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Rainer Brötz
Statement zur Gesprächsrunde:
Modernisierungsbedarf und Innovationsfähigkeit des dualen Systems der beruflichen Bildung


Es gibt zwei wesentliche Gründe für eine Reformierung der beruflichen Aus- und Weiterbildung:

  1. Die technischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Rahmenbedingungen haben sich geändert.
  2. Die Rolle der Auszubildenden, deren Sichtweise und Selbstverständnis hat sich gewandelt (junge Erwachsene), und damit einher geht die veränderte Rolle des Ausbildungspersonals, an die andere und neue Anforderungen gestellt werden.

Unser Wohlstand und wirtschaftlicher Erfolg gründet sich auf qualifizierte Arbeiter und Angestellte. Ein Grundpfeiler des Bildungssystems ist das duale System, darin eingebettet ist die Beruflichkeit.

Dieses Bildungssystem muß erhalten, verbessert und ausgebaut werden. Die Bildungsdebatte darf nicht auf Qualifizierung à la just-in-time verkürzt werden.

Ebenso falsch ist auch eine verengte betriebswirtschaftliche Kostenbetrachtung. Hier wird es darauf ankommen, die Betriebswirte und Ökonomisten „im Zaum zu halten". Bildung ist mehr als berufliche Qualifizierung, sie soll den Arbeitnehmer/die Arbeitnehmerin dazu befähigen, ihre eigene Lebens- und Arbeitsplanung vorzunehmen.

In der aktuellen Bildungsdebatte fällt auf, daß der Kostenaspekt dominiert, der Nutzen in den Hintergrund gerät und die Bildungspolitik insgesamt immer mehr in den Würgegriff von einseitigen wirtschaftlichen Interessen gerät.

Für das letztgenannte sollen zwei Beispiele aufgerührt werden:

1. Der von Herrn Rüttgers eingeschlagene Weg der „Modernisierung" entpuppt sich schnell als Rückgriff in die konservative Mottenkiste. Mit

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seinen Vorschlägen nach Schmalspurberufen fällt er sogar hinter das Berufsbildungsgesetz von 1969 zurück.

Er möchte:

  • Z.B. die Flexibilisierung der Berufsschulzeiten: Dies bedeutet nur noch ein Tag Berufsschule mit 8-10 Stunden Unterricht, unter pädagogischen Gesichtspunkten unvertretbar und unannehmbar. Aber so ist die aktuelle Politik. Der CDU-Bundesbildungsminister fordert sie und die niedersächsische SPD-Landesregierung setzt sie als erste um, ohne die Gewerkschaften in den Entscheidungsprozeß einzubeziehen.

  • Die Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes: Keine Freistellung für Erwachsene über 18 Jahre vor und nach der Berufsschule. Dies bedeutet, diese müssen länger arbeiten.

  • Anrechnungspflicht des Berufsgrundbildungsjahres (BGJ) verkürzen, d.h. nur noch halbjährige Anrechnung.

  • Ausbildereignungsverordnung lockern, bedeutet Qualitätsstandards zu senken.

  • Die Handwerksbetriebe werden bei der fachlichen Eignung aufgefordert, ihren Ermessensspielraum besser zu nutzen.

2. Der Versuch der „Mc-Donaldisierung" der Berufe, frei nach der Devise: schlanke Produktion - schlanke Qualifikation! Ein Beispiel dafür ist der vom Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT) vorgeschlagene Katalog mit den sogenannten 23 neuen Berufen.

Im folgenden soll auf drei Fragen eingegangen werden:

  1. Wie entstehen solche Vorschläge?

  2. Wie sind diese „Berufe" zu bewerten?

  3. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Zu 1.

Ein kleiner Maklerverband meldet bei der Industrie- und Handelskammer Augsburg/Schwaben seinen Bedarf für den „Kaufmann/frau für Versicherungsvermittler" an und beabsichtigt, ca. 20 neue Ausbildungsstellen zu

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schaffen. Zur gleichen Zeit wird die Ausbildungsordnung Versicherungskaufmann/frau reformiert und verabschiedet, die die gewünschten Qualifikationen in einem seriösen und geordneten Ausbildungsgang, unter Berücksichtigung des Innen- und Außendienstes, erfaßt. Außerdem gibt es eine Tarifvereinbarung zwischen den Versicherungsarbeitgebern und der Gewerkschaft HBV für die Quereinsteiger im Außendienst zum Versicherungsfachmann/fachfrau. Zwischenzeitlich haben die Spitzenverbände der deutschen Versicherungswirtschaft dem Vorschlag des DIHT widersprochen und auch der Maklerverband hat sich von seinem Vorschlag distanziert.

Zu 2.

Bei den vom DIHT vorgeschlagenen sogenannten Berufen handelt es sich um Anlerntätigkeiten für sogenannte Helferberufe. Für andere Berufsprofile gibt es bereits staatliche Regelungen, allerdings enthalten diese im Unterschied zum DIHT-Vorschlag eine breite Grundbildung. Bei näherer Hinsicht zeigt sich auch, daß der DIHT Arbeitsorganisation und Beruflichkeit verwechselt. Dies läßt sich deutlich an dem Vorschlag des „Möbelservicetechnikers" belegen. Gefordert ist, daß der Auszubildende Auto fahren, Schrankwände aufbauen und mit elektrischem Strom umgehen kann.

Wie bereits in den Vorbemerkungen ausgeführt wurde, stützt sich das deutsche Bildungssystem nicht auf Anlerntätigkeiten, sondern auf die Beruflichkeit im Sinne der Empfehlungen des Bundesausschusses für Berufsbildung von 1974. Unseriös ist, daß nicht gesagt werden kann, wie viele neue Ausbildungsplätze durch sogenannte neue Berufe real geschaffen würden. Fest steht jedoch auch hier, daß sie das quantitative Ausbildungsstellenproblem nicht lösen können.

Zu 3.

Anlerntätigkeiten haben negative Konsequenzen für die spätere berufliche Entwicklung und das Einkommen und sind nicht zuletzt unter sozialpolitischen Gesichtspunkten bei der Anerkennung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente mit Benachteiligungen verknüpft. Der Wirtschaft gehen nicht die Berufe, sondern die Ausbildungsplätze aus. In manchen Bran-

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chen würde durch eine Aufsplittung der Berufe eine verkappte Form der Stufenausbildung geschaffen. Die Reduzierung der Berufe von über 400 staatlich anerkannte auf derzeit 370 Berufe war ein Erfolg und sollte jetzt nicht rückgängig gemacht werden.

Bleibt kritisch anzumerken, daß gerade der DIHT und seine Kammern in der Vergangenheit zu jenen Kräften gehörten, die dem Reformprozeß der Berufe und des Prüfungswesens den härtesten Widerstand entgegengesetzt haben. Jene schwingen sich nun zu den treibenden Kräften des Fortschritts auf!?!

Vorschläge zu einer Modernisierung der Berufsausbildung

  1. Die Schmalspurberufe wie Tankwart (1952), Verkäufer/Verkäuferin (1968), Handelsfachpacker (1956) sollten umgehend abgeschafft werden.

  2. Die großen kaufmännisch-verwaltenden Berufe wie Industriekaufleute, Bankkaufleute, Groß- und Außenhandelskaufleute, Datenverarbeitungskaufleute müssen grundlegend reformiert werden.

  3. Zukunftsorientierte Berufe sind insbesondere im EDV- und Mediensektor (allerdings unter realistischer Einschätzung der Ausbildungs- und Beschäftigungschancen) zu entwickeln. So hat z.B. die deutsche Telekom angekündigt, zunächst weitere 60.000 Arbeitnehmer/Arbeitnehmerinnen wegzurationalisieren. Die Gewerkschaft HBV als die zuständige Fachgewerkschaft für den Dienstleistungsbereich erarbeitet gegenwärtig ein Konzept für die Software- und Computerbranche.

Welche Vorschläge gibt es zur Attraktivitätssteigerung des dualen Systems?

  • Die Gleichstellung von allgemeiner und beruflicher Bildung ist ein wesentlicher Eckpfeiler für die Attraktivitätssteigerung des dualen Systems. Notwendig ist eine Einigung auf eine bundeseinheitliche Regelung ohne Zugangsprüfung durch die Kammern.

  • Schaffung und Erhaltung von ausreichend Ausbildungsplätzen in den Kerndienstleistungsbereichen. Hierzu gehören eine gesetzliche Finanzierungsregelung bzw. tarifvertragliche Vereinbarungen.

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    Die Gewerkschaft HBV wird das vom DGB vorgeschlagene Finanzierungsmodell hinsichtlich der Übertragbarkeit auf ihre Branchen prüfen und unterstützen. Sie erwartet von der SPD-Fraktion die notwendige solidarische Unterstützung für eine gesetzliche Finanzierungsregelung. Die Gewerkschaft HBV favorisiert eine solidarische Umlagefinanzierung, die jene Betriebe belastet, die selbst nicht oder nur unzureichend - gemessen am gesellschaftlichen Bedarf - ausbilden. Zwei Drittel der Betriebe sind Nutznießer. Dies darf nicht sein. Alle Betriebe müssen sich engagieren, sonst ist die Sorge um das Wohl und die Zukunft der jungen Menschen pure Heuchelei. Im Unterschied zu den Arbeitgeberverbänden wollen die Gewerkschaften eine überschaubare gesellschaftliche Regelung und nicht die Selbstbedienungsmentalität aus der Staatsschatulle nach dem Gießkannenprinzip.

    Es drängt sich der Verdacht auf, daß zum Thema „Sparen und Teilen" den herrschenden Kräften in unserer Gesellschaft die Moral abhandengekommen ist. Das Bündnis für Arbeits- und Ausbildungsplätze kann nicht nur einseitiger Lohnverzicht ohne Gegenleistung heißen. Notwendig in diesem Zusammenhang ist und bleibt auch die Finanzierungsregelung der Tarifparteien auf Branchenebene. Denkbar wäre das Bau-Modell, ein Bildungspfennig zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaften usw.

  • Eine weitere Kernforderung ist die Verzahnung der Aus- und Weiterbildung. Das Prinzip lebenslangen Lernens durch die ökonomischen Veränderungen erfordert ein anders Zusammenwirken der Aus- und Weiterbildung, auch unter dem Stichwort Berufs- und Karriereplanung. Dies würde auch ermöglichen, daß die Stoffülle in der Erstausbildung vermieden werden kann. Auf der ordnungstechnischen Seite müßte dies dann zu einer stärkeren Abstimmung von Ausbildungs- und Fortbildungsberufen führen.

  • Auffällig ist auch, daß diejenigen, die von Individualisierung und Differenzierung reden, nicht die Förderung, sondern die Selektion von Lern- und Leistungsschwachen im Auge haben. Individualisierung kann z.B. bei den Lernprozessen ansetzen - durch verschiedene Curricula - und am Lernerfolg des einzelnen orientiert den Berufsabschluß ermöglichen. Dies bedeutet, den Auszubildenden dort abzuholen, wo er/sie steht. Die Differenzierung könnte bedeuten, neben den Mindest-

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    anforderungen bestimmte Wahlmöglichkeiten zu schaffen, wie in der Sekundarstufe II, in der sich der Auszubildende dann z.B. im Bereich Marketing oder in einer Fremdsprache vertiefen kann.

  • Das Prüfungswesen hat Patina angesetzt. Hinterfragt werden muß Art und Inhalt von Prüfungen, die Weiterentwicklung des integrativen Prüfungsansatzes, der die punktuelle Abschlußprüfung in Frage stellt. Ebenfalls ist damit verbunden die Diskussion um die Anerkennung von (schulischen) Vorleistungen.

  • Die Ausbildungsqualität erhalten und verbessern bedeutet, dem Ausbildungspersonal mehr Aufmerksamkeit zu schenken, die Rahmenbedingungen für die Ausbildung zu verbessern. Dazu gehören auch mehr Zeit und Raum für aktive Lern- und Lehrmethoden. Die Profitcenter- und Outsourcing-Entwicklung für die Aus- und Weiterbildung muß gebremst werden, da sonst die Erstausbildung immer mehr zu einer Ware wird, die dann nach Angebot und Nachfrage auf dem „freien Markt" gehandelt wird.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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