rechte Lust, nach Stuttgart zu kommen (ebd., S. 263, FN 3).

Die Stuttgarter Druckerei hatte enormen Erfolg und expandierte noch stärker, als bis dahin erwartet worden war: „Obgleich Dietz ein dreistöckiges Haus [ Gemeint war das Haus in der Furtbachstraße 12.] für das Geschäft erworben und dasselbe durch Zubauten möglichst erweitert hat, genügt es nicht mehr. Er muß immer Überstunden arbeiten, und trotzdem reichen seine Maschinen nicht aus. Bebels „Frau" muß aus diesem Grund auswärts hergestellt werden" (KK an FE, 21. 12. 1890, Engels/Bebel 1955, S. 266f.). Die „Neue Zeit" steigerte die Auflage weit über die erhofften 6.000 hinaus auf 10.000 Exemplare, nachdem der „Sozialdemokrat" nicht mehr erschien. Ihr ‘Sättigungs-grad’ war damit immer noch nicht erreicht, und Karl Kautsky beschäftigte in Stuttgart inzwischen drei weitere Redakteure.

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3.8.7. Rückgabe der Hamburger Druckerei an die Partei

„Während die meisten Parteidruckereien der Bismarckischen Brutalitätspolitik in kurzer Zeit zum Opfer fielen, verstand es Dietz, die Schläge geschickt zu parieren, und als der unbequeme Mann dann als gemeingefährlich aus Hamburg ausgewiesen wurde, hatte er schon alles derart organisiert [...], daß dem Geschäft zwar Schwierigkeiten bereitet, es aber nicht mehr glattweg vernichtet werden konnte. Wie es sich in der Folge entwickelte, wie es aus den Kellerräumen in der Amelungstraße in das eigene Haus in der Großen Theaterstraße zog, und wie es jetzt als einer der größten Betriebe seiner Zeit dasteht, das wissen unsere Genossen" (Echo 1913).

Die Hamburger empfingen Heinrich Dietz „mit nicht endenwollenden Hurrahrufen und Hüteschwenken", als er auf einer Volksversammlung am 1. Dezember 1890 zum Thema Arbeiterschutzgesetz sprach. Der Saal war überfüllt: 4.000 Menschen hatten Einlaß gefunden. Heinrich Dietz dankte für das Wohlwollen, „welches er nicht auf seine Person, sondern auf die Sache, die er vertrete, in Anrechnung gebracht wissen" wollte („Hamburger Fremdenblatt" 1890, Nr. 281, 2. 12.). Er berichtete über den Stand der Verhandlungen im Parlament, über die Änderungen, die schon hätten durchgesetzt werden können: das Verbot der Arbeit noch schulpflichtiger Kinder, den zehnstündigen Arbeitstag für Mädchen und den elfstündigen Arbeitstag sowie das Nachtarbeitsverbot für Frauen sowie die Verlegung des Berufsschulunterrichts in die Arbeitszeit. Er forderte die Anwesenden, Arbeiter und Handwerker auf, „die sozialdemokratische Fraktion des Reichstags kräftig zu unterstützen, wenn man eine bessere Gesetzgebung zum Wohle der Gesamtheit anstreben wollte. (Stürmischer Beifall)" (ebd.). Die Versammlung endete mit Hochrufen auf Dietz, nachdem zum Schluß die Arbeitermarseillaise gesungen worden war.

Die Hamburger Druckerei und Verlagsanstalt von J.H.W. Dietz wurde nun offiziell der Partei zurückgegeben [ Heinrich Dietz hatte aber noch jahrelang mit der Hamburger Druckerei und dem Verlag Verbindung. Wie aus dem Briefwechsel mit Karl Kautsky hervorgeht, fuhr er häufiger nach Hamburg, um dort ‘nach dem Rechten zu sehen’ (vgl. auch StAH S 149/63).] (ESZ 1981, S. 16) und der ‘Eigentümer’ Heinrich Dietz 1890 aus dem Handelsregister gelöscht. Das „Hamburger Echo", das die Hamburger Partei nach Johannes Weddes Tod übernommen hatte, erschien vom 1. Januar 1891 an als Organ der Gesamtpartei. Deren Vorstand, vertreten durch Ignatz Auer, August Bebel, Karl Hermann Förster und Paul Singer [ Die Übernahme des Anteils in den Besitz des Parteivorstandes nach Paul Singers Tod war nicht problemlos (AB an Reinhard Bérard, 23. 11. 1911, IML, NL Bebel, 22/128). Im Geschäftsbericht der Firma Auerdruck wird Wilhelm Dietz [sic] unzutreffend als einer der Geschäftsträger genannt (Auerdruck 1948, S. 5).] , übernahm auch die Druckerei [ Das Geschäft, zunehmend noch erfolgreicher durch Reinhard Bérard geleitet, trug dann den Namen ‘Druck- und Verlagsanstalt Auer & Co.’ (vgl. StAH S 1365 [Bd. 22]). Als solche existierte sie weiter – mit der von den Nationalsozialisten erzwungenen Unterbrechung - , bis die Sozialdemokraten 1979/80 die dort hergestellte „Hamburger Morgenpost" aufgaben. Eingetragen ist die Firma immer noch (HA 1979; DIE WELT 1980; Amtsgericht Hamburg, HR B4180). Im April 1891 forderte die Firma ehemalige Anteilseigner der Genossenschafts-Buchdruckerei auf, ihre Darlehensscheine zur Einlösung vorzulegen, sie hätten die Nachfolge der von J.H.W. Dietz betriebenen Druckerei angetreten und damit auch alle Verpflichtungen übernommen (HE 5[1891], Nr. 91, 19. 4.).] . Mit der Übertragung an den Parteivorstand war die Hamburger Parteibasis gar nicht einverstanden, und es begannen längere Auseinandersetzungen um eine angemessene Gewinnbeteiligung an den Einnahmen, insbesondere an denen des sehr erfolgreichen „Echos" („Berliner Volkszeitung", 28. 12. 1890 und 1. 1. 1891). Schließlich waren es die einfachen Parteigenossen gewesen, die die Existenz des Unternehmens durch ihre Opferbereitschaft gesichert hatten, so argumentierten die Hamburger. Und knauserig gegenüber der gesamten Partei hatten sie sich nun wirklich nicht verhalten, sondern ständig geholfen, als es nötig war [ „Vom Jahre 1884 ab [...] kam [die Hamburger Deputation] stets mit Mammon beladen an, und fünftausend Mark war das mindeste, was sie jedesmal der Kasse zuführte" (Bebel 1914, S. 162).] (StAH, V 328, Bd. 1, 18. 6. 1892).

Obwohl Heinrich Dietz in all den Jahren unter dem Ausnahmegesetz seine Aufgabe als legal operierender Parteiverleger so ausgezeichnet bewältigte und sich auch in keiner Weise geschont hatte, war seine Zukunft wieder einmal ungewiß, denn nach dem Fall des Ausnahmegesetzes ordnete die Sozialdemokratische Partei ihre wirtschaftlichen Angelegenheiten ganz generell. Dabei war auch eine Übernahme des Stuttgarter Verlags in offiziellen Parteibesitz im Gespräch. Für Heinrich Dietz war nun grundsätzlich zu entscheiden, „ob in unserer Partei Privatbuchhändler und Buchdrucker existenzberechtigt sind oder nicht." Er forderte ein prinzipielles ‘Entweder-Oder’. Denn, so stellte er fest: „Ist das nicht der Fall, so bin ich gezwungen zu liquidieren und eine Stelle als Arbeiter zu suchen, da mir eine selbständige Stellung in meinem Gewerbe nicht gestattet ist [ Die gesetzlichen Vorschriften gestatteten die Führung einer Druckerei nur einem gelernten Buchdrukker, Heinrich Dietz war Schriftsetzer. Aber sein Sohn Fritz war Buchdrucker.] . Als Beamter würde ich nicht in die Partei eintreten können, was dann auch wohl kaum ernstlich verlangt werden wird" [ Heinrich Dietz wollte also kein Parteiangestellter werden.] (HD an WL, 15. 12. 1890, IML, NL Liebknecht, 34/18).

Die Ungewißheit bis zur endgültigen Entscheidung des Parteivorstandes machte ihm große Sorgen. Ihn beunruhigte auch, daß er möglicherweise seine ‘Geschäftsfreunde’ in Schwierigkeiten bringen könnte (HD an WL, ebd.). Schließlich mußte er damit rechnen, nach getaner Schuldigkeit nun entlassen zu werden: „die Campe, Pethes, Wigand, Meißner etc. werden die Sachen schon machen." Bis das gut florierende Stuttgarter Unternehmen offiziell in den Besitz der Partei überging, dauerte es dann noch mehr als fünfzehn Jahre. Zunächst aber versuchte Heinrich Dietz, eine Neubearbeitung von Bebels „Frau" noch vor Weihnachten 1890 fertigzustellen. August Bebel beklagte sich bei Victor Adler, er hätte so viel zu tun, und die Überarbeitung machte ihm ‘unendliche Mühe’: „Dietz steht hinter mir und treibt, er will zu Weihnachten damit heraus, was fast unmöglich ist" (AB an VA, 17.11. 1890, Adler 1954, S. 63).

Ende 1890 zog Bebel mit seiner Familie endgültig nach Berlin (AB an VA, ebd.). Ignatz Auer folgte, und auch Wilhelm Liebknecht konnte zur Übersiedelung überredet werden – man brauchte ihn dringend in der Redaktion des „Berliner Volksblattes" (Bebel/Kautsky 1971, S. XXII). Als sich das Parteizentrum so deutlich nach Berlin verlagerte, hätte Karl Kautsky die „Neue Zeit" auch gern in Berlin erscheinen lassen, das konnte er aber bei Heinrich Dietz nicht durchsetzen. Kautsky bedauerte, in Stuttgart festzusitzen: „Hier ist niemand, der mich geistig anregen könnte", beklagte er sich seinerseits bei Victor Adler in Wien. „Leider will Dietz von einer Verlegung der N.Z. nach Berlin nichts wissen. Es ist geradeso, als wenn man die Arbeiterzeitung in Iglau erscheinen ließe" (KK an VA, 29. 11. 1890, Adler 1954, S. 65).

Recht bald sollte sich zeigen, daß der Stuttgarter Verlag seine Rolle als geistiger Mittelpunkt der Partei mit dem Ende des Sozialistengesetzes verloren hatte.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1998

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