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Cornelia Domaschke/Birgit Schliewenz
Zur Genesis national-ethnischer Konflikte in Ex-Jugoslawien


Wenige Wochen nach dem Unabhängigkeitsreferendum in Bosnien-Herzegowina (29.2./1.3.1992), das von Westeuropa ausdrücklich gefordert wurde, um die ehemalige jugoslawische Teilrepublik international als unabhängigen Staat anzuerkennen, eskalierte der national-ethnisch motivierte Krieg in dieser Republik. Er dauert nunmehr drei Jahre und sieben Monate. Der Waffenstillstand, der am 9. und dann am 10.10.1995 um 24.00 Uhr in Kraft treten sollte, verzögert sich noch immer.

Den Krieg in Kroatien, ebenfalls eine ehemalige Republik des einstigen jugoslawischen Bundesstaates, mitgerechnet - er hatte nach der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens vom 25.6.1991 begonnen und erst der 15., wenn auch brüchige Waffenstillstand vom 3.1.1992 brachte der Republik bis zum Sommer diesen Jahres eine längere Atempause - dauern die militärisch ausgetragenen Konflikte nunmehr vier Jahre und vier Monate. Zum Vergleich: Der Zweite Weltkrieg dauerte vier Jahre und acht Monate.

EG/EU, UNO, NATO, weitere internationale Organisationen, namhafte Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaft bemühen sich seit Ausbruch der Waffengänge in ungezählten Maßnahmen und Vermittlungsversuchen um die Beendigung bzw. wenigstens Eindämmung dieses Krieges mitten in Europa.

Die außerordentlich komplizierte und komplexe „Genesis national-ethnischer Konflikte in Ex-Jugoslawien" kann an dieser Stelle nicht detailliert dargestellt werden. [Fn *: Weitergehende Ausführungen sind enthalten in: C. Domaschke/B. Schliewenz: Spaltet der Balkan Europa?, Aufbau Taschenbuch Verlag Berlin 1994.] Zugleich kann, wie wir meinen, der Krieg im ehemaligen Jugoslawien nicht losgelöst von den gravierenden Veränderungen in Europa betrachtet werden, wie sie sich seit dem Herbst 1989 vollzogen haben und weiter vollziehen sowie von den Besonderheiten der Balkanre-

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gion in Geschichte und Gegenwart. Wir möchten Ihnen daher unser Diskussionsangebot thesenhaft unterbreiten.

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1. Nationalismus im postsozialistischen Osteuropa

Die Renaissance des Nationalen im Osten Europas wurde begrüßt, als es gegen den Kommunismus mobilisiert wurde. Doch die Euphorie vom Herbst 1989 schlug rasch in Hilflosigkeit um. Illusionär waren:

Erstens die Vorstellungen über die Möglichkeiten und Fristen, das ökonomische und soziale Desaster zu überwinden;

Zweitens die Annahme, der Sturz der bisherigen Diktaturen würde automatisch stabile und demokratische politische Systeme hervorbringen.

Drittens wurde das sowohl vor als auch während der sogenannten sozialistischen Zeit gewachsene und in Nationalismus umgeschlagene nationale Konfliktpotential total unterschätzt.

Dieser Nationalismus entwickelt sich mit konkretem Bezug auf die nationale Frage und muß - unserer Meinung nach - definitorisch abgegrenzt werden vom positiven, konsolidierenden Charakter der Nationalbewegung vergangener Jahrhunderte. In Teilen Osteuropas gehört die nationale Frage zu jenen Grundproblemen, deren Bewältigung zwar über Jahrzehnte festgeschrieben, die aber nicht annähernd gelöst wurde:

So hat z.B.

  • die Ost-West-Blockkonfrontation die zahllosen nationalen Konfliktfelder für Jahrzehnte nur überlagert.
  • Die Regime sorgten bis zu ihrem Sturz für die Verschleierung und administrative Unterdrückung nicht bewältigter nationaler Probleme.
  • Untauglich war der Versuch, von Zeit zu Zeit punktuell aufflammende und nicht zu verheimlichende national motivierte Auseinandersetzungen - auch ernsthafte zwischenstaatliche Diskrepanzen - als nicht systemimmanent zu bagatellisieren.
  • Entgegen der verfassungsmäßig verankerten Gleichheit und der verordneten Völkerfreundschaft von Angehörigen der Titularnationen und

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    der Minderheiten waren die Angehörigen der Titularnationen doch stets „gleicher" als die der Minderheiten. Mit administrativen Mitteln bis hin zu Assimilierungsversuchen wurde das in der Praxis durchgesetzt.

Bei allem Wunschdenken von heute: Der Nationalbildungsprozeß, der sich in Westeuropa über Jahrhunderte erstreckte, kann und wird sich im östlichen Teil des Kontinents so nicht wiederholen. So wie das Experiment, von zumeist weitgehend vorkapitalistischen Verhältnissen zu einer den westlichen Nationen überlegenen Gesellschaft springen zu wollen, ausnahmslos fehlgeschlagen ist, gilt gleiches auch für die Herausbildung dauerhafter, relativ stabiler Staatengebilde. Das trifft insbesondere auch auf die ehemals sozialistische Balkanregion zu, zu allererst auf Ex-Jugoslawien.

In Verbindung mit ökonomischem Chaos, sozialem Notstand, politischen Machtkämpfen und fehlenden Konzepten für einen gesellschaftlichen Neubeginn bedienen sich gerade hier Mehrheiten wie Minderheiten des Nationalismus als Werteersatz, Ersatzideologie und -politik. Historisch und/oder ethnisch „begründet" scheint er ein „ideales" Mittel, um

  1. Ersatz für verlorene Feindbilder zu schaffen;
  2. von der eigenen ökonomischen und sozialen Misere abzulenken;
  3. territorial und ressourcenmäßig den eigenen Spielraum zu erweitern.


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2. Zur jüngeren Genesis des Krieges in Ex-Jugoslawien

Als sich die politische Wende in Osteuropa abzuzeichnen begann, waren im ehemaligen jugoslawischen Bundesstaat schon weit fortgeschrittene Desintegrationserscheinungen und Konfliktverschärfungen offensichtlich.

Im Widerstreit mit zentralistischen serbischen Bestrebungen, die seit der Gründung des ersten Jugoslawiens (1918, damals noch Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen) existierten und stets latent vorhanden waren, standen seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre die auf Verstärkung konföderativer Elemente abzielenden Intentionen Sloweniens. Möglicherweise waren sie schon frühzeitig mit Sezessionsabsichten verbunden. Die Führung der Republik Sloweniens löste im September 1989

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eine gesamtjugoslawische Verfassungskrise aus, nachdem das Parlament durch eine Verfassungsänderung die Möglichkeit des Austritts der Republik aus dem jugoslawischen Staatsverband sanktionierte. Ein halbes Jahr zuvor (März 1989) hatte die serbische Führung durch Änderungen in ihrer Republiksverfassung de facto den Autonomiestatus seiner nördlichen und südlichen Provinz - Vojvodina und Kosovo - beseitigt.

Im Januar 1990 hatte die slowenische Delegation dann den XIV. (außerordentlichen) Parteitag des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ) verlassen. Ihr Antrag, Jugoslawien in einen losen Bund von im wesentlichen selbständigen Republiken umzuwandeln, war abgelehnt worden. Das Ende des BdKJ - einst eine der lebenswichtigen inneren Klammem des jugoslawischen Bundesstaates - war nur noch eine Frage der Zeit. Die äußeren Klammern - die bisherigen internationalen Rahmenbedingungen - hatten sich seit Herbst 1989 im Nichts aufgelöst. Jugoslawien gehörte zwar nicht zur sogenannten sozialistischen Staatengemeinschaft, dennoch blieben die gesellschaftlichen Umbruchprozesse in Osteuropa - der Untergang der DDR, der Zerfall der Sowjetunion, die seit 1948 (Kominformkonflikt) als ständige Bedrohung für die territoriale Integrität und Souveränität Jugoslawiens angesehen wurde, irreparable Auflösungserscheinungen beim Warschauer Pakt und beim Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON) - nicht ohne Rückwirkungen auf die politische, sicherheitspolitische und ökonomische Lage des Bundesstaates. Seine bevorzugte Stellung in der Wirtschaftskooperation mit der Europäischen Gemeinschaft (EG) büßte Jugoslawien in einer Situation sich permanent verschärfender Krisen im Innern des Landes ein. Der letzte gesamtjugoslawische Premier, Ante Markovic, hatte sich vergeblich um eine wirtschaftliche Stabilisierung bemüht. Doch die seit längerem sichtbare Tendenz - Republiksinteressen vor Bundesinteressen zu stellen - wies schon irreparable Züge auf. In dieser Hinsicht war die Verfassung von 1974 bereits zu einem Synonym für einen Wendepunkt in der bisherigen Geschichte Jugoslawiens geworden. Einerseits wurden die Rechte der Republiken und autonomen Gebiete mit dieser Verfassung außerordentlich erweitert, was von vorn herein mit den zentralistischen Neigungen des Einparteienstaates kollidierte. Andererseits öffneten die auf Kosten der Föderation durchgesetzten konföderativen Verfassungselemente der ökonomischen und politischen Konfrontation zwischen Republiken und Provinzen Tür und Tor. Bereits ein Jahr nach Inkrafttreten der Verfassung von 1974 hatten sich

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Vorwürfe von Serbien einerseits und Slowenien und Kroatien andererseits gehäuft, sich auf Kosten der jeweils anderen Republik zu entwickeln. Und es gab ein Sprichwort in Jugoslawien: „Die Slowenen bezahlen, die Kroaten diskutieren und die Serben regieren!"

Mehr wirtschaftliche Effektivität war durch den stärkeren Föderalismus jedenfalls nicht erzielt worden. Auch die gegenüber allen anderen osteuropäischen Staaten weitaus gewichtigere Zusammenarbeit mit Westeuropa (Handels- und Kooperationsabkommen mit der EG seit 1980) während der Zeit der Ost-West-Blockkonfrontation änderte daran nichts. Das nach wie vor bestehende Nord-Süd-Gefälle in der sozialökonomischen Entwicklung hatte sich sogar wieder verfestigt und vertieft. Verhängnisvoll sollte sich nach Titos Tod - der politischen Integrationsfigur Jugoslawiens - zugleich die Schaffung eines kollektiven Staatsoberhaupts mit jährlich wechselndem Vorsitz, die extreme Verkürzung von Mandatszeiten in allen Führungspositionen und das Zurückstellen von Bundesinteressen gegenüber Republiksinteressen auswirken. Die sich permanent verstärkenden Desintegrationserscheinungen waren schließlich mit den ersten freien Wahlen von 1990 (April bis Dezember) nicht mehr aufzuhalten. Sie fanden in allen Republiken, nicht aber auf Bundesebene statt. Bei diesen Wahlen hatten neu entstandene, gesamtjugoslawisch orientierte Bewegungen keine Chance. In allen Republiken siegten national oder nationalistisch motivierte Kräfte, unabhängig davon, ob sie sich nun „Demokraten" oder „Sozialisten" nannten. Ein besonderer Fall war Bosnien-Herzegowina: „Spötter sagen, die Wahlen (in dieser Republik), die ... auf der Grundlage des Verhältniswahlrechts stattfanden, hätten die Funktion einer Volkszählung erfüllt." [Fn 1: Zitiert nach J. Reuter 1992, S. 3.] 201 von 240 Sitzen entfielen entsprechend der nationalen Bevölkerungsanteile (Volkszählung von 1991: 43,7% Moslems, 31,4% Serben, 17,3% Kroaten) [Fn 2: Vgl. H. Büschenfeld 1992, S. 1100.] und dem Wählerverhalten auf die nationalen Parteien: Partei der Demokratischen Aktion (Moslems) 86 Sitze, Serbische Partei 70 Sitze und Kroatische Demokratische Gemeinschaft 45 Sitze.

Slowenien hatte praktisch seit Herbst 1989 Schritt für Schritt seinen Austritt aus dem Bundesstaat Jugoslawien vorbereitet. Kroatien zog nach.

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Keine noch so scharfe Ermahnung aus dem Lager der EG - und es gab derer viele, auch wenn das heute verschwiegen wird - konnte die beiden Teilrepubliken von ihren Sezessionsabsichten abhalten. Übrigens zu diesem Zeitpunkt war auch Alija Izetbegovic ein Gegner der kroatischen und späteren bosnischen Sezession.

Am 25.6.1991 waren mit den Unabhängigkeitserklärungen die Würfel gefallen - Krieg in Slowenien und Kroatien mit unterschiedlich langen Phasen bis zur Beendigung bzw. vorübergehenden Stillegung. In Bosnien-Herzegowina eskalierten Nationalismus und Ethnozentrismus im April 1992, einen Monat nach dem Unabhängigkeitsreferendum und unmittelbar nach der Anerkennung des „unabhängigen" neuen Nachfolgestaates durch die EG-Staaten und die USA, mit der ein weiterer Krieg in Ex-Jugoslawien eigentlich verhindert werden sollte.

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3. Der Krieg begann in den Köpfen

Animositäten zwischen unterschiedlichen Volksgruppen eines Staates sind durchaus keine Seltenheit. Aus eigener Erfahrung kennen z.B. ehemalige DDR-Bürger Feindseligkeiten zwischen Sachsen, Preußen, Mecklenburgern. Der Frust auf die Berliner, wo in unserer einstigen Mangelwirtschaft alles hinfloß, ist noch nicht vergessen. Daß man aber untereinander und gegeneinander Krieg führt, war und ist nicht vorstellbar. Diese Vorstellung hatten sicher auch die unterschiedlichen Nationalitäten und ethnischen Gruppen im ehemaligen Jugoslawien nicht, selbst wenn sie sich in der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs sowie in vorangegangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten gegenseitig viel Leid angetan hatten.

Das allmähliche Zusammenwachsen der Völker des einstigen Jugoslawien (und zwar von unten) in einer Reihe von Nachkriegsjahrzehnten sollte aber auch und gerade wegen des ausgebrochenen und extrem grausam geführten Krieges nicht in Vergessenheit geraten. Mehrfache persönliche Besuche in der serbischen Provinz Kosovo zwischen 1980 bis 1988 brachten die Erfahrung mit sich, daß es zahlreiche Beispiele nicht nur des friedlichen Nebeneinanders sondern auch Miteinanders gab. Das trifft wohl auf andere Regionen des ehemaligen Jugoslawiens ebenso zu, insbesondere auch auf Bosnien-Herzegowina. Ein in Berlin-Hellersdorf tätiger

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gemeinnütziger Verein zur Unterstützung der Kriegsflüchtlinge in der Stadt Tuzla weiß von zahllosen Beispielen zu berichten, wie bosnische Moslems, Serben und Kroaten gemeinsam versuchen, sich in den Wirren des Krieges zurechtzufinden und zu überleben. Und gerade Bosnien-Herzegowina galt zu Zeiten des jugoslawischen Nachkriegsstaates nicht nur aufgrund seiner einstigen Bevölkerungsstruktur als „Jugoslawien im Kleinen". In dieser Republik war der Anteil der Mischehen zwischen 1950-1976 von 7,4% auf 17,9% gestiegen, während er im Landesdurchschnitt 12,5% betrug. [Fn 3: Vgl. Wissenschaftlicher Dienst Südosteuropa 1980, S. 162.] Wie also konnte es dazu kommen, daß Angehörige von Volksgruppen, die untereinander geheiratet haben, was in den weitläufigeren familiären Beziehungen logischerweise zu einer noch höheren prozentualen Vermischung von Nationalitäten und Ethnien führte, sich regelrecht abschlachten?

Wir meinen, daß eine wie auch immer geartete Verkürzung der Ursachen des Massakers in Ex-Jugoslawien unzulässig ist. Es ist weder auf Deformationen der sogenannten realsozialistischen Entwicklung zu reduzieren, noch auf den Komplex widersprüchlicher historischer Traditionen und verspäteter sozialökonomischer sowie national-kultureller Entwicklungen in der Balkanregion, die sich gerade in Ex-Jugoslawien wie in einem Brennglas bündeln. Auch die Analyse der vielfältigen internationalen Abhängigkeiten in Geschichte und Gegenwart, ob nun als Okkupationsgebiet, Einflußsphäre oder in Form nicht unparteiischer Unterstützung der einen oder anderen Konfliktpartei, wird einer umfassenden Ursachenerforschung nicht gerecht. Dieser Krieg ist trotz aller Versäumnisse oder auch Fehler, die in der internationalen Jugoslawienpolitik gemacht wurden, vorrangig hausgemacht. Er begann in den Köpfen und wurde Realität, weil er in den Köpfen von oben längerfristig provoziert wurde.

Als erstes repräsentatives Dokument des wiedererwachten serbischen Nationalismus gilt allgemein die Petition von 212 namhaften serbischen Intellektuellen vom 21.1.1986 an die Parlamente Jugoslawiens und Serbiens, in dem gegen die Kosovo-Albaner mobil gemacht wurde. In einem weiteren Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste Ende September 1986 wurden bereits „Feinde" des serbischen Volkes in ganz Jugoslawien ausgemacht. Spätestens anläßlich des 600.

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Jahrestages der historischen und verlorenen Schlacht der Serben gegen die Osmanen auf dem Amselfeld am 28.6.1989 (gelegen in der Provinz Kosovo, die zu ca. 90% von Albanern bewohnt wird), wurde der serbische Nationalismus von oben auch in der offiziellen Politik wieder ganz offen betrieben. Die Botschaft von Serbiens Präsident Slobodan Milosevic auf der Massenveranstaltung am historischen Ort lautete: „Wo Serben in der Vergangenheit lebten, ist auch heute Serbien!" Im Oktober 1993 haben wir erstmals in den uns bekannten Quellen das öffentliche politische Bekenntnis des bosnischen Serbenführers Radovan Karadzic für die Bildung eines Großserbien gefunden.

Wir möchten aber nicht stehenbleiben bei der in zahlreichen Medien suggerierten Meinung, daß allein und ausschließlich der serbische Nationalismus schuld ist am Auseinanderbrechen des einstigen jugoslawischen Bundesstaates und am Krieg zwischen einst in diesem Staat vereinten Nationen, Nationalitäten und Ethnien.

Der Vorsitzende des bosnischen Parlaments, Alija Izetbegovic, wurde sowohl 1946 als auch 1983 wegen „panislamischer Bestrebungen", bzw. innerhalb Jugoslawiens eine „islamische Republik" installieren zu wollen, inhaftiert. Wie im sogenannten Sozialismus mit Systemkritikern verfahren wurde, ist bekannt und die Inhaftierung von Izetbegovic läßt noch keinen Schluß auf seine politische Einstellung, in diesem Falle in bezug auf die nationale Frage, zu. Mehr Aufschluß darüber gibt seine Islamische Deklaration, die er bereits 1970 verfaßte und die 1990 in Sarajevo neu autorisiert herausgegeben wurde. Häufig wird sie als seine politisch-ideologische Plattform bezeichnet und kann durchaus als Aufruf zur Islamisierung Bosnien-Herzegowinas gewertet werden.

Kroatiens Präsident, Franjo Tudjman, von Hause aus Historiker und Politikwissenschaftler, gilt als selbstherrlicher Diktator, der die Verbrechen der kroatischen Faschisten im Zweiten Weltkrieg herunterzuspielen sucht. Für Tudjman bilden Kroatien und Bosnien-Herzegowina eine geopolitische Einheit. Er bekannte sich mehrfach zu Okkupationsabsichten sowie zu Nationalismus und Rassismus. So ist er beispielsweise stolz, weder mit einer Serbin noch mit einer Jüdin verheiratet zu sein, wie er es in Wahlkampfveranstaltungen verkündete. Unter seiner Präsidentschaft herrschen Gesinnungsterror, Verbot kritischer Zeitungen, Gewalt gegen Andersdenkende, Diskriminierung von Minderheiten und „ethnische Säuberungen" in

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Größenordnungen. Symbole des einstigen faschistischen kroatischen Staates werden mit durchschlagendem Erfolg verkauft.

Wir vertreten die These, auch wenn es derzeit nicht den Anschein hat, daß der eigentliche Konflikt nicht der zwischen bosnischen Moslems, bosnischen Kroaten und der Republik Kroatien auf der einen Seite und bosnischen Serben, die gegenwärtig nicht öffentlich von der Republik Serbien unterstützt werden, auf der anderen Seite ist. Unserer Meinung nach ist der primäre Konflikt der zwischen Serbien und Kroatien um die Vorherrschaft in der Region des ehemaligen Jugoslawien, obwohl das Hauptschlachtfeld sich seit 1992 in Bosnien-Herzegowina befindet.

Bereits in der Endphase des jugoslawischen Bundesstaates tauchten in Serbien Karten von einem Großserbien auf, das neben Serbien, der Vojvodina, Kosovo und Montenegro auch Bosnien-Herzegowina, Teile Mazedoniens und Kroatiens umfaßte. Aber, Gelüste nach einem Großkroatien, das bis an die Tore Belgrads reicht, sind ebenfalls kein Geheimnis. Der kroatische Autor Stipe Suvar schrieb dazu schon 1972: „Eine der typischen Reaktionen des kroatischen Nationalismus ist, die größere Kultur der kroatischen Nation gegenüber anderen zu beweisen - was eine Lüge, ein Stereotyp, ein Mythos ist. Gleichfalls muß der serbische Nationalismus seit jeher die Serben als heldisches, tapferes, unbeugsames Volk herausstreichen. Den kroatischen Nationalisten dient also die Kultur, den serbischen das Waffengeklirr als Kompensation. Die Kroaten verlangen seit 1971 einen separaten Nationalstaat; denn mit dessen Stärke können wir Kroaten uns dagegen schützen, daß uns die Serben infiltrieren, verschlingen, assimilieren, die Sprache wegnehmen usw. Der serbische Nationalismus will ein Großserbien... Worauf der kroatische Nationalismus mit Thesen antwortet, daß die Slowenen Alpen-Kroaten sind, die Muslime Dialekt-Kroaten, die Serben bis zur Drina orthodoxe Kroaten, die Montenegriner Ost-Kroaten. Also auch die kroatischen Nationalisten würden ihren erträumten Nationalstaat gern mindestens um einen Teil Sloweniens, ganz Bosnien-Herzegowina, Süd-Montenegro, Nord- und Mittelserbien abrunden." [Fn 4: Zitiert nach W. Oschlies 1992, S. 5.]

Generell meint man in Kroatien, daß diese Republik die Grenze der westliche Zivilisation und des Katholizismus sei. In Serbien dagegen herrsche

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von jeher die östliche Barbarei. Gleichzeitig grenzen sich Serben von den Moslems ab und verstehen sich als letzter Schutzwall gegen den Islam. Und in Slowenien ist man der Auffassung, daß diese einstige jugoslawische Teilrepublik mehr oder weniger durch einen Zufall der Geschichte auf den Balkan geraten sei.

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4. Zum Zusammenhang von national-ethnischer Heterogenität und Schärfe von Konflikten im Falle vollzogener Abspaltung

Der Zusammenbruch des Bundesstaates Jugoslawien hat komplexe Ursachen - historisch weiter und näher zurückliegend, ökonomische, politische, kulturelle, religiöse, innerstaatliche und internationale Gründe. Einen besonderen Platz nehmen Fragen der Minderheiten bei der Ursachenproblematik für das zum Teil blutige Ende des einstigen Bundesstaates ein. Das Ausscheren Sloweniens, Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas aus Jugoslawien war bzw. ist mit national und zum Teil religiös motivierten Kriegen verbunden. Dauer, Schärfe und Grausamkeit dieser Kriege sind keineswegs allein auf die Komplexität und Kompliziertheit von Minderheitenproblemen in diesen Republiken zurückzuführen. Dennoch scheint es einen direkten Zusammenhang zwischen relativ homogener nationaler Bevölkerungsstruktur oder mehr oder weniger stark heterogener Bevölkerungsstruktur und den daraus resultierenden Folgen der Sezession zu geben. Ungeachtet der Waffengänge der einstigen jugoslawischen Bundesarmee in Slowenien nach dessen Unabhängigkeitserklärung (25.6.1991) ging die Abspaltung dieser Republik vergleichsweise konfliktarm vonstatten. Das ist weniger das Verdienst des mit EG-Vermittlung erzielten Brioni-Kompromisses (7.7.1991, dreimonatige Aussetzung der Unabhängigkeitserklärung). Die Konfliktparteien selbst (insbesondere die slowenische und die serbische Führung) zeigten sich kompromißbereit, nicht zuletzt deshalb, weil keine nennenswerte serbische Minderheit in Slowenien lebt. Anders im Falle Kroatiens, das ebenfalls am 25.6.1991 seine Unabhängigkeit erklärte. Die serbische Führung und die von Serben dominierte damalige Bundesarmee waren über einen längeren Zeitraum ganz offen nicht gewillt, 12,2% der Bevölkerung Kroatiens (Anteil der serbischen

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Bevölkerung in dieser Republik im Jahre 1991) [Fn 5: Vgl. H. Büschenfeld, a.a.O., S. 1100, 1103.] zur Minderheit in einem unabhängigen Kroatien werden zu lassen. Die kroatischen Serben selbst wollten das nicht. Ihre „Gleichberechtigung" in Kroatien war damals mehr als fraglich und ist es auch heute, zumal mehr als 150.000 Serben aus ihrer angestammten Heimat vertrieben wurden. Noch komplizierter gestaltet sich bekanntlich die nationale Bevölkerungsstruktur der Republik Bosnien-Herzegowina und die bosnischen Serben verhielten sich von Anfang an feindselig gegenüber der Unabhängigkeit dieser Republik.

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Literatur

Büschenfeld, H.: Ergebnisse der Volkszählung 1991 in Jugoslawien, in: Osteuropa, H. 12/1992,8. 1100.

Oschlies, W.: Ein Schlangennest, in dem jeder jeden vernichten will, in: Frankfurter Rundschau vom 8. August 1992, S. 5.

Reuter, J.: Jugoslawien vor dem Zerfall, in: Das Parlament, Beilage: Aus Politik und Zeitgeschichte, 27. März 1992, S. 3.

Wissenschaftlicher Dienst Südosteuropa: Nationale Mischehen in Jugoslawien, H. 6/7, 1980, S.162.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000

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