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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausgabe: 23]


Friedhelm Eicker
Statement zur Gesprächsrunde:
Modernisierungsbedarf und Innovationsfähigkeit des dualen Systems der (gewerblich-technischen) beruflichen Bildung - Thesen


Das duale System ist nicht in einer Krise, nicht in dem Höhepunkt einer - vorübergehenden - schwierigen Situation; vielmehr ist das duale System in einem Sturz - die Verhinderung des Absturzes läßt dringend besondere Maßnahmen erwarten.

Die anhaltende Kritik der Auszubildenden, der verstärkte Drang der Jugendlichen an die Universitäten, der zunehmende Personalabbau auf Facharbeiterniveau und noch viel mehr an Ausbildungsplätzen bei gleichzeitig stark gesteigerter Produktivität, das weiterhin geringe Interesse der europäischen und der entfernteren Nachbarn an der dualen Berufsbildung u.v.a. lassen die Abkehr von dem dualen System erwägen.

Das duale System ist kein Wert an sich - jugendliche, betriebliche und gesellschaftliche Erwartungen und Notwendigkeiten lassen sich auch alternativ erfüllen.

Es ist kaum sinnvoll, auf ein nicht-tradiertes Berufsbildungssystem zurückzugreifen; die gegebene Bildungstradition legt das Festhalten an dem - zu modernisierenden - dualen System nahe.

Selbstverständlich muß allen Jugendlichen eine Berufsbildung ermöglicht und diese finanziert werden; der wohl fortschreitende Mangel an Ausbildungsplätzen erfordert eine neue Regelung der Finanzierung des dualen Systems - diese Neuregelung wird zwangsläufig früher oder später kommen.

Offensichtlich ist das „Produkt" des dualen Systems nicht mehr hinreichend gefragt bzw. sein „Aufwand/Ertrag-Verhältnis" ist nicht mehr ausreichend akzeptiert. Die Abwendung des Absturzes des dualen Systems läßt deshalb neben der ausreichenden Bereitstellung von Ausbildungsplätzen eine Verbesserung der Qualität der dualen Berufsbildung erwarten.

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Das duale System muß vor allem seine Innovationsfähigkeit wieder herstellen bzw. verbessern - die Berufsschule und ihre Partner müssen sich permanent selbst erneuern (den sich ständig verändernden Anforderungen entsprechend) und sie müssen fortwährend auch Impulse für neue - regionale - Entwicklungen geben.

Die veränderten Ansprüche der Jugendlichen (die erwartete umfängliche Hilfe für eine selbständige, aktive Arbeits- und Lebensgestaltung) und die neuen Modernisierungsstrategien in den Betrieben (bedingt durch veränderte Marktbedingungen, daraufhin weiterentwickelte Produktions- und Arbeitskonzepte, die neue Anforderungen an die Organisations- und Personalentwicklungen stellen) lassen eine neue Dualität in der Berufsbildung erwarten.

Die traditionelle Dualität zeichnet sich in der Regel dadurch aus, daß die Dualpartner je für sich - ihren Ausbildungsplänen bzw. Lehrplänen entsprechend - ihr Lehren und Lernen gestalten, sie tendenziell Nicht-Kommunikation anstreben (und sie das „Nicht-miteinander-sprechen-müssen" als optimale Form der Zusammenarbeit empfinden). In der neuen Dualität muß beachtet werden, daß mit neuen Kooperationsformen nur bedingt eine neue Qualität der Ziele und Inhalte einhergeht. Deshalb: Der ständigen Überlegung und Diskussion bedürfen neue Formen der Zusammenarbeit und vor allem neue Kooperationsziele und -inhalte.

Alle überregionalen Vorgaben für die Berufsschule und ihre Partner müssen auf ein Minimum beschränkt werden und fortlaufend aktualisiert werden.

In den Regionen sollten die Planungs-, Koordinierungs- und Aufsichtsinstitutionen (vor allem der ministeriellen Verwaltungen und der Kammern) in ihrer Rolle als innovative Berufsbildungsberater gestärkt werden.

Die Berufsschule und ihre Betriebe sollten regionale Lernortverbünde bilden, in denen sie sich ergänzen, sie unsinnige „Theorie"- und „Praxis"-Teilungen überwinden, sie sich weitmöglichst in einem „gemeinsamen Curriculum" abstimmen, sie ihre jeweiligen didaktischen Möglichkeiten entfalten.

In jedem Lernortverbund sollten die Ausbildungsbeauftragten (die „Vor-Ort"-Ausbilder), die Ausbilder (der Ausbildungswerkstätten) und die Berufsschullehrer, die dieselben Jugendlichen unterrichten, im Rahmen

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der ihnen gegebenen Vorgaben kontinuierlich selbständig und gemeinsam ihr Lehren planen und durchführen sowie dessen Qualität sichern, in einer ständigen didaktischen Konferenz/in einem Qualitätszirkel, weitmöglichst unter Beteiligung der Lernenden und externer Experten.

Die Berufsschule und ihre Partner sollten gemeinsam ein „offenes, flexibles, abgestimmtes, integrierendes, baukastenförmiges Bildungssystem" organisieren, das ...

  • von der vorberuflichen Bildung über die Erstausbildung bis zur beruflichen Fort-/Weiterbildung reicht und auch besondere Dienste anzubieten erlaubt (beispielsweise Beratungen, Vorträge, Ausstellungen, Diskussionsforen zu neuen Arbeits- und Technikentwicklungen/Stichwort: „Didaktische Gewerbeförderung", vor allem kleinerer und mittlerer Betriebe),

  • neue Arbeiten/Arbeitsentwicklungen und Techniken aufzugreifen und mitzugestalten erlaubt,

  • am Arbeitsplatz („vor Ort"), in der Ausbildungswerkstatt und in der Schule ein abgestimmtes und gleichschrittiges Lernen ermöglicht (eine integrierte Berufsbildung, wie sie etwa von der Siemens AG in Berlin angestrebt wird),

  • nicht durch unnötige Teilungen gekennzeichnet ist (immer noch gibt es Schulen und auch Betriebe, die die Lernenden mit der wohl schwierigsten Aufgabe allein lassen, getrennt Vermitteltes zusammenzubringen - durch unsinnige personelle, zeitliche, räumliche, inhaltliche Teilungen/durch das überholte Lehren und Lernen in einzelnen Fächern),

  • eine inhaltlich integrierte Berufsbildung und Allgemeinbildung zu vermitteln gestattet,

  • ganzheitliches, experimentierendes, gestaltendes, handlungsorientiertes, begreifendes Lernen fördert,

  • auch den unterschiedlichen und sich ändernden Neigungen der Lernenden zu entsprechen erlaubt, durch

    • Pflichtteile, die die Inhalte ansprechen, die die Lernenden annehmen müssen,

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    • Wahlpflichtteile, die es den Lernenden erlauben, eigene Schwerpunkte zu setzen,

    • Wahlteile, die auf besondere Interessen der Lernenden abstellen,

  • eine abschichtende und gemeinsame Bewertung der Lernenden erlaubt, der betrieblichen und der schulischen Leistungen. [Fn. 1: Anregungen zu den letzten Thesen sollen in dem neuen Modellversuch KONSIL -„Kontinuierliche Selbstorganisation von Innovationen im Lernortverbund 'Berufsschule-Betrieb' am Beispiel des neuen Berufs 'Prozeßleitelektroniker/-in' - ein Beitrag zu einer neuen Dualität in der Berufsbildung" - gewonnen werden, den die Stahlwerke Bremen GmbH und die Berufsschule für Elektrotechnik in Bremen durchführen.]

Es sind neue Trägerschaften zu erproben, in denen die Berufsschule und ihre Partner gemeinsam ihre Aufgaben besser erfüllen und ihre Innovationsfähigkeit entfalten können. [Fn. 2: Beispielsweise die Gemeinnützige GmbH; Anregungen kann etwa die „Handwerk/Universität/Schule-Zentrum für Gebäudeautomation Gemeinnützige GmbH" in Bremen geben.]

Der Gefahr sollte entgegengewirkt werden, daß die Berufsschulen von regionalen Entwicklungen abgekoppelt werden, ihr Innovationspotential ungenutzt bleibt; die Berufsschulen müssen offensiv ihre Rolle als ein zentraler regionaler Innovationsträger annehmen, als Dreh- und Angelpunkte in Verbünden der regionalen Innovationsträger - dementsprechend müssen sich die Berufsschulen zu regionalen Innovationszentren weiterentwickeln, zu Berufsbildungs- und Dienstleistungszentren,

  • die in ihrer Region nachgefragt sind (weil sie sich den neuen Bedürfnissen ihrer Betriebe zuwenden und nicht in den traditionellen Konzepten verharren; dieses nicht nur mit Blick auf die Industriebetriebe, schon bald auch mit Blick auf die Handwerksbetriebe, in denen - begünstigt durch die neuen Handwerkstechniken (etwa durch die Gebäudeleittechnik) - neue Marktstrategien neue Anforderungen an die Organisations- und Personalentwicklungen erwarten lassen),

  • von denen Initiativen für regionale Entwicklungsprojekte ausgehen,

  • die sich kontinuierlich selbst weiterentwickeln,

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  • die die regionalen Innovationsträger zu einem Dialog und zum gemeinsamen Handeln zusammenbringen.

Im Rahmen der gesetzten bildungspolitischen Maßstäbe/der überregionalen und der regionalen Vorgaben sollten die Berufsschulen autonom ihre Aufgaben definieren und wahrnehmen - dafür sind die Voraussetzungen zu schaffen. [Fn. 3: Wirtschaftliche Autonomie, curriculare Autonomie u.v.a.; Anregungen können in dem Pilotprojekt „Autonomere berufliche Schulen" in Bremen gewonnen werden.]

Damit die Berufsschulen ihre - erweiterten - Aufgaben wahrnehmen können, bedürfen sie der stärkeren Einbindung in die jeweilige regionale Forschung und Entwicklung (F+E) - Infrastruktur - hierfür bietet sich die Einrichtung von F+E-Transferstellen an. Es ist notwendig, daß die Arbeit und die Weiterentwicklung der Berufsschulen permanent dem aktuellen Stand der F+E im Bereich „Arbeit-Technik-Berufsbildung" entsprechen - dieses ist bisher kaum der Fall; die Schulen erhalten zumeist nur punktuell und in zeitlich befristeten Unterrichts-, Schul-, Modell-, EU-Versuchen bzw. in ähnlichen Projekten wissenschaftliche Anregungen und Beratungen.

Durch die F+E-Transferstellen soll erreicht werden, daß

  • der Wissenschaftstransfer zu den Berufsschulen (und damit zu deren Partnern) verbessert wird,

  • das Lehren und Lernen und die besonderen Dienste sowie die Organisations- und Personalentwicklungen der Berufsschulen vermehrt aus wissenschaftlicher Sicht initiiert und unterstützt werden,

  • die Bildungs-, Organisationsentwicklungs- und Personalentwicklungsfragen der Berufsschulen stärker in die wissenschaftliche F+E und Lehre eingebracht werden.

Die angestrebte Weiterentwicklung der Berufsschulen setzt die Ausbildung einer neuen Professionalität der Lehrer voraus, den Berufspädagogen als stets kompetenten, aktiven und innovativen Lehrer - dieses läßt modifizierte Lehrerausbildungen in den beruflichen Fachrichtungen erwarten, ebenso auf die neuen Aufgaben abstellende Lehrerfortbildungen und nicht zuletzt neue Arbeits- und Arbeitszeitregelungen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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