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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 75]


Matthias Schulze-Böing
Rahmenbedingungen und Umsetzungsmöglichkeiten für eine integrative Arbeitsmarktpolitik -Statement


  1. Die gravierende Beschäftigungskrise (4,7 Mio. Arbeitslose und rückläufige Beschäftigung in Ost- und Westdeutschland) erfordert mehr aktive Arbeitsmarktpolitik. Statt Arbeitslosigkeit sollte verstärkt Bildung und Beschäftigung finanziert werden. Statt unkoordinierter und prozyklischer Kürzungen bei den Ausgaben für aktive Maßnahmen - wie im Augenblick durch die jüngsten Sparbeschlüsse auf Bundesebene und in verschiedenen Bundesländern zu beobachten - wäre eine Stabilisierung und Ausweitung aktiver Programme erforderlich.

  2. Anders als in anderen europäischen Ländern ist es in Deutschland noch nicht in genügendem Umfang gelungen, eine wirklich integrative Arbeitsmarktpolitik zu verwirklichen:

    • Aufgrund einer von restriktiven Finanzierungskonditionen gekennzeichneten Situation der Arbeitsämter werden dort immer mehr Gruppen aus der Arbeitsförderung ausgegrenzt.

    • Das aktive Instrumentarium wird aufgrund der Budgeteinschnitte zunehmend ausgehöhlt.

    • Immer mehr Lasten werden auf die Kommune verlagert. Sozialämter werden zu „Ersatzarbeitsämtern für Arme".

    • Die institutionelle Lücke zwischen Sozialhilfe und Arbeitsförderungsgesetz ist in den letzten Jahren größer statt kleiner geworden.

    Es droht eine Zwei-Klassen-Arbeitsmarktpolitik.

  3. Modernisierung der Arbeitsmarktpolitik heißt dagegen, die bestehenden Zersplitterungen der verschiedenen Handlungsebenen und Akteure aufzuheben und Voraussetzungen für integrierte Ansätze zu schaffen. Beispiele dafür gibt es z.B. in den Niederlanden (Zentren für Arbeit und Einkommen), Dänemark (im Bereich berufliche Weiterbildung) und Österreich (Arbeitsstiftungen).

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  4. Die Kommunen und die Projekte auf lokaler Ebene haben in den letzten zehn Jahren in hohem Maße dazu beigetragen, daß für die Arbeitsmarktpolitik

    • eine regionale und lokale Verankerung geschaffen wurde,

    • zusätzliche Ressourcen - zum Beispiel aus der Sozialpolitik, der Stadtentwicklung und aus dem Umweltschutz - erschlossen werden konnten,

    • die Instrumente und Ressourcen sinnvoll gebündelt werden und somit „Synergieeffekte" auf regionaler Ebene entstehen,

    • Impulse durch Innovation im Bereich der Instrumente und in den Bereichen organisatorischer und institutioneller Strukturen vermittelt werden.

    Diese Impulse müssen genutzt und weiterentwickelt werden.

    Beschäftigungsgesellschaften und lokale, kommunale Initiativen haben in den letzten Jahren ganz wesentlich zur Erschließung und Bündelung von Ressourcen im Sinne von mehr Beschäftigung beigetragen (etwa durch die Bündelung von Mitteln der Sozial-, der Arbeitsmarkt-, der Wirtschafts- und der Strukturpolitik in Beschäftigungsprojekten). Zugleich sind die meisten Initiativen von der dezentralen Ebene ausgegangen. Die Verbindung von Qualifizierung und Arbeit, neue Formen der Integration von benachteiligten Gruppen und Sozialhilfeempfängern in das Berufsleben oder innovative, aktive Arbeitsvermittlung - all dies ist in den letzten Jahren von Projekten „vor Ort" entwickelt und vorangetrieben worden, während die institutionalisierte Arbeitsmarktpolitik des Bundes in kurzatmigen Wellen der Mittelkürzung einerseits und bürokratischer Verkrustung andererseits nur wenig zur Bewältigung der Arbeitsmarktkrise beigetragen hat.

  5. Die Bereiche Sozialhilfe und Arbeitsförderung dürfen sich nicht weiter auseinanderentwickeln, sondern müssen wieder in einer sinnvollen Art und Weise integriert werden. Vorhandene Strukturen sind dabei im Hinblick auf ihre Effektivität zu überprüfen. Man muß sich zum Beispiel fragen, ob die Arbeitsverwaltung in der bisherigen Form noch zeitgemäß ist, oder ob nicht vielmehr dezentralere und gründlich entbürokratisierte Strukturen erforderlich sind (Leitbild: Regionale Agenturen für Arbeit). Arbeitsvermittlung müßte z.B. aktiver und mit mehr personel-

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    lem Aufwand betrieben werden. Viele Überregelungen der Arbeit in Arbeitsämtern sind drastisch zu beschneiden. Durch dezentral verwaltete und mit den kommunalen Programmen „gepoolte" Budgets ließen sich ebenfalls zusätzliche Wirksamkeitspotentiale erschließen.

    Dringender Reformbedarf ist jedoch auch in den kommunalen Sozialämtern festzustellen. Statt einer nachrangigen Hilfe in Notlagen ist die Sozialhilfe immer mehr zu einer rentenähnlichen Dauerleistung, die Sozialämter zu weitgehend gestaltungsabstinenten Zahlstellen geworden. Neue Konzepte der arbeitsweltorientierten Hilfeplanung, der investiven und produktiven Umgestaltung der Sozialhilfe und des „Fallmanagements" sind erforderlich, um die Entstehung von „Armutsfallen" zu vermeiden, Teilhabe an der Arbeit als wesentlichem Strukturelement im menschlichen Leben zu organisieren und schließlich Übergänge zwischen Transfer- und Erwerbseinkommen herzustellen. Hier bedarf es nicht nur „neuer Steuerungsmodelle" im Sinne der betriebswirtschaftlichen Optimierung der Sozialverwaltung, sondern auch einer konzeptionellen Neuausrichtung (siehe zum Beispiel das Projekt „Fallmanagement in der Sozialhilfe" - FAMS - in Offenbach am Main).

    Weiterhin müssen mehr Brücken zwischen Arbeitsmarktpolitik und regionaler Wirtschaftsstruktur geschaffen werden. Arbeitsmarktpolitik muß Teil regionaler Strukturentwicklungspolitik werden. Dafür ist die Mitwirkung der Kommunen in höherem Maße als in der Vergangenheit erforderlich.

  6. Die Finanzierung einer integrativen Arbeitsmarktpolitik muß auf neue Füße gestellt werden - einen höheren Anteil von Steuerfinanzierung, Integration der bisher von der Sozial- und Jugendhilfe getragenen Finanzierungsanteile in einen integrierten Ansatz, institutionelle Absicherung kommunaler Mitgestaltung.

    Die kommunale Mitwirkung an der Umsetzung der aktiven Arbeitsmarktpolitik hat sich in den meisten Fällen bewährt und muß deshalb für die Zukunft gesichert werden. Dafür ist jedoch erforderlich, die Kommunen durch finanzielle Entlastung bei der durch Arbeitslosigkeit verursachten Sozialhilfe wieder handlungsfähig zu machen, etwa durch eine oberhalb des Sozialhilfeniveaus „gesockelte" Arbeitslosenhilfe oder einen hälftigen Bundesanteil an der „Hilfe zu Lebensunterhalt" für Arbeitslo-

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    se, wie es der damalige niedersächsische Ministerpräsident Albrecht Mitte der achtziger Jahre vorgeschlagen hatte.

    Arbeitsmarktpolitik sollte ein System ganzheitlicher Verantwortung, fortwährenden Lernens und ständiger Verbesserungsprozesse sein. Dafür brauchen wir mehr flexible und dabei hochprofessionelle Strukturen und zugleich wesentlich weniger Bürokratie.

  7. Vor einer Überforderung der Arbeitsmarktpolitik ist jedoch bei allen berechtigten Reformforderungen zu warnen. Ebensowenig wie auf gesamtstaatlicher Ebene können Beschäftigungsprobleme in der Region und auf kommunaler Ebene allein oder in erster Linie über Arbeitsmarktpolitik gelöst werden. Erforderlich sind wirksame Strategien für mehr Arbeitsplätze, ohne diese läuft auch die beste Arbeitsmarktpolitik leer. Die wesentlichen Stellgrößen für mehr Beschäftigung sind in anderen Politikfeldern zu suchen: in der Tarifpolitik, der Wirtschafts- und Finanzpolitik, der unternehmerischen Innovationspolitik und - nicht zuletzt - der Steuerpolitik. Die finanzielle Ausblutung der Kommunen durch die Sozialhilfebelastungen ist maßgeblich daran beteiligt, daß für wichtige, arbeitsplatzschaffende öffentliche Investitionen kein Geld mehr da ist (bekanntlich tragen die Städte und Landkreise in Deutschland zwei Drittel aller öffentlichen Investitionen).

    In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, daß ein „zweiter", lohnsubventionierter Arbeitsmarkt innerhalb bestimmter Grenzen zur Ausweitung von Beschäftigung beitragen kann - aber nur, wenn er sinnvoll mit der regionalen und kommunalen Entwicklungsstrategie verknüpft ist. Ein vom „ersten" Arbeitsmarkt abgekoppelter lohnsubventionierter Beschäftigungssektor ist jedoch abzulehnen.

    Erforderlich ist ein intelligenter Mix aus Beschäftigung mit Hilfe von Lohnsubventionen, investiver und strukturpolitischer Ausrichtung von Projekten, Qualifizierung und Mobilitätsförderung. Hier gibt es auf der Ebene von Projekten und kommunalen Programmen weitreichende Innovationsimpulse. Gleichzeitig gibt es noch erheblichen Entwicklungsbedarf, etwa im Hinblick auf die Kooperation mit der regionalen Wirtschaft oder die Umsetzung integrierter Konzepte beruflicher Mobilität auf regionaler Ebene.

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  8. Fazit: Für eine wirklich integrative Arbeitsmarktpolitik fehlen im Augenblick die Voraussetzungen. Die Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik des Bundes führt zur immer weiteren Aufsplitterung der Verantwortlichkeit für den Arbeitsmarkt, zur

    • Spaltung der Arbeitslosen in Leistungsbezieher der Bundesanstalt für Arbeit (deren Leistungen allerdings fortwährend weiter beschnitten werden) und in die Sozialhilfe abgedrängte Arbeitslose,

    • Spaltung der Arbeitsmarktpolitik mit der Trennung der Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit von denen der Kommunen und

    • Überwälzung von immer mehr Folgekosten der Arbeitslosigkeit auf die Kommunen, die dadurch finanziell handlungsunfähig werden, ihre Investitionskraft verlieren und damit als Faktoren der Beschäftigungssicherung ausfallen.

    Lokale Projekte und Beschäftigungsgesellschaften haben bisher eine wichtige Integrations- und Innovationsfunktion gehabt. Diese ist durch die anstehenden Kürzungen in den Etats für Arbeitsmarktpolitik allerdings im Kern bedroht. Im Interesse der Erhaltung und Weiterentwicklung der Leistungsfähigkeit von Arbeitsmarktpolitik müssen örtliche Projekte lebensfähig gehalten und weiterentwickelt werden. In der dafür erforderlichen Prioritätensetzung liegt eine wichtige Verantwortung der Politik.

[Seite der Druckausg.: 80 = Leerseite ]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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