FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausg.: 30 = Leerseite ]

[Seite der Druckausg.: 31 ]


Thomas Brieden
Die Bedeutung von Konflikten im Herkunftsland für Ethnisierungsprozesse von Immigranten aus der Türkei und Ex-Jugoslawien




1. Einleitung

Wenn die Sozialwissenschaften in Deutschland sich heute dem Thema „Ethnizität" verstärkt widmen, so ist das weniger eine „Mode", sondern resultiert auf nicht eingetroffenen Prognosen bezüglich der Integrationsentwicklung der Immigranten in die bundesdeutsche Gesellschaft. Ging der „mainstream" der Ausländer- und Migrationsforschung in Deutschland bis weit in die achtziger Jahre davon aus, daß die Eingliederung von Immigranten in die Gesellschaft nur eine Frage der Zeit sei, so deuten empirische Fakten darauf hin, daß anstelle einer integrierenden Homogenisierung eine ethnische Segmentierung und Pluralisierung der Gesellschaftsstruktur festzustellen ist. Diese Divergenz von Theorie und Empirie nötigt die Sozialwissenschaften zu neuen Erklärungsansätzen, die auf die Klärung der Ursachen für das Nicht-Eintreten der Integrationsthese abzielen. Ohne hier auf feine Differenzierungen eingehen zu können, lassen sich diese Erklärungsversuche auf drei divergierende Argumentationsstränge reduzieren:

  1. Die empirischen Fakten können die Gültigkeit der Integrationsthese nicht widerlegen, sondern zeigen lediglich, daß die Eingliederung von Immigranten aus „unmodernen Gesellschaften" in „moderne Gesellschaften" noch schwieriger und zeitintensiver ist als früher angenommen. Die sozialwissenschaftliche Prognose muß daher weiter in die Zukunft verlegt werden: Integration ist ein generationsübergreifender Prozeß und - je nach Modernitätsgrad der Herkunftsgesellschaft - werden erst die Immigranten der dritten (oder vierten oder fünften oder ... ???) Generation von ihren „Fähigkeiten" her in der Lage sein, sich vollständig einzugliedern und als „Mitglieder" der hiesigen Gesellschaft identifizieren zu können. Die heute noch nicht vollzogene Integration der Immigranten stellt eine latente Gefahr ethnischer Konflikte

    [Seite der Druckausg.: 32 ]

    dar, die - so die praxeologische Schlußfolgerung - durch verstärkte ausländerpädagogische und -politische Integrationsbemühungen reduziert werden sollte.

  2. Die empirischen Ergebnisse widersprechen der Integrationsthese so eklatant, daß sie als widerlegt gelten muß. Es ist nicht die mangelnde „Integrationsfähigkeit" der Immigranten, sondern eine „Politik der Ethnisierung" der Zuzugsgesellschaft, die die Eingliederung der Einwanderer verhindert. Aufgrund von Diskriminierung, Unterschichtung, Klientelisierung und Stigmatisierung der ausländischen Bevölkerungspopulation seitens der deutschen Politik und der deutschen Mehrheitsbevölkerung werden die Immigranten ausgegrenzt, so daß es für diese naheliegt, „sich der individuellen Vergangenheit zuzuwenden, die lebensgeschichtlichen Bezüge überprägnant zu reaktivieren. (...) Die Familie, die Verwandtschaft, die Landsleute und die Herkunftsgesellschaft allgemein (erfahren) eine erhebliche Aufwertung. Bald dreht sich alles um Eigenes, um kontrafaktische Besonderheiten. Die Vergangenheit wird nach identitätsstützenden Momenten geradezu abgesucht werden. Schließlich wird so etwas wie eine 'ethnic redefination' inszeniert" (Bukow/Llaryora 1988, S. 52).

    Auf die Ausgrenzung seitens der Mehrheit reagieren die Immigranten mit der Rückbesinnung auf ihre eigenethnischen Traditionen, Symbole und Wertbestände, mit Rückzug in die ihnen von der Zuzugsgesellschaft zugewiesenen Nischen, mit ethnischer Gruppen-, Minoritäten- bis hin zur Ghettobildung. Diese Tendenzen werden den Immigranten nun wiederum zum Vorwurf mangelnder Integrationsbereitschaft gemacht, wodurch sich der Ethnisierungsdruck noch verschärft und auch der zweiten Generation keinen angemessenen Platz als Gesellschaftsmitglied läßt (vgl. ebd., S. 110). Ergebnis dieser Fremd- und Selbstethnisierungsprozesse ist die „faktische" ethnisch-plurale oder multikulturelle Gesellschaft, in der Ethnizität sozial konstruiert und seitens der ethnischen Mehrheit als Ressource im Verteilungskampf um Macht und Geld eingesetzt wird.

  3. Gegen die hier beschriebene soziale Konstruktion von Ethnizität wendet sich die dritte These, die auf einer sozialbiologischen Argumentation fußt, indem sie den „Völkern" eine je eigene ethnische Identität unterstellt, die von den Immigranten auch in der Fremde gegen die In-

    [Seite der Druckausg.: 33 ]

    tegrations- und Assimilationsversuche der Zuzugsgesellschaft - mehr oder weniger erfolgreich - verteidigt wird. Ethnische Konflikte in der Gesellschaft resultieren dann nicht aus Diskriminierung und sozialer Ungleichheit, sondern entstehen aufgrund mangelnder Toleranz (insbesondere) der einheimischen Bevölkerung gegenüber den Einwanderern:

    „Zur Toleranz als einem Ermöglichungsgrund für eine multikulturelle Gesellschaft gehört nicht nur ein Bekenntnis zum Pluralismus, sondern ... die tiefe Überzeugung, daß die kulturelle Vielfalt, anstatt ein ständiges Ärgernis zu sein, natur- und/oder gottgewollt ist. Jenseits aller ... Versuche einer Integration, Verschmelzung und Assimilation gilt es, die Differenzen weder zu absolutieren noch zu reduzieren. (...) Ferner sei angemerkt, daß die Vielfalt der Kulturformen nicht nur ein Faktum ist, sondern deren Bewahren unsere Pflicht ist" (Mall 1991, S. 35f).

    Integration und Assimilation als ausländerpolitische Zielsetzung erscheinen so als „Sünde wider der Schöpfung", als „Auslöschung des Fremden", letztendlich gar als „Völkermord".

    Bei allen Unterschiedlichkeit der Argumentationen weisen sie doch eine Gemeinsamkeit auf: Sie reduzieren gleichermaßen die - möglichen - Ursachen ethnischer Konflikte auf Probleme in den Beziehungen innerhalb der Zuzugsgesellschaft zwischen der einheimischen Bevölkerung und zugewanderten Minderheiten. Als Ursachen gelten dann entweder

    • die „mangelnde Integrationsfähigkeit der Immigranten" oder
    • die „mangelnde Integrationsbereitschaft der Politik und Bevölkerung des Zuzugslandes" oder
    • die „mangelnde Toleranz zwischen einheimischer und eingewanderter Bevölkerung".

Alle drei Argumentationsmuster unterschätzen jedoch - um nicht zu sagen: ignorieren - den Umstand, daß heutzutage Migration nicht, wie beispielsweise die Amerika-Auswanderung im 19. Jahrhundert, den „Abbruch aller Brücken" zur Heimat bedeutet, sondern daß bei - oder trotz - Migration intensive Beziehungen zwischen Heimat- und Emigrations„ort" (im weiten soziokulturellen Sinne gemeint) aufrechterhalten werden können und tatsächlich gepflegt werden (Reisen, Post, Telefon, Geldtransfer, Zeitung, Heimatfernsehen via Satellit usw.). Jenseits aller konkreten

[Seite der Druckausg.: 34 ]

„Brücken" zwischen Herkunfts- und Zuzugsland, die von modernen Migranten gebaut, gepflegt und begangen werden, sind es vor allem zwei Aspekte, die beide „Lebensorte" - möglicherweise auf sehr lange Dauer - miteinander „kurzschließen": die aufrechterhaltene Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes (mit ihren z.T. weitreichenden Verpflichtungen, z.B. der Wehrpflicht) und, damit sicherlich auch verbunden, aber doch kategorial eigenständig, eine Art soziokultureller Treuepflicht zur Heimatgesellschaft.

Aus dieser aufrechterhaltenen „ständigen" Verbindung von Emigranten zu ihrer Herkunftsgesellschaft läßt sich die Hypothese ableiten, daß dort (aus welchen Gründen auch immer) erfolgende Ethnisierungen - insbesondere solche konfliktischer Natur - von den Emigranten aufgenommen, mitvollzogen und somit ins Zuzugsland transferiert werden können. Anders gesagt: Die Austragung ethnischer Konflikte im Zuzugsland findet ihre Ursache nicht in den sozialen Beziehungen im Zuzugsland selbst, sondern ist Resultat von sozialen Konstellationen im Herkunftsland.

Page Top

2. Fragestellung

Im folgenden werden einige Einzelbefunde aus meiner Dissertation mit dem Thema „Konfliktimport durch Immigration" vorgestellt, die der Frage nach den Auswirkungen ethnischer Konflikte im Herkunftsland auf die Integrations- und Identitätsentwicklung der Immigranten in der Bundesrepublik Deutschland nachgeht. Anhand der Beispiele der Bürgerkriegsländer Ex-Jugoslawien und Türkei wird in einer vergleichenden Analyse dargestellt, inwieweit sich die Identifikationen und Sozialbeziehungen serbischer und kroatischer, sowie türkischer und kurdischer Immigranten, die schon seit vielen Jahren in der Bundesrepublik leben oder gar hier geboren sind, aufgrund der Konflikte verändert haben.

Die Bearbeitung dieses Themas setzt zunächst einen Perspektivenwechsel voraus: Anders als in der Ausländerforschung üblich, werden hier (Re-)Ethnisierungstendenzen nicht aus spezifischen Mehrheits-Minderheits-Verhältnissen abgeleitet, sondern die Mehrheitsethnie spielt zunächst überhaupt keine Rolle. (Re-)Ethnisierung wird vielmehr als gegenseitige Aus- und Abgrenzung ethnischer Minderheiten untereinander be-

[Seite der Druckausg.: 35 ]

trachtet. Erste Fragestellung ist daher zunächst die nach den Auswirkungen der Heimatkonflikte auf die inter-ethnischen Beziehungen der Immigranten der jeweiligen Konfliktethnien untereinander. Induziert der Konflikt im Herkunftsland Ethnisierungsprozesse im Zuzugsland, so soll dies als Konfliktimport gedeutet werden. Findet dagegen trotz Heimatkonflikt keine (Re-)Ethnisierung statt, so wirkt die vorgängige Migration als Konfliktbarriere.

Trifft die These des Konfliktimports zu, so läßt sich weiterfragen, inwieweit sich auch die Beziehungen zwischen der einheimischen deutschen Mehrheit und den dann „neugebildeten" ethnischen Minderheiten verändern. Dies ist aus zwei Aspekten zu vermuten. Einerseits ist die Bundesrepublik - mehr oder weniger - innergesellschaftlich tangiert, da sie das Territorium stellt, auf dem konflikt-induzierte Ethnisierungsprozesse stattfinden. Dieses „mehr oder weniger" richtet sich nach dem Auswirkungsgrad der Ethnisierung. Indifferenz zwischen den am Konflikt beteiligten Ethnien, d.h. ein gegenseitiges „Sich-verkrümeln", wird die ethnische Mehrheit kaum berühren. Die gewaltsame Vitalisierung des Konflikts im Zuzugsland dürfte hingegen auf die Mißbilligung der Mehrheitsethnie stoßen. Andererseits agiert das Zuzugsland im Feld zwischenstaatlicher Beziehungen und ist von daher außenpolitisch in den Konflikt involviert. Unter der Prämisse des Konfliktimports dürfte von daher eine Parteinahme der Außenpolitik und der Massenmedien des Zuzugsland für die eine und gegen die andere Konfliktethnie gravierende Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen der Mehrheit und den jeweiligen Minderheiten haben.

Page Top

3. Theoretische Konzeption

Prozesse der Eingliederung lassen sich unterscheiden in Integrations- und Assimilationsverläufe. Unter Integration ist die Eingliederung in die Sozialstruktur, unter Assimilation die Übernahme der Kultur der Zuzugsgesellschaft zu verstehen (vgl. Hoffmann-Nowotny 1990, S. 15 f.). Integration läßt sich weiter differenzieren in Systemintegration und Sozialintegration. Erstere meint die Inklusion der Immigranten in die funktional differenzierten Subsysteme (Ökonomie, Politik, Recht etc.), letztere den Aufbau und die Pflege inter-ethnischer segmentärer Lebenswelten und „Ge-

[Seite der Druckausg.: 36 ]

meinschaften" zwischen Einwanderern und Einheimischen (Freundschaften, Nachbarschaften, Verwandtschaften). Assimilation läßt sich unterscheiden in objektive Orientierungen an und subjektive Identifizierungen mit den grundlegenden Werten und Normen der Zuzugsgesellschaft.

Abbildung 1: Dimensionen der Eingliederung



Integration und Assimilation sind zwar analytisch zu trennen, sie bleiben aber aufeinander bezogen. Zum einen zwingt die Systeminklusion zur funktionalen Anpassung an systemspezifische Werte und Normen, zum anderen sind gemeinsame Wertorientierungen und -identifikationen geradezu Konstitutionsbedingungen für Gemeinschaftsbildungen. Gemeinschaften lassen nur einen geringen Grad von Abweichungen zu.

Grundannahme der Eingliederungstheorie ist, daß sich die Immigranten mit zunehmender individueller, insbesondere aber übergenerationaler Aufenthaltsdauer zunehmend integrieren und assimilieren, bis sie - letztendlich - vollständig vom Zuzugsland „aufgesogen" werden, indem sie sich selbst als „Angehörige" der Zuzugsgesellschaft identifizieren und als solche von der Mehrheitsbevölkerung auch akzeptiert werden.

[Seite der Druckausg.: 37 ]

Im folgenden beschränkt sich die Analyse zunächst auf den Wandel der subjektiven, auf Volkszugehörigkeiten bezogenen Identifikationen. Unter dem Begriff „Volk" wird hier die größtmögliche, durch „Wir-Gefühle" integrierte gemeinschaftliche Einheit verstanden. Dabei lassen sich drei unterschiedliche Bedeutungen des Volksbegriffs feststellen:

Volk im ethnischen Sinne bedeutet Abstammungsgemeinschaft, wobei es irrelevant ist, ob die Abstammung real oder fiktiv ist; wesentlich ist der Glaube an eine „Gemeinschaft des Blutes", die in der Regel durch mindestens ein „objektives" Kriterium erhärtet wird (z.B. gemeinsame Sprache, Religion, „Rasse"). Unter Volk im nationalen Sinne ist eine Gemeinschaft von Menschen zu verstehen, die durch gemeinsame Staatsangehörigkeit verbunden sind und die somit gleichen Rechten und Pflichten unterliegen. Schließlich kann man Volk auch noch in einem territorialen Sinne als (Wohn-)Bevölkerung definieren.

Die Identifikationen der Immigranten können sich sowohl auf nur eine, als auch auf eine Kombination mehrerer Volkszugehörigkeiten beziehen (vgl. Abb.2).

Abbildung 2: Dimensionen des Volksbegriffs und Möglichkeiten der Identifikation



[Seite der Druckausg.: 38 ]

So kann sich z.B. ein Kurde nur als Kurde (ethnische Zugehörigkeit - Feld 3), nur als Türke (nationale Zugehörigkeit - Feld 1) oder nur - assimiliert - als Deutscher (territoriale Zugehörigkeit - Feld 2) identifizieren; er kann aber auch die ethnische, nationale und assimilierte (d.h. kurdische, türkische und deutsche) Identifikation miteinander kombinieren (Felder 4 bis 7). Insgesamt sind somit - jenseits der Kategorie „sonstige Identifikation" - sieben Möglichkeiten der Identifikation denkbar.

Indem sich die Untersuchung jeweils auf die immigrierten Angehörigen zweier ethnischer Gruppen einer (Staats-)Nation erstreckt, erhöhen sich die Identifikationsmöglichkeiten auf insgesamt elf (vgl. Abb. 3).

Abbildung 3: Identifikationsmöglichkeiten von Immigranten aus multi-ethnischen Gesellschaften



Drei dieser Kategorien sind von den Immigranten beider Ethnien wählbar: Sie können sich gleichermaßen assimiliert (als Deutsche - Feld 1) oder national (als Jugoslawen bzw. als Türken - Feld 3) identifizieren oder

[Seite der Druckausg.: 39 ]

diese beiden Dimensionen miteinander kombinieren (Identifikation als Deutscher und Jugoslawe bzw. als Deutscher und Türke - Feld 2). In diesen Fällen weisen die Immigranten beider Ethnien somit eine gemeinsame Identifikation auf; fühlen sich also - trotz Herkunftskonflikt - miteinander verbunden. Als Konfliktkonstellation läßt sich jedoch der Fall beschreiben, wenn die Immigranten mindestens einer ethnischen Gruppe sich weitgehend nur ethnisch identifizieren (Felder 4 und/oder 5) und somit eine sie mit der jeweils anderen ethnischen Gruppe verbindenden Identifikation aufkündigen.

Page Top

4. Methodik der Untersuchung

Das Hauptinteresse der Untersuchung betrifft den Wandel der Identifikationen - differenziert für alle vier Immigrantenpopulationen -, wie er sich im zeitlichen Zusammenhang mit dem ethnischen Konflikt im jeweiligen Herkunftsland vollzogen hat. Gemessen wurde der Wandel anhand von zwei Zeitpunkten: Einmal vor Ausbruch des jeweils ethnisch bestimmten Konflikts, zum anderen nach einigen Jahren seines Verlaufs. Für den erstgenannten Zeitpunkt wurde eine von Esser/Friedrichs durchgeführte Untersuchung aus den Jahren 1984-86 sekundäranalytisch ausgewertet:

Zu dieser Zeit war der jugoslawische Konflikt noch nicht in Sicht, und in der Türkei erfolgten gerade die ersten gewaltsamen Kurdenaufstände. [Fn 1: Dabei handelt es sich um die Studie „Ethnische und kulturelle Identität von Arbeitsmigranten im interkontextuellen und intergenerationalen Vergleich". Der Datensatz wurde vom Zentralarchiv für empirische Sozialforschung in Köln zur Verfügung gestellt (ZA-Studie 1580). Weder Esser/Friedrichs noch das Zentralarchiv tragen für die Interpretation der hier verwendeten Daten eine Verantwortung. Auf die methodischen Probleme des Vergleichs beider Studien kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.] Auf den zweitgenannten Meßpunkt richteten sich die eigenen Untersuchungen aus dem Jahr 1992/93 (qualitative Interviews: n = 74) und 1994 (quantitative Interviews: n = 322, darunter 119 Deutsche).

Für die Erklärung der festgestellten identifikatorischen Veränderungen über Zeit wurden zudem die Immigranten in der 1992/93er Untersuchung retrospektiv nach ihrer früheren Identifikation befragt und aufgefordert, ihre Motive für einen Identifikationswandel anzugeben. In methodischer

[Seite der Druckausg.: 40 ]

Hinsicht wurde die Zeit - des Konfliktausbruchs und -verlaufs - also in zweifacher Hinsicht „überbrückt": einerseits rekurrieren die Untersuchungen auf vorher-nachher-Befragungsergebnisse von ethnischen Populationen, andererseits wurden die Interviewpartner nach biographischen Prozessen befragt.

Weil in der Ausländerforschung üblicherweise - und auch plausibel - ein bestimmter Zusammenhang zwischen Eingliederung und der Abfolge sogenannter Migrationsgenerationen angenommen wird, wurde diese sozio-graphische Differenzierung der Untersuchungsgruppen berücksichtigt, um Generationseffekte auszuschließen.

Von einem Konfliktimport soll nur dann die Rede sein, wenn sich zum einen zwischen beiden Meßzeitpunkten die Prozentanteile der Immigranten mit einer ausschließlich ethnischen Identifikation bei mindestens einer am Konflikt im Herkunftsland beteiligten Ethnie in einem relevanten Ausmaß erhöhen und wenn zum anderen die Immigranten selbst einen solchen Identifikationswandel mit dem Konflikt im Herkunftsland begründen.

Page Top

5. Empirische Ergebnisse



5.1 Identifikationen

Betrachtet man zunächst nur die „reinen Identifikationstypen" - d.h. die Immigranten, die sich entweder nur ethnisch, nur (staats-) national oder nur assimiliert identifizieren -, so zeigen sich in der Untersuchung folgende zentrale Ergebnisse:

  1. Bei allen „Landsmannschaften" ist im hier betrachteten Zeitabschnitt - mit seiner Ethnisierungsgeschichte in den Herkunftsländern - eine „De-Nationalisierung" erfolgt - und zwar generationsunabhängig:

    Identifizierten sich zum ersten Untersuchungszeitpunkt, d.h. vor dem Konfliktausbruch, beispielsweise ein Drittel der 2. Generation Kroaten (nur) als Jugoslawen, so hat sich dieser Anteil zum zweiten Meßpunkt, d.h. heute, auf dem Höhepunkt der ethnischen Auseinandersetzung im Herkunftsland, auf 0% reduziert. Auch bei den Kurden ist der Anteil der sich als Türken identifizierenden Immigranten von rund 40% bei

    [Seite der Druckausg.: 41 ]

    der 1. wie bei der 2. Generation auf jeweils 0% gesunken. Bei den anderen Untersuchungspopulationen schwankt die Verringerung des Anteils zwischen 14% bei den Türken der 1. Generation und 50% bei den Kroaten der 1. Generation; allemal geht es aber um eine Reduktion der nationalen Identifikation.

    Abbildung 4: Wandel in der Dimension „nationale Identifikation"



    Eine mögliche neue nationale Identifikation der Immigranten aus Jugoslawien mit den völkerrechtlich anerkannten Nachfolgestaaten findet übrigens nicht statt. Sowohl die Serben aus Kroatien, als auch die Serben und Kroaten aus Bosnien-Herzegowina identifizieren sich nicht mit „ihren" neuen Staatsnationen, sondern mit denen, in denen „ihre" Ethnie jeweils die Mehrheitsbevölkerung stellt.

    [Seite der Druckausg.: 42 ]

    Mit anderen Worten: Weder für eingewanderte Serben und Kroaten, noch für Kurden und Türken bildet die alte oder die inzwischen entstandene Staatsnation - d.h. das ehemalige Jugoslawien bzw. die ethnisch heterogenen Nachfolgestaaten Kroatien, Bosnien-Herzegowina und „Rest"-Jugoslawien einerseits, die Türkei andererseits - heute noch eine (jeweils gemeinsame, sie verbindende) Identifikationsgröße.

  2. Andererseits: Eine vollständige (subjektive) Assimilierung an die deutsche Gesellschaft und Kultur hat zwischen den beiden Untersuchungszeitpunkten in nennenswertem Ausmaß nur bei den Kroaten und Serben der 2. Generation stattgefunden.

    Abbildung 5: Wandel in der Dimension „assimilierte Identifikation"



    [Seite der Druckausg.: 43 ]

    Bei ersteren hat sich der Anteil von sich (nur) als „deutsch" identifizierenden Immigranten um 19% auf 36% erhöht, bei letzteren um 17% auf 20%. Eine geringfügige Assimilierung läßt sich allenfalls noch bei den Kroaten und bei den Serben der 1. Generation nachweisen, während bei den Türken und Kurden der Anteil von sich (nur) als Deutsche identifizierenden Immigranten nahezu oder gleich Null beträgt.

    Das heißt: Nur bei Teilen der Serben und Kroaten der 2. Generation wird - der Integrationsthese entsprechend - die erfolgte „De-Nationalisierung" durch Assimilierung an das Zuzugsland kompensiert.

    Sucht man die subjektiven Gründe für die insgesamt doch geringe Assimilationstendenz, so werden in den qualitativen Interviews teils ethnizitäts-, teils generationsspezifische Motivbündel angegeben. Während die 1. Generation - ethnizitätsunabhängig - vorwiegend die „Sozialisation im Herkunftsland" sowie die „Ablehnung der deutschen bzw. die Präferenz der eigenen Kultur" (konkretisiert z.B. am fehlenden Familienzusammenhalt und fehlenden Gemeinschaftssinn der Deutschen) nennt, so sind und differieren die Motive bei der 2. Generation ethnizitätsspezifisch: Türken nennen als häufigste Hinderungsgründe für eine Assimilierung ihre „Ablehnung der deutschen bzw. Präferenz der türkischen Kultur" sowie die erfahrene „Diskriminierung seitens der Deutschen". Dagegen ist die Diskriminierungswahrnehmung bei den Kurden deutlich geringer ausgeprägt. Obgleich ein großer Teil von ihnen bereits in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, nennen sie häufig die Motive „Sozialisation in Herkunftskontexten" sowie die „Präferenz der kurdischen Kultur", die sie - anders als in der Türkei - in der Bundesrepublik zumindest partiell aufbauen, aufrechterhalten und pflegen können. Die Tradierung eines - wenn auch bruchstückhaften - kurdisch-kulturellen Erbes kann offenbar, in subjektiver Sicht, in der Bundesrepublik Deutschland eher erfolgen als in der Türkei:

    „Sicherlich wird man, wenn man länger in Deutschland ist, auch deutsche Verhaltensweisen annehmen. Aber hier in Deutschland kann man als Kurde leben. Hier kann ich eher Kurde sein und bleiben als in der Türkei. " (Kurde, 2. Generation, seit 17 Jahren in Deutschland)

    Für die Serben der 2. Generation hingegen ist das wichtigste Hinderungsmotiv für ihre Assimilierung die „Diskriminierung seitens der

    [Seite der Druckausg.: 44 ]

    Deutschen", die sie allerdings erst seit dem Konfliktbeginn in ihrer Heimat verspüren:

    In der letzten Zeit hat sich insbesondere für die Serben aufgrund des Konflikts das Klima verschlechtert. Die Deutschen greifen mich sofort an, wenn ich sage, daß ich Serbin bin. Die bezeichnen mich dann als gefährliches Mädchen oder als Tschetnik. Die Deutschen machen jeden Serben dafür verantwortlich, was einzelne Serben an schlimmen Sachen machen. Die verunglimpfen ein ganzes Volk." (Serbin, 2. Generation, geboren in Deutschland)

    „Seit dem Krieg in Jugoslawien hat sich die Situation für die Serben hier in Deutschland verschlechtert. Seitdem fühle ich mich hier nicht mehr wohl, weil ich häufig 'angemacht' werde, wenn ich sage, daß ich Serbin bin. (...) Auch in der Schule bin ich schon öfter von deutschen Schülern beschimpft worden. (...) Von manchen deutschen Schülern wird man geschnitten; die wollen mit Serben nichts mehr zu tun haben. " (Serbin, 2. Generation, geboren in Deutschland)

    Bei den Kroaten der 2. Generation ließen sich keine Motive in Erfahrung bringen, die gegen eine Assimilierung sprechen.

  3. Erst unter der Berücksichtigung der „Identifikationsmixturen" deutet sich eine weitergehende Assimilierung an, die bei den Kroaten und Kurden vorwiegend mit der ethnischen (Identifikation als Kroate und Deutscher, bzw. als Kurde und Deutscher), bei den Serben entweder mit der ethnischen (als Serbe und Deutscher) oder mit der staatsnationalen (als Jugoslawe und Deutscher) Identifikation kombiniert wird. Auch diese Assimilierung ist generationsspezifisch: Sie ist bei der 2. Generation jeweils deutlich stärker ausgeprägt als bei der 1. Generation. Die Erhöhung des Anteils derjenigen Immigranten, die sich zumindest auch als Deutsche fühlen, schwankt in der 2. Generation zwischen 29% bei den Türken und 12% bei den Kurden, in der 1. Generation zwischen 19% bei den Kroaten und 2% bei den Türken.

  4. Bei drei der vier untersuchten Gruppen - und zwar bei den Serben und Kroaten sowie den Kurden - hat eine ausgeprägte Ethnisierung stattgefunden. Bei den Türken konnte aufgrund der Identität des Begriffs „Türke" in der ethnischen und nationalen Dimension nicht differenziert werden und eine u.U. stattgefundene Ethnisierung aus methodischen Gründen nicht nachgewiesen werden.

    [Seite der Druckausg.: 45 ]

    Abbildung 6: Wandel in der Dimension „ethnische Identifikation"



    Die (Re-)Ethnisierung fällt allerdings in der 2. Generation geringer aus als in der 1. Generation: In der 2. Generation hat sich der Anteil der sich nur ethnisch identifizierenden Immigranten bei den Kroaten um 13% auf 20% zugenommen, bei den Serben von 0% auf 16% und bei den Kurden um 22% auf 36%. In der 1. Generation erhöhte sich der Anteil der Immigranten mit einer nur ethnischen Identifikation bei den Serben von 0% auf 35%, bei den Kroaten von 5% auf 47% und bei den Kurden von 20% auf 76%.

    Über die Motive, sich im Gegensatz zu früher heute ethnisch zu identifizieren, geben die qualitativen Interviews Auskunft. Fast alle Immi-

    [Seite der Druckausg.: 46 ]

    granten, für die das zutrifft, machen den Konflikt im Herkunftsland für ihre ethnische (Re-)Identifikation verantwortlich, bestätigen somit die Konfliktimportthese:

    „Ich fühle mich als Kroatin in Deutschland. Als ich herkam, habe ich mich als Jugoslawin gefühlt und als Jugoslawin bezeichnet. Aber seit dem Krieg fühle ich mich als Kroatin - einerseits, weil Kroatien jetzt nicht mehr zu Jugoslawien gehört, andererseits, weil der Begriff 'Jugoslawe' auch die Serben mit einschließt. Mit den Serben kann ich mich aber nicht identifizieren. (...) Die Serben sind Bestien, die sind verrückt geworden. (...) Erst durch den Krieg bin ich mir bewußt geworden, Kroatin zu sein." (Kroatin, 1. Generation, seit 28 Jahren in Deutschland)

    „Ich fühle mich heute aufgrund des Konflikts als Serbin. Früher habe ich mir gar keine Gedanken über meine Nationalität gemacht. Auch als Jugoslawin habe ich mich nie gefühlt. Heute bin ich mir aber bewußt, daß ich Serbin bin. Als Deutsche werde ich mich nie fühlen können, selbst wenn ich für immer in Deutschland leben würde. Auch die deutsche Staatsangehörigkeit möchte ich nicht haben. (...) Wenn ich Deutsche werden würde, dann würde ich mich nicht mehr als Serbin fühlen, das würde mein Gefühl verletzen. " (Serbin, 2. Generation, geboren in Deutschland)

    „Ich fühle mich als Kurdin. Früher, als ich 17, 18 Jahre alt war, habe ich mich aufgrund der kemalistischen Erziehung als Türkin gefühlt. Viele meiner Verwandten in der Türkei fühlen sich heute noch als Türken. Von daher weiß ich nicht, ob ich, wenn ich in der Türkei geblieben wäre, heute anders denken würde. Meine neue Identität ist aufgrund der Unterdrückung der Kurden entstanden. Als ich das mitbekommen habe, hat sich mein Nationalgefühl entwickelt. Ich glaube nicht, daß sich das noch jemals ändern wird. " (Kurdin, 2. Generation, seit 16 Jahren in Deutschland)

  5. Von einiger Bedeutung ist schließlich auch die Identifikationskategorie „Sonstige", die - allerdings nur in der eigenen Untersuchung, nicht bei Esser/Friedrichs - in Gestalt einer Identifikation als Europäer, Kosmopolit oder einfach nur „als Mensch" spezifiziert werden konnte.

    [Seite der Druckausg.: 47 ]

    Insbesondere bei den Türken, aber auch bei den Kurden der 2. Generation, in geringerem Umfang bei den Serben und Kroaten, finden sich Immigranten, die sich weder mit-ethnisieren - ethnische „Partei ergreifen" - noch assimilieren (wollen), sondern sich aufgrund des Konflikts im Herkunftsland von der ganzen Dimension der Nationalität und Ethnizität distanzieren. Statt einer Ethnisierung und eines Konfliktimports liegt hier also eine durch den Konflikt in der Heimat ausgelöste „rationale" Distanzierung von der Dimension Ethnizität/Nationalität vor:

    „Heute fühle ich mich nur noch als Mensch; nicht mehr als Jugoslawe, auch nicht als Deutsche. Heute fühle ich mich durch die Lage in Jugoslawien und durch die Situation hier in keinem Land mehr zu Hause. (...) Es ärgert mich nicht, wenn die Deutschen mich als Jugoslawin bezeichnen; vielmehr ärgert es mich, daß die Deutschen jetzt immer fragen: 'Bist du Kroatin oder Serbin?'. Sagt man dann, daß man Serbin ist, ist man bei den Deutschen 'unten durch'. (...) Meine Gefühle gegenüber Jugoslawien sind Wut, Enttäuschung und Verzweiflung. Wut auf die jugoslawischen Politiker - egal ob Serben, Kroaten oder Moslems -, die Jugoslawien zerstört haben. Wut aber auch deshalb, weil deren falsche Politik dafür gesorgt hat, daß man sich hier in Deutschland verstecken und schämen muß. " (Serbin, 1. Generation, seit 24 Jahren in Deutschland)

    „Ich fühle mich keiner ethnischen oder nationalen Gruppe zugehörig. Ich fühle mich weder als Türke, noch als Deutscher, sondern als Europäer. (...) Meine Gefühle gegenüber dem türkischen Volk sind eher negativ. Ich schäme mich wegen der Menschenrechtsverletzungen und der Unterdrückung Minderheiten gegenüber. Früher in der Türkei habe ich gegen diese Zustände gekämpft. Meine Solidarität gehört den türkischen Intellektuellen und den Kurden, weil sie unterdrückt werden. Stolz darauf, Türke zu sein, bin ich jedenfalls nicht. Wie kann man stolz auf ein Land sein, in dem das Praktizieren von Folter selbstverständlich ist?" (Türke, 2. Generation, seit 16 Jahren in Deutschland).

[Seite der Druckausg.: 48 ]

5.2 Verhaltensorientierungen

Die ethnische (Re-)Identifikation der Immigranten hat eine ethnische (Re-)Orientierung zur Folge. Die Immigranten, die sich ethnisch identifizieren, produzieren in einem erheblichen stärkerem Ausmaß „Feindbilder" gegenüber den Immigranten der Konfliktethnie als die Einwanderer, die sich nicht ethnisch identifizieren. Insbesondere die ethnisierten Kroaten bzw. Kurden begegnen den Serben bzw. den Türken mit größeren Aversionen als umgekehrt.

Auf die Deutschen wirkt der Konflikt in Jugoslawien ebenfalls ein: Sie entwickeln gegenüber den Serben Abneigungen, während sie den Kroaten tendenziell ein positives Image zuspricht. Der Konflikt in der Türkei scheint dagegen die Deutschen weniger zu berühren: Nur in einem geringen Umfang und Ausmaß werden die Kurden negativer bewertet und mit weniger Sympathien bedacht als die Türken. Man kann vermuten, das die den Kurden im Anschluß an den Golfkrieg entgegengebrachte Sympathie seitens der deutschen Bevölkerung sich durch die Anschlagsserie der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zunehmend in eine negative Einstellung gegenüber den Kurden gewandelt hat, während die den Türken entgegengebrachte Einstellung unverändert geblieben ist.

In politischer Hinsicht betrachten sowohl die sich ethnisch identifizierenden Kroaten als auch die ethnisierten Kurden die Politik ihrer „Führungen" (kroatische Regierung einerseits, die PKK andererseits) weitgehend als richtig, während die Politik der Herkunftsregierungen von vielen Türken und Serben eher kritisch beurteilt werden. Hieraus läßt sich der Schluß ziehen, daß die kroatische Regierungspolitik und die Politik der PKK von den immigrierten Angehörigen unterstützt oder zumindest mit ihr sympathisiert wird, während die Loyalität der immigrierten Serben bzw. Türken ihren Regierungen gegenüber brüchig zu sein scheint.

5.3 Sozialbeziehungen

Zwischen Serben und Kroaten ist eine deutliche ethnische Segmentierung der Sozialbeziehungen festzustellen. Weder die Kroaten noch die Serben halten freundschaftliche Kontakte zu Angehörigen der Konfliktethnie aufrecht. Dabei wird von vielen Immigranten der Abbruch der Sozialbezie-

[Seite der Druckausg.: 49 ]

hungen und somit die ethnische Segmentierung voneinander als Konfliktvermeidungsstrategie betrachtet. Der Konflikt im Herkunftsland zwingt dazu, sich seine Freundschaften vorwiegend im eigenen ethnischen „Lager" zu suchen:

Sämtliche freundschaftliche Beziehungen zu Kroaten sind aufgrund des Konflikts zerbrochen. Zwar schlägt man sich nicht den Schädel ein, aber man geht sich aus dem Weg. Wenn mir ein mir bekannter Kroate auf der Straße entgegenkommt, dann wechsele entweder ich oder er den Gehweg, damit man sich nicht in die Augen sieht. (...) Heute mußt du dich entscheiden, ob du Serbe, Kroate oder Moslem bist. Wenn du sagst, du bist Jugoslawe, wirst du von allen drei Seiten krumm angesehen. Wenn du dich für eine Seite entscheidest, kannst du wenigstens mit denen weiterleben. " (Serbe, 1. Generation, seit 22 Jahren in Deutschland)

Die Sozialbeziehungen zwischen Türken und Kurden orientieren sich zwar auch häufig am Konflikt im Herkunftsland, doch ist hier weniger die ethnische Zugehörigkeit selbst entscheidend, sondern die politische Haltung zum Konflikt. Die Ablehnung der Ziele der kurdischen „Nationalbewegung", zumindest aber die Entsolidarisierung von der PKK sind die Voraussetzung, unter denen „gemäßigte" Türken an freundschaftlichen Beziehungen zu Kurden festhalten, während umgekehrt ein Großteil der Kurden ihre Freundschaften zu Türken von deren - zumindest verbalen -Solidarisierung mit dem „kurdischen Freiheitskampf" abhängig macht.

Der Bürgerkrieg in Jugoslawien hat auch negative Auswirkungen auf die Sozialbeziehungen zwischen den Deutschen und Serben, während Freundschaften zwischen Deutschen und Kroaten nicht gelitten haben. So wird von serbischen Immigranten angeführt, daß sich freundschaftliche Beziehungen zu Deutschen reduziert haben, sei es, weil die Deutschen die Freundschaft aufgekündigt haben, sei es, weil sie selbst in die „innere Emigration" gegangen sind. Demgegenüber hat der Konflikt in der Türkei kaum Folgen für die - ohnehin recht spärlich gesäten - freundschaftliche Beziehungen zwischen Deutschen und Türken bzw. Deutschen und Kurden.

[Seite der Druckausg.: 50 ]

5.4 Institutionelle Kontexte

Nicht nur die „lebensweltlichen" Sozialbeziehungen, sondern auch die institutionellen Kontexte der „Ausländerbetreuung" werden vom Konflikt im Herkunftsland tangiert. Allerdings werden hier deutliche Differenzen hinsichtlich der Auswirkungen des serbisch-kroatischen und türkisch-kurdischen Konflikts sichtbar:

Aufgrund des serbisch-kroatischen Konflikts erfolgt in der Bundesrepublik eine ethnische Segmentierung ausländerbetreuender Institutionen. Dies betrifft sowohl den muttersprachlichen Unterricht, die Sozialberatung der Wohlfahrtsverbände als auch die Selbstorganisationen der Immigranten. Demgegenüber hat der türkisch-kurdische Konflikt lediglich Auswirkungen auf die Selbstorganisationen, nicht aber auf den muttersprachlichen Unterricht und die Sozialberatung.

Obgleich der muttersprachliche Unterricht in den deutschen Bundesländern unterschiedlich institutionalisiert ist (z.B. sind in Baden-Württemberg die Konsulate, in Nordrhein-Westfalen die deutschen Kultus- und Schulbehörden zuständig), sind die Resultate die gleichen. Während der Unterricht für Serben und Kroaten (sowie für die bosnischen Moslems) heute weitgehend in ethnizitätshomogenen Klassen stattfindet, wird der muttersprachliche Unterricht für Türken und Kurden (in fast allen Bundesländern) nur in türkischer Sprache angeboten. Dies ist vor allem deshalb paradox, weil Serbisch und Kroatisch lediglich „Dialekte" einer nahezu identischen Sprache sind, während Türkisch und Kurdisch miteinander nichts zu tun haben und zwei unterschiedlichen Sprachfamilien angehören.

Auch die Sozialberatung der Wohlfahrtsverbände für Immigranten aus Ex-Jugoslawien erfolgt heute in einer gegenüber früher stärker segmentierenden Weise. Zwar nahm die Betreuung dieser Gruppe auch schon früher eine „Sonderstellung" ein, da sowohl die Caritas als auch die Arbeiterwohlfahrt Beratungsstellen für Jugoslawen unterhielten (bei allen anderen „Nationalitäten" ist nur jeweils ein Wohlfahrtsverband zuständig), doch werden die Beratungsangebote der Caritas heute von den Serben kaum noch wahrgenommen, ebensowenig wie die der Arbeiterwohlfahrt von den Kroaten und Slowenen. Demgegenüber wird die Sozialberatung für türkische Staatsbürger nur von der Arbeiterwohlfahrt durchgeführt, wobei - so

[Seite der Druckausg.: 51 ]

die Kritik kurdischer Selbstorganisationen - Angehörige der kurdischen Ethnie aufgrund mangelnder türkischsprachiger Kenntnisse von der Beratung häufig ausgeschlossen sind.

Ähnlich in der Richtung, jedoch unterschiedlich im Ausmaß sind die Auswirkungen auf die Selbstorganisationen der Immigranten. Die früher ethnizitätsheterogenen Vereine der Jugoslawen haben sich heute nahezu vollständig in ihre ethnischen Bestandteile aufgelöst. Auch zwischen Türken und Kurden hat sich die ethnische Segmentierung der Vereinslandschaft - insbesondere innerhalb der „Linken" - verstärkt, doch gibt es immer noch Vereine, die sich gleichermaßen aus Türken und Kurden rekrutieren.

Page Top

6. Schlußfolgerungen

Kehrt man zur Ausgangsfrage zurück, so deuten die Ergebnisse der Untersuchung darauf hin, daß die ethnische Pluralisierung der deutschen Gesellschaft nicht nur Resultat verfehlter - weil ethnisierender - Ausländerpolitik ist, sondern auch Ergebnis von politischen Konstellationen im Herkunftsland, die zudem auch nicht durch Erhöhung interkultureller Toleranz zwischen Einheimischen und Einwanderern (pädagogisch) „überbrückt" werden kann. Zu vermuten - und zumindest gegenüber serbischen Immigranten nachweisbar der Fall - ist jedoch eine kumulative Verstärkung diskriminierender Ausgrenzung seitens der deutschen Mehrheitsbevölkerung aufgrund der Konfliktsituation in den Herkunftsländern. Die massenmediale Aufbereitung des Konfliktgeschehens im Herkunftsland („Terror der Serben", „Killer-Serben") und die Parteinahme deutscher Außenpolitik im Herkunftskonflikt wirken einer weitergehenden Sozialintegration dieser ethnischen Gruppe zumindest entgegen, bewirkt sogar u.U. eine zunehmende Des-Integration.

Trifft die These herkunftskonfliktbedingter Ethnisierungen zu, so stellt sich die Frage des Umgangs mit einer Konstellation im Zuzugsland, die potentiell die Gefahr gewaltsamer Konfliktaustragung in sich birgt. Die Anschläge extremistischer Kurden auf Einrichtungen türkischer Institutionen und Geschäfte zeigen die Probleme deutlich an. Gefordert sind daher Vorschläge für ein Konfliktmanagement, die brauchbare Mittel

[Seite der Druckausg.: 52 ]

und Techniken zur Gewaltprävention und zur Eindämmung importierter Konflikte im Zuzugsland aufweisen.

Anders als Konflikte, deren Gründe in der eigenen Nationalgesellschaft wurzeln und deren Austragung daher durch „Ursachenbeseitigung" „gelöst" werden kann, differenzieren importierte Konflikte zwischen Konfliktursachen im Herkunfts- und Konfliktaustragung im Zuzugsland. Das heißt, daß der „Schlüssel" zur Konfliktlösung importierter Konflikte aus Sicht des Zuzugslandes im Ausland liegt und dem Zuzugsland kaum Handlungsspielräume bleiben, die Konflikte durch Beseitigung der Konfliktursachen zu „lösen". Man kann nun die These vertreten, daß im Falle von Konfliktimport ethnische Auseinandersetzungen in den Herkunftsländern aufhören, nur noch deren innere Angelegenheiten zu sein, in die man sich dem Völkerrecht nach nicht einmischen dürfe. Hieraus wäre dann der Schluß zu ziehen, daß eine Innenpolitisierung der Außenpolitik erfolgen müßte, die die faktische Multikulturalität der deutschen Gesellschaft schon aus Gründen der inneren Sicherheit in das diplomatisches Kalkül ihrer Außenpolitik einzubeziehen hat. Gerade weil aber Staaten aufgrund der ihnen zugestandenen Souveränität relativ autonome Systeme sind, die ihre inneren Operationen weitgehend selbst bestimmen, erscheint es zweifelhaft, ob die von Sanktionsmaßnahmen ausgehenden Wirkungen tatsächlich diejenigen sind, die man sich erhofft. Zumindest zeigen viele Beispiele, daß äußerer Druck vielfach innere Kohäsion bewirkt, d.h. daß sich die Loyalität der Bevölkerung ihren politischen Führungen gegenüber eher noch vergrößert und damit zur Konflikteskalation im Herkunftsland beitragen kann.

Unter der Prämisse, daß derartige Konflikte im Herkunftsland nicht gelöst werden und somit fortbestehen, stellt sich die Frage, wie im Zuzugsland innenpolitisch mit importierten Konflikten umgegangen werden kann. Geht man mit Galtung (1975, S. 60ff.) von der Unterscheidung dissoziativer (die Konfliktparteien trennenden) und assoziativer (die Konfliktparteien aneinanderbindenden) „Friedenstechniken" aus, so müßte eine Strategie des Konfliktmanagements sich von der Formel „so viel (ethnische) Segmention wie nötig, so viel Integration wie möglich" leiten lassen. Assoziative Friedenstechniken greifen Galtung zufolge dann nicht, wenn es sich um asymmetrische Konflikte handelt, in denen zwischen den beteiligten Akteuren ein Machtgefälle existiert:

[Seite der Druckausg.: 53 ]

„Als Alternative, die sich für Konflikte zwischen einem topdog und einem underdog anbietet, wäre also ein Zwei-Phasen-Strategie: zunächst eine dissoziative Phase, die die Beteiligten bis zu einem gewissen Punkt Selbsterhaltung, Selbstachtung und Autarkie erwerben läßt, bis der Konflikt gleichgewichtig geworden ist; danach eine assoziative Phase. (...) Eine solche dissoziative Strategie kann zu reduzierten Kontakt führen und damit zur Verminderung oder zur völligen Vermeidung von Gewaltanwendung. (...) Dieser Vorgang sollte dann aber gleichzeitig die Grundlage für einen erneuten Kontakt bilden, diesmal auf egalitärer Basis" (Galtung 1975, S.67f).

Betrachtet man die hier zur Debatte stehenden importierten Konflikte, so läßt sich der zwischen Serben und Kroaten aufgrund der erfolgten Segmentierung in der lebensweltlichen wie institutionalisierten Dimension als tendenziell symmetrisch beschreiben, während sich der kurdisch-türkische Konflikt aufgrund der institutionellen Diskriminierung der Kurden als eher asymmetrisch darstellt. Folgt man der Argumentation von Galtung, so wäre zunächst diese Asymmetrie aufzuheben. Konkret würde das bedeuten, die institutionelle Diskriminierung zu beseitigen, indem beispielsweise die Sozialberatung, der muttersprachliche Unterricht und Rundfunksendungen auch in kurdischer Sprache angeboten werden. Als positive Nebeneffekte wären zu erwarten, daß sich zum einen der Vorwurf der „Zwangstürkisierung" der Kurden auf deutschem Boden entkräftigen ließe und zum anderen könnte mit der Befriedigung kultureller und sozialer Bedürfnisse der Kurden extremistischen Organisationen wie der PKK hinsichtlich ihrer Mobilisierungsfähigkeit „das Wasser abgegraben" werden. Die vom Innenministerium ausgesprochenen Verbots Verfügung der PKK gegenüber dürfte, solange man den Kurden keine Alternative für ihre kulturellen und sozialen Anliegen bietet, wirkungslos verpuffen, wenn nicht gar zur Konfliktverschärfung beitragen.

Die Zuständigkeiten und die Verantwortung für diese Angebote sollten dabei jedoch in den Händen von Institutionen der Bundesrepublik liegen, um sich die Möglichkeiten für den Einsatz assoziativ-integrativer Techniken nicht zu erschweren. Integration kann dabei aber nur die Integration in die Gesellschaft der Bundesrepublik meinen, nicht eine wie immer geartete „Re-Integration" in die alte (herkunftsstaats-)nationale Gesellschaft, die darauf abzielen würde, aus Kroaten und Serben wieder

[Seite der Druckausg.: 54 ]

Jugoslawen „zu machen" oder die Kurden weiterhin in die türkische Staatsnation „zu zwingen". Geht man davon aus, daß Remigrationsabsichten der Immigranten sich zunehmend als Illusion erweisen, dann folgt daraus, daß die Bundesrepublik alles daran setzen müßte, die Eingliederung der Einwanderer zu forcieren und zu erleichtern. Dies gilt sowohl für die institutionellen Mechanismen der Systemintegration (politische, ökonomische, rechtliche etc. Inklusion) als auch für die lebensweltliche Sozialintegration.

Besonders gefordert sind dabei die auf kommunaler Ebene eingerichteten und damit näher an den „inter-ethnischen Lebenswelten" ausgerichteten Institutionen der Ausländerbeauftragten und -beiräte. Die konkreten Konflikte dürften in erster Linie in der lebensweltlichen Dimension stattfinden und daher auf der kommunalen Ebene Problemlösungsdruck erzeugen. Es ist anzunehmen, daß die Kompetenzen der kommunalen Ausländerbeauftragten und -beiräte in ihrer heutigen Gestalt zu gering bemessen sind, als daß sie diese „Außenpolitisierung der Innenpolitik" konfliktadäquat bearbeiten könnten. Ihnen käme in diesem Zusammenhang die Funktion zu, als Moderatoren und Schlichter zwischen den „Fronten" der ethnisch segmentierten Minderheiten, sowie zwischen ihnen und den deutschen Behörden zu vermitteln, um die Konfliktparteien in das kommunale Institutionengefüge der Ausländerpolitik und -arbeit einzubinden. Es wäre schon viel gewonnen, wenn es gelänge, die Austragungsformen importierter Konflikte auf nicht-gewaltförmige Modi zu beschränken.

Page Top

Literatur

Bukow, W.-D./Llaryora, R.: Mitbürger aus der Fremde - Soziogenese ethnischer Minderheiten, Opladen 1988.

Esser, H./Friedrichs, J.: Ethnische und kulturelle Identität bei Arbeitsmigranten im interkontextuellen und intergenerationalen Vergleich (unveröff. Forschungsbericht - GHS Essen), Essen/Hamburg 1986.

Galtung, J.: Strukturelle Gewalt, Reinbek b. Hamburg 1975.

Hoffmann-Nowotny, HJ.: Integration, Assimilation und „plurale Gesellschaft". Konzeptuelle, theoretische und praktische Überlegungen, in: Höhn, C./D.B. Rein (Hrsg.): Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, Boppard 1990, S. 15-32.

Mall, R.A.: Zur multikulturellen Gesellschaft: Jenseits von Einheit und Differenz, in: Widersprüche - Münchener Zeitschrift für Philosophie, Nr. 21/1991, S. 25-36.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000

Previous Page TOC Next Page