FES | ||
|
|
TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 11 ] Hartmut Häußermann
Die Herausbildung von stark segregierten innerstädtischen Gebieten, in denen sich eine sozial benachteiligte Bevölkerung konzentriert, gehört zu den besorgniserregenden Erscheinungen gegenwärtiger Stadtentwicklung in allen westlichen Ländern. Im folgenden Beitrag sollen die verschiedenen Ursachen dieser Entwicklung analysiert und ihre (befürchteten) Folgen dargestellt werden. 1. Suburbanisierung als Entmischung Ausgangsannahme bzw. -tatsache ist die zunehmende Segregation in den großen Städten. These ist, daß sich heutige Segregationsprozesse insofern von 'alten' unterscheiden, als sie nicht nur ökonomischen Determinanten folgen (also nur die ärmsten unfreiwillig segregiert leben), sondern sich mit zunehmendem Gewicht aus Wahlentscheidungen privater Haushalte ergeben. Auch das ist prinzipiell nichts Neues, wie sich die extreme Segregation der Reichsten zeigte, aber diese Wahlfreiheit hat sich nach unten ausgedehnt, ist gleichsam in die Mittelschichten heruntergesickert - als Ergebnis eines besseren und umfangreicheren Wohnungsangebotes zu bezahlbaren Preisen. Suburbanisierung war schon immer der Prozeß, in dem sich ein Motivbündel aus Kaufkraft, Lebensstil, Eigentumsbildung und Wohnstandortwünschen der Mittelschicht niederschlug. In Berlin wirkt außerdem das ausgeweitete (Mietwohnungs-)Angebot innerhalb der Stadt, das überwiegend frei finanziert oder im zweiten Förderungsweg subventioniert wurde, so daß eine bestimmte Höhe beim Haushaltseinkommen Voraussetzung für die Wahrnehmung dieser Chancen ist - mit dem Effekt, daß die einkommensstärkeren Haushalte, i.d.R. Familien (mit Kindern) abwandern und zur Entmischung der innerstädtischen Quartiere beitragen. Dieser Effekt ist besonders wirksam, wenn es keine Zuwanderung von neuen Bewohnern mit höheren Einkommen gibt, die in die freiwerdenden Wohnungen nachziehen (bis auch sie dem Pfad in die Peripherie folgen). [Seite der Druckausg.: 12 ] Zuzug nach Berlin besteht überwiegend aus Immigranten aus dem Ausland, die nicht von einem aufnahmebereiten Arbeitsmarkt angezogen werden, sondern entweder von schon anwesenden Familienmitgliedern oder die aus Not (Krieg, Armut) zum Verlassen ihrer Heimat veranlaßt worden sind. Die Suburbanisierung (innerstädtisch und regional) wird stärker als früher (oder anderswo) zur Ursache von Segregation, weil sie nicht Teil eines Wachstumsprozesses ist, in dessen Verlauf sozialer Aufstieg mit Randwanderung und Verbesserung der Wohnverhältnisse verbunden ist, und in den nach und nach im Prinzip alle Haushalte einbezogen sind, vielmehr findet Suburbanisierung und Randwanderung statt, obwohl die Bevölkerungszahl schrumpft. Den Suburbanisierern folgen nicht alle innerstädtischen Haushalte nach, weil sie verarmen und immer seltener eine Wahlfreiheit bei der Wohnstandortwahl haben. 2. Verteilungsmechanismen Die Verteilung von Wohnstandorten erfolgt einerseits durch Marktprozesse, andererseits durch Zuteilung von Wohnungen bzw. Wohnberechtigungen über die Wohnungsämter. Bei marktförmiger Verteilung spielen die verfügbaren Arbeitseinkommen bzw. Sozialtransfers die entscheidende Rolle für das räumliche und qualitative Spektrum, in dem eine Wohnung gesucht werden kann. Der Arbeitsmarkt ist also eine erste Instanz, dessen Ergebnisse über den Wohnungsmarkt in eine räumliche Verteilung umgesetzt werden. Neben dem marktförmigen Sektor existiert der öffentlich subventionierte und regulierte Sektor, zu dem der Zugang eingeschränkt ist und der zum Teil nach Kriterien des Bedarfs durch Einweisung verteilt wird (Wohnungsnotfälle, höchste Dringlichkeit). So entstehen im marktwirtschaftlichen Segment stark segregierte Gebiete, im öffentlich subventionierten solche mit größerer sozialer Mischung - insbesondere dann, wenn es zahlreiche 'Fehlbeleger' gibt, d.h. Haushalte mit einem Einkommen, das über den für die Bezugsberechtigung maßgeblichen Grenzen liegt. Allerdings gibt es auch die Fälle, wo im öffentlich subventionierten Wohnungsbau von Beginn an eine problemträchtige Konzentration bestand. [Seite der Druckausg.: 13 ] 3. Der soziale Wandel und seine Ursachen Eine wachsende Zahl von Haushalten mit niedrigen Einkommen führt zu Veränderungen in der sozialen Lage der Quartiersbevölkerung und - vermittelt über Umzugsbewegungen - auch zu Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung von Quartieren. Wir betrachten hier nur soziale Degradierungsprozesse, also das, was umgangssprachlich als 'Abwärtsentwicklung' oder dramatisierend, aber ungenau 'Umkippen' genannt wird. Es gibt zwei Mechanismen, die ein Quartier zu einem besonders problembehafteten machen können. Man kann analytisch zwischen einer primären bzw. direkten und einer sekundären bzw. indirekten Segregation unterscheiden: a) Die primäre bzw. direkte Segregation, der Fahrstuhleffekt: In einem bereits segregierten Gebiet wohnen vor allem Haushalte, die niedrige Einkommen haben, weil sie entweder - wegen geringer beruflicher Qualifikation - in den sekundären Arbeitsmarktsegmenten beschäftigt oder von Sozialtransfers abhängig sind. Mit der Arbeitsmarktkrise nimmt die Arbeitslosigkeit zu und mit den verschiedenen Kürzungsrunden bei Sozialtransfers steigt die Bevölkerung des Quartiers kollektiv ab. Die Anteile der Sozialhilfebezieher nehmen zu, die Kaufkraft sinkt. Aus einem 'Arbeiterviertel' ist ein 'Armutsviertel' geworden, ohne daß jemand weg- oder zugezogen ist - die Ursachen sind also weitgehend exogen. b) Die sekundäre bzw. indirekte Segregation, der Mobilitätseffekt: Auch in einem sozial gemischten Quartier wird Arbeitslosigkeit und Armut im öffentlichen Raum sichtbar und spürbar - u.a. weil sie auch dort zunehmen; die üblichen Umzugsbewegungen im Quartier sind sozial selektiv, d.h. für jeden weggezogenen Haushalt mit Einkommen zieht ein Haushalt ohne Einkommen nach. Da in solchen Quartieren die Anteile von Immigranten relativ hoch sind, gibt es reichlich Konflikte in der Schule und in den Bereichen, wo Jugendliche sich aufhalten und bewegen (Straßen, Jugendeinrichtungen). Im öffentlichen Raum werden Verwahrlosungserscheinungen immer deutlicher - Verwahrlosung des öffentlichen Raums selbst, Verwahrlosung aber auch durch sozial lästige Verhaltensweisen (Aggressivität und alkoholbedingte Belästigungen). Aufgrund der sinkenden Kaufkraft verändert sich auch das Angebot von Läden und Dienstleistungsbetrieben im Preis- und Qualitätsniveau 'nach unten', bestimmte Angebote fallen ganz weg (z.B. Blumenläden, Büchereien, etwas teurere Geschäfte) - das Angebot paßt sich den Durchschnittseinkommen an, aus der Sicht derjenigen mit [Seite der Druckausg.: 14 ] höheren Einkommen verschlechtert es sich. Vor allem Familien mit Kindern verlassen das Gebiet, weil sie die Zukunftschancen ihrer Kinder in den konfliktgeladenen Schulen mit hohem Anteil nicht deutsch sprechender Schüler gefährdet sehen. Dabei können nur diejenigen abwandern, die zu den sozial und ökonomisch integrierten Gruppen gehören, weil sie noch einer Erwerbsarbeit nachgehen. Sie wenden sich von den problem- und konfliktbeladenen Nachbarschaften ab und suchen sozial homogenere Wohngebiete. Durch die selektiven Ab- und Zuwanderungen entsteht eine starke soziale Segregation, eine kumulative Abwärtsspirale ist in Gang gekommen, an deren Ende ein stark problembehaftetes Quartier steht. In die Abwärtsspirale durch selektive Mobilität mischen sich endogene und exogene Ursachen. Exogen verursacht sind Armut und Arbeitslosigkeit, endogen verursacht sind Konflikte, für die es keine eindeutigen Normen und vor allem keine sozialen Institutionen mehr gibt, die ihnen Geltung verschaffen würden. Niemand fühlt sich so recht verantwortlich für das Quartier, jede Gruppe hat ihre Gründe, sich innerlich abzuwenden; Institutionen unterhalb der staatlichen Ebene existieren nicht mehr, die soziale Konflikte austragen und soziale Kontrolle ausüben: In den Arbeitervierteln gibt es keine Arbeiterkultur mehr. Kirchengemeinden können die Integrationsleistungen nicht erbringen, Nachbarschaften funktionieren nicht mehr als Kontrollinstanzen, die mikrosozialen Einrichtungen (Familien, Lebensgemeinschaften) haben an Bindewirkung verloren, was in erheblichem Maße anomische Wirkungen insbesondere auf Kinder und Jugendliche hat. Das Milieu wird durch Konflikt, Gewalt, Anomie, Resignation und Entsolidarisierung geprägt. ür die Abwanderung kann in den meisten Fällen nicht die Qualität der Wohnung verantwortlich gemacht werden, denn in den problembehafteten Quartieren finden wir in allen Städten auch sehr junge Baubestände. Freiraum- und Umfeldqualitäten (die ihrerseits wieder eine starke soziale Dimension haben) sowie Versorgungsgrad und -niveau mit Infrastruktur (Schulen, Freizeitmöglichkeiten) spielen neben dem Wunsch nach sozialer Homogenität der Nachbarschaft wahrscheinlich die entscheidende Rolle. 4. Segregierte 'Problemgebiete' Ob durch Fahrstuhleffekt oder durch selektive Mobilität entstanden - am Ende einer kumulativen Abwärtsspirale stehen hoch segregierte Gebiete, in [Seite der Druckausg.: 15 ] denen sich die ökonomisch, sozial und kulturell diskriminierten Gruppen der Stadt versammeln und konzentrieren. Daraus entsteht nicht automatisch und notwendig ein Elendsgebiet oder ein 'Ghetto', denn segregierte Gebiete zeichnen sich nicht notwendigerweise durch soziale Desorganisation aus (das war der Fehlschluß der frühen Sanierungspolitik, daß in schlechten Wohnungen auch nur soziales Elend wohnen könne). Insbesondere manche Zuwanderergruppen verfügen noch über starke Familienstrukturen und erweiterte Verwandtschaftsnetze, die einen wichtigen Faktor sozialer Integration und Stabilität bilden können. Ehe ein Urteil über ein segregiertes Gebiet abgegeben und eine politische Intervention geplant wird, sind daher genauere Untersuchungen über die internen Strukturen und Beziehungen eines solchen Quartiers notwendig. Besonders problematisch wird allerdings die Situation dann, wenn das Leben und Wohnen in einem bestimmten Quartier selbst zu einem Faktor der Benachteiligung wird, wenn also aus einem Quartier der Benachteiligten ein benachteiligendes Quartier wird. 5. Effekte der Segregation In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird heute überwiegend davon ausgegangen, daß Gebiete mit hoher Konzentration von Armen einen Ort bilden, von dem negative Effekte auf die Bewohner ausgehen, der also benachteiligende Effekte hat. Die möglichen Wirkungen sind:
6. Politische Intervention - strategische Ansätze In Anlehnung an wohlfahrtstheoretische Überlegungen können strategische Ansätze daraus entwickelt werden, daß danach gefragt wird, welche Komponente im Wohlfahrtsdreieck (Haushalt/Selbsthilfe, Markt, Staat) unter welchen Bedingungen gestärkt werden kann. In den depravierten Vierteln bestehen Schwächen oder Defizite in allen drei Dimensionen: [Seite der Druckausg.: 17 ]
Es gibt keinen Königsweg, keine einzelne Strategie. Ein Mix aus allen drei Sphären ist notwendig, entwickelt aus und vermittelt durch eine starke Beteiligung der Bewohner, die zum 'Empowerment' führen soll. 'Quartiersmanagement' ist inzwischen zum Fachbegriff dafür geworden, was notwendig ist: eine neue Form sozial engagierter Quartierspolitik. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000 |