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Hartmut Häußermann
Segregation und Ausgrenzung - Ursachen und Folgen sozialräumlicher Segregation


Die Herausbildung von stark segregierten innerstädtischen Gebieten, in denen sich eine sozial benachteiligte Bevölkerung konzentriert, gehört zu den besorgniserregenden Erscheinungen gegenwärtiger Stadtentwicklung in allen westlichen Ländern. Im folgenden Beitrag sollen die verschiedenen Ursachen dieser Entwicklung analysiert und ihre (befürchteten) Folgen dargestellt werden.

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1. Suburbanisierung als Entmischung

Ausgangsannahme bzw. -tatsache ist die zunehmende Segregation in den großen Städten. These ist, daß sich heutige Segregationsprozesse insofern von 'alten' unterscheiden, als sie nicht nur ökonomischen Determinanten folgen (also nur die ärmsten unfreiwillig segregiert leben), sondern sich mit zunehmendem Gewicht aus Wahlentscheidungen privater Haushalte ergeben. Auch das ist prinzipiell nichts Neues, wie sich die extreme Segregation der Reichsten zeigte, aber diese Wahlfreiheit hat sich nach unten ausgedehnt, ist gleichsam in die Mittelschichten heruntergesickert - als Ergebnis eines besseren und umfangreicheren Wohnungsangebotes zu bezahlbaren Preisen. Suburbanisierung war schon immer der Prozeß, in dem sich ein Motivbündel aus Kaufkraft, Lebensstil, Eigentumsbildung und Wohnstandortwünschen der Mittelschicht niederschlug.

In Berlin wirkt außerdem das ausgeweitete (Mietwohnungs-)Angebot innerhalb der Stadt, das überwiegend frei finanziert oder im zweiten Förderungsweg subventioniert wurde, so daß eine bestimmte Höhe beim Haushaltseinkommen Voraussetzung für die Wahrnehmung dieser Chancen ist - mit dem Effekt, daß die einkommensstärkeren Haushalte, i.d.R. Familien (mit Kindern) abwandern und zur Entmischung der innerstädtischen Quartiere beitragen. Dieser Effekt ist besonders wirksam, wenn es keine Zuwanderung von neuen Bewohnern mit höheren Einkommen gibt, die in die freiwerdenden Wohnungen nachziehen (bis auch sie dem Pfad in die Peripherie folgen).

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Zuzug nach Berlin besteht überwiegend aus Immigranten aus dem Ausland, die nicht von einem aufnahmebereiten Arbeitsmarkt angezogen werden, sondern entweder von schon anwesenden Familienmitgliedern oder die aus Not (Krieg, Armut) zum Verlassen ihrer Heimat veranlaßt worden sind.

Die Suburbanisierung (innerstädtisch und regional) wird stärker als früher (oder anderswo) zur Ursache von Segregation, weil sie nicht Teil eines Wachstumsprozesses ist, in dessen Verlauf sozialer Aufstieg mit Randwanderung und Verbesserung der Wohnverhältnisse verbunden ist, und in den nach und nach im Prinzip alle Haushalte einbezogen sind, vielmehr findet Suburbanisierung und Randwanderung statt, obwohl die Bevölkerungszahl schrumpft. Den Suburbanisierern folgen nicht alle innerstädtischen Haushalte nach, weil sie verarmen und immer seltener eine Wahlfreiheit bei der Wohnstandortwahl haben.

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2. Verteilungsmechanismen

Die Verteilung von Wohnstandorten erfolgt einerseits durch Marktprozesse, andererseits durch Zuteilung von Wohnungen bzw. Wohnberechtigungen über die Wohnungsämter.

Bei marktförmiger Verteilung spielen die verfügbaren Arbeitseinkommen bzw. Sozialtransfers die entscheidende Rolle für das räumliche und qualitative Spektrum, in dem eine Wohnung gesucht werden kann. Der Arbeitsmarkt ist also eine erste Instanz, dessen Ergebnisse über den Wohnungsmarkt in eine räumliche Verteilung umgesetzt werden.

Neben dem marktförmigen Sektor existiert der öffentlich subventionierte und regulierte Sektor, zu dem der Zugang eingeschränkt ist und der zum Teil nach Kriterien des Bedarfs durch Einweisung verteilt wird (Wohnungsnotfälle, höchste Dringlichkeit).

So entstehen im marktwirtschaftlichen Segment stark segregierte Gebiete, im öffentlich subventionierten solche mit größerer sozialer Mischung - insbesondere dann, wenn es zahlreiche 'Fehlbeleger' gibt, d.h. Haushalte mit einem Einkommen, das über den für die Bezugsberechtigung maßgeblichen Grenzen liegt. Allerdings gibt es auch die Fälle, wo im öffentlich subventionierten Wohnungsbau von Beginn an eine problemträchtige Konzentration bestand.

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3. Der soziale Wandel und seine Ursachen

Eine wachsende Zahl von Haushalten mit niedrigen Einkommen führt zu Veränderungen in der sozialen Lage der Quartiersbevölkerung und - vermittelt über Umzugsbewegungen - auch zu Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung von Quartieren. Wir betrachten hier nur soziale Degradierungsprozesse, also das, was umgangssprachlich als 'Abwärtsentwicklung' oder dramatisierend, aber ungenau 'Umkippen' genannt wird. Es gibt zwei Mechanismen, die ein Quartier zu einem besonders problembehafteten machen können. Man kann analytisch zwischen einer primären bzw. direkten und einer sekundären bzw. indirekten Segregation unterscheiden:

a) Die primäre bzw. direkte Segregation, der Fahrstuhleffekt: In einem bereits segregierten Gebiet wohnen vor allem Haushalte, die niedrige Einkommen haben, weil sie entweder - wegen geringer beruflicher Qualifikation - in den sekundären Arbeitsmarktsegmenten beschäftigt oder von Sozialtransfers abhängig sind. Mit der Arbeitsmarktkrise nimmt die Arbeitslosigkeit zu und mit den verschiedenen Kürzungsrunden bei Sozialtransfers steigt die Bevölkerung des Quartiers kollektiv ab. Die Anteile der Sozialhilfebezieher nehmen zu, die Kaufkraft sinkt. Aus einem 'Arbeiterviertel' ist ein 'Armutsviertel' geworden, ohne daß jemand weg- oder zugezogen ist - die Ursachen sind also weitgehend exogen.

b) Die sekundäre bzw. indirekte Segregation, der Mobilitätseffekt: Auch in einem sozial gemischten Quartier wird Arbeitslosigkeit und Armut im öffentlichen Raum sichtbar und spürbar - u.a. weil sie auch dort zunehmen; die üblichen Umzugsbewegungen im Quartier sind sozial selektiv, d.h. für jeden weggezogenen Haushalt mit Einkommen zieht ein Haushalt ohne Einkommen nach. Da in solchen Quartieren die Anteile von Immigranten relativ hoch sind, gibt es reichlich Konflikte in der Schule und in den Bereichen, wo Jugendliche sich aufhalten und bewegen (Straßen, Jugendeinrichtungen). Im öffentlichen Raum werden Verwahrlosungserscheinungen immer deutlicher - Verwahrlosung des öffentlichen Raums selbst, Verwahrlosung aber auch durch sozial lästige Verhaltensweisen (Aggressivität und alkoholbedingte Belästigungen). Aufgrund der sinkenden Kaufkraft verändert sich auch das Angebot von Läden und Dienstleistungsbetrieben im Preis- und Qualitätsniveau 'nach unten', bestimmte Angebote fallen ganz weg (z.B. Blumenläden, Büchereien, etwas teurere Geschäfte) - das Angebot paßt sich den Durchschnittseinkommen an, aus der Sicht derjenigen mit

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höheren Einkommen verschlechtert es sich. Vor allem Familien mit Kindern verlassen das Gebiet, weil sie die Zukunftschancen ihrer Kinder in den konfliktgeladenen Schulen mit hohem Anteil nicht deutsch sprechender Schüler gefährdet sehen. Dabei können nur diejenigen abwandern, die zu den sozial und ökonomisch integrierten Gruppen gehören, weil sie noch einer Erwerbsarbeit nachgehen. Sie wenden sich von den problem- und konfliktbeladenen Nachbarschaften ab und suchen sozial homogenere Wohngebiete.

Durch die selektiven Ab- und Zuwanderungen entsteht eine starke soziale Segregation, eine kumulative Abwärtsspirale ist in Gang gekommen, an deren Ende ein stark problembehaftetes Quartier steht.

In die Abwärtsspirale durch selektive Mobilität mischen sich endogene und exogene Ursachen. Exogen verursacht sind Armut und Arbeitslosigkeit, endogen verursacht sind Konflikte, für die es keine eindeutigen Normen und vor allem keine sozialen Institutionen mehr gibt, die ihnen Geltung verschaffen würden. Niemand fühlt sich so recht verantwortlich für das Quartier, jede Gruppe hat ihre Gründe, sich innerlich abzuwenden; Institutionen unterhalb der staatlichen Ebene existieren nicht mehr, die soziale Konflikte austragen und soziale Kontrolle ausüben: In den Arbeitervierteln gibt es keine Arbeiterkultur mehr. Kirchengemeinden können die Integrationsleistungen nicht erbringen, Nachbarschaften funktionieren nicht mehr als Kontrollinstanzen, die mikrosozialen Einrichtungen (Familien, Lebensgemeinschaften) haben an Bindewirkung verloren, was in erheblichem Maße anomische Wirkungen insbesondere auf Kinder und Jugendliche hat. Das Milieu wird durch Konflikt, Gewalt, Anomie, Resignation und Entsolidarisierung geprägt.

ür die Abwanderung kann in den meisten Fällen nicht die Qualität der Wohnung verantwortlich gemacht werden, denn in den problembehafteten Quartieren finden wir in allen Städten auch sehr junge Baubestände. Freiraum- und Umfeldqualitäten (die ihrerseits wieder eine starke soziale Dimension haben) sowie Versorgungsgrad und -niveau mit Infrastruktur (Schulen, Freizeitmöglichkeiten) spielen neben dem Wunsch nach sozialer Homogenität der Nachbarschaft wahrscheinlich die entscheidende Rolle.

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4. Segregierte 'Problemgebiete'

Ob durch Fahrstuhleffekt oder durch selektive Mobilität entstanden - am Ende einer kumulativen Abwärtsspirale stehen hoch segregierte Gebiete, in

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denen sich die ökonomisch, sozial und kulturell diskriminierten Gruppen der Stadt versammeln und konzentrieren. Daraus entsteht nicht automatisch und notwendig ein Elendsgebiet oder ein 'Ghetto', denn segregierte Gebiete zeichnen sich nicht notwendigerweise durch soziale Desorganisation aus (das war der Fehlschluß der frühen Sanierungspolitik, daß in schlechten Wohnungen auch nur soziales Elend wohnen könne). Insbesondere manche Zuwanderergruppen verfügen noch über starke Familienstrukturen und erweiterte Verwandtschaftsnetze, die einen wichtigen Faktor sozialer Integration und Stabilität bilden können. Ehe ein Urteil über ein segregiertes Gebiet abgegeben und eine politische Intervention geplant wird, sind daher genauere Untersuchungen über die internen Strukturen und Beziehungen eines solchen Quartiers notwendig.

Besonders problematisch wird allerdings die Situation dann, wenn das Leben und Wohnen in einem bestimmten Quartier selbst zu einem Faktor der Benachteiligung wird, wenn also aus einem Quartier der Benachteiligten ein benachteiligendes Quartier wird.

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5. Effekte der Segregation

In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird heute überwiegend davon ausgegangen, daß Gebiete mit hoher Konzentration von Armen einen Ort bilden, von dem negative Effekte auf die Bewohner ausgehen, der also benachteiligende Effekte hat. Die möglichen Wirkungen sind:

  1. Die Einschränkung der Erfahrungswelt insbesondere von Jugendlichen und Kindern durch die fehlende Repräsentation von sozialen Rollen, die ein 'normales' Leben ausmachen (z.B. Erwerbstätigkeit, regelmäßiger Schulbesuch etc.).

  2. Die Verwahrlosung des öffentlichen Raums und rücksichtsloses Verhalten stellen eine Demütigung und Kränkung dar, die negativ auf das Selbstbild und auf die Bereitschaft zu sozialem Engagement wirken.

  3. Aufgrund negativer sozialer Auslese der Bewohner läßt auch das Bemühen der öffentlichen Einrichtungen um eine gewisse Qualität ihrer Leistungen nach. Auch quantitativ kann es zu Angebotseinschränkungen kommen, gegen die sich die Bewohner nicht wehren können.

  4. Durch den Wegzug der Qualifizierteren und Integrierten geht dem Gebiet auch soziale Kompetenz verloren, die notwendig wäre, um Forderungen

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    an die politischen Instanzen zu richten und durchzusetzen. In den städtischen Verteilungskämpfen verlieren diese Gebiete an Gewicht, da der Anteil von Nichtwahlberechtigten (Ausländer) und Nichtwählern besonders hoch ist.

  5. Ist erst eine gewisse Stufe in der Abwärtsentwicklung erreicht, setzt ein Stigmatisierungs- und Labelingprozeß durch die Umwelt ein, der sich nachteilig auf die sozialen Teilhabechancen insbesondere bei der Lehrstellen- und Jobsuche auswirkt.

  6. In segregierten Quartieren können zwar sehr dichte soziale Netze existieren (starke Sozialintegration), die aber weitgehend homogen sind; aus der Netzwerkforschung ist bekannt, daß dichte und homogene Netze bei der systemischen Integration eher benachteiligend wirken im Gegensatz zu lockeren und heterogenen Netzen.

  7. Der Verlust an integrierten Gruppen (Familien, Erwerbstätige, Qualifizierte) verringert die soziale Stabilität im Quartier, weil die (Peer-)Träger von quartiersbezogenen Institutionen, Vereinen, Initiativen nicht mehr vorhanden sind. Damit gehen auch konfliktmoderierende Potentiale verloren.

  8. Zwar ist die ethnische Segregation insofern ein Sonderfall, als ihr ambivalente Wirkungen zugeschrieben werden (Binnenintegration und Diskriminierung), aber in ethnisch stark segregierten Quartieren kann es zu dem ausgesprochen negativen Effekt kommen, daß die erzwungene Segregation durch ethnische Eliten für den Aufbau politisch und/oder religiös motivierter Abhängigkeitsverhältnisse ausgenutzt wird. Das kann zu scharfen sozialen Kontrollen und zum Abschneiden von Wegen in die Mehrheitsgesellschaft führen.

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6. Politische Intervention - strategische Ansätze

In Anlehnung an wohlfahrtstheoretische Überlegungen können strategische Ansätze daraus entwickelt werden, daß danach gefragt wird, welche Komponente im Wohlfahrtsdreieck (Haushalt/Selbsthilfe, Markt, Staat) unter welchen Bedingungen gestärkt werden kann.

In den depravierten Vierteln bestehen Schwächen oder Defizite in allen drei Dimensionen:

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  • Haushaltsproduktion (generell reziproke Beziehungen) ist nur produktiv, wenn Ressourcen bereits vorhanden und eine funktionsfähige soziale Einheit (erweiterte Familie, funktionierende Nachbarschaft, Arbeitskollegen) verfügbar sind. Die soziale Situation von Haushalten in den problembehafteten Gebieten ist aber eher durch Isolation und schwache informelle Beziehungen gekennzeichnet (zerbrochene Familien, Ein-Eltern-Familien, mit starken Verhaltens- oder Gesundheitsproblemen belastet). Die gegenseitige Hilfe funktioniert bei denen, die am stärksten auf sie angewiesen sind, am wenigsten. Selbsthilfe spaltet zwischen solchen Haushalten mit und solchen ohne soziales Netz.

  • In Fragen der Redistribution durch staatliche Umverteilungspolitik haben die problembeladenen Quartiere eine schwache Position wegen fehlender politischer Rechte von Zuwanderern und wegen politischer Apathie der marginalisierten Bevölkerung; in alten und schlecht ausgestatteten Vierteln sind auch die öffentlichen Dienstleistungen defizitär. Staatliche Eingriffe stigmatisieren möglicherweise, was eine zusätzliche Belastung für die Bewohner bedeuten kann.

  • Der Arbeitsmarkt ist die Ursache der Probleme, notwendig ist also ein Ausweichen auf den zweiten Arbeitsmarkt und die Entfaltung der Potentiale von ethnischen Ökonomien.

Es gibt keinen Königsweg, keine einzelne Strategie. Ein Mix aus allen drei Sphären ist notwendig, entwickelt aus und vermittelt durch eine starke Beteiligung der Bewohner, die zum 'Empowerment' führen soll. 'Quartiersmanagement' ist inzwischen zum Fachbegriff dafür geworden, was notwendig ist: eine neue Form sozial engagierter Quartierspolitik.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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