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[Seite der Druckausgabe: 6 / Fortsetzung]

2. Die Definitionsmacht über Qualifikationen



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2.1 Qualifikationskonzepte als soziale Konstrukte

Nicht zuletzt der Prozeß der europäischen Einigung, der ja auch die Bildungs- und Erwerbsarbeitssysteme mit einbezieht, hat dazu geführt, daß die politische Dimension des Qualifikationsbegriffes wieder öffentlich diskutiert wird. Die Zusammenschau allein der verschiedenen Qualifikationskonzepte in den EG-Ländern hat die alte Erkenntnis verstärkt, daß Qualifikation ein soziales Konstrukt ist. Einig ist man sich in der allgemeinen Definition: Qualifikationen bezeichnen die Fähigkeiten, die gebraucht werden, um Anforderungen an Erwerbsarbeitsplätzen zu erfüllen. Diese Anforderungen werden durch arbeitsorganisatorische, personalpolitische und technische Konzepte bestimmt.

Delcourt (1991, S. 50) nennt mindestens drei verschiedene Akteure und Prozesse, die die Bestimmung von Qualifikationen beeinflussen und die wiederum je nach Land und Branche auf unterschiedliche Art zusammenwirken:

  1. Die Sozialisationsakteure und -prozesse wie Schule, Betriebe oder andere Ausbildungsinstanzen;
  2. die Organisationsakteure und -prozesse, die über die Arbeitsteilung bestimmen;
  3. die Akteure und Prozesse, die bei der Regelung von Beziehungen eine Rolle spielen, also zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sowie zwischen diesen beiden Gruppen und den Bildungsinstanzen, aber auch dem Staat und den öffentlichen oder privaten Instanzen, die auf unterschiedlichen Ebenen für die Gestaltung der Qualifikationen und die Entwicklung der Humanressourcen zuständig sind".

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Die politische Gestaltung von Qualifikationen wird insbesondere bei den sogenannten formalen Qualifikationen deutlich, das sind zertifizierte Abschlüsse genau definierter, gesellschaftlich bestimmter Ausbildungsgänge. Politisch gestaltbar sind dabei

  • der Zugang zu Bildungsgängen,
  • die Gestaltung von Bildungsgängen,
  • die Bewertung von Bildungsgängen.

Damit sind die Chancen bestimmter Gruppen zum Erwerb von Bildungsinhalten, der Umfang und die Tiefe von Bildungsgängen und ihr gesellschaftlicher Wert Ergebnis politischer Prozesse. Die jeweils gültigen gesetzlichen oder tariflichen Anerkennungen und Definitionen formaler Qualifikationen setzen immer einen vorläufigen Schlußpunkt in vorausgegangenen Interessenauseinandersetzungen. Die Funktion der gesetzlichen Anerkennung formaler Qualifikationen liegt generell darin, durch gesellschaftliche Legitimation die Prozesse des "neidischen Vergleichs" zwischen besser und schlechter gestellten Gruppen zu begrenzen. Die Definition von Qualifikationen erfüllt darüber hinaus eine Selektions-, Monetarisierungs- und Privilegierungsfunktion. Durch Ausgrenzung, d.h. durch die Beschränkung des Zugangs zu bestimmten Qualifikationsgängen, soll eine Verknappung von Arbeitskräften bewirkt werden (Selektionsfunktion). Da auch Qualifikationen dem Gesetz von Angebot und Nachfrage unterliegen, kann eine Verknappung sich materiell günstig für die Arbeitskräfte auswirken, denen die Qualifikation vermittelt wird (Monetarisierungsfunktion). Qualifikationen dienen nicht zuletzt der Sicherung des Zugangs zu attraktiven Arbeitsplätzen, seien sie hierarchisch höher gestellt oder durch technische Veränderungen neu entstanden (Privilegierungsfunktion) (Kramer 1988).

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2.2. Der Androzentrismus der Qualifikationskonzepte

Qualifikationen bezeichnen nach der gängigen Definition, also den marktvermittelten Teil der Fähigkeiten, den käuflichen Teil der Arbeitskraft. Sie sind der Verwertungsaspekt von Bildungsprozessen. Damit umfassen Qualifikationen nicht alle Fähigkeiten des Individuums, nicht die gesamte Arbeitskraft und nicht das vollständige Ergebnis von Bildungsprozessen. Diese Definition ist androzentrisch. Sie vernachlässigt nämlich

  • die Fähigkeiten, die für nicht marktförmig organisierte Arbeit gebraucht werden. Diese Arbeit wird fast ausschließlich von Frauen verrichtet und zwar bei der privat organisierten Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit;

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  • die Fähigkeiten, deren Einsatz sich nicht entlohnen läßt oder entlohnen lassen kann. Dies sind in der Regel Fähigkeiten, die in ehrenamtlicher Arbeit eingesetzt werden, die wiederum insbesondere im sozialen Bereich fast ausschließlich von Frauen verrichtet wird

  • die Effekte von Bildungsgängen, die nicht erwerbsmäßig genutzt werden. Dies sind in der Regel Effekte von Bildungsgängen, die allgemeinbildend angelegt sind und die insbesondere Frauen absolvieren.

Wenn sich der Qualifikationsbegriff also nur auf die Anforderungen aus der beruflich verfaßten, relativ gesicherten, tarifierten Erwerbsarbeit, nicht aber auf die menschliche Arbeitsfähigkeit insgesamt bezieht, werden die besonders von Frauen geleisteten, gesellschaftlich sinnvollen, aber privat organisierten Arbeitsbereiche und die ihnen korrespondierenden Fähigkeiten ausgeschlossen. Da dieser privat organisierte Arbeitsbereich aber nicht dieselbe gesellschaftliche Anerkennung besitzt wie der marktförmig organisierte, hat sich auch kein dem Qualifikationsbegriff entsprechender Begriff für die hier gebrauchten Fähigkeiten entwickelt. "Betritt eine bisherige Nur-Hausfrau den Arbeitsmarkt, so verfügt sie nur über ein Angebot von Jedermannsqualifikationen. Übliche zivilisatorische Fähigkeiten können von ihr erwartet werden, mehr nicht" (Kramer 1988, S. 49). Das bedeutet: Die in der privat organisierten Arbeit genutzten Fähigkeiten werden bei der Definition von Qualifikationen ausgeblendet. Genauso, wie der gesamte Arbeitsbereich der Frauen aus dem Spektrum gesellschaftlich relevanter Arbeit herausfällt, fallen auch die dort eingesetzten Fähigkeiten aus den androzentrisch definierten Qualifikationdefinitionen heraus. Die Unsichtbarmachung der privat organisierten Arbeit hat auch zur Folge, daß die dort entwickelten Fähigkeiten unsichtbar bleiben.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1999

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