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Ursula Krutsch
Alzheimer-Kranke in der stationären Altenpflege


Seit ich vor siebzehn Jahren in die Altenpflege kam, hat sich die Bewohnerstruktur grundlegend verändert. Der überwiegende Teil der Bewohner war somatisch erkrankt, gebrechlich oder körperbehindert. Nur wenige Bewohner waren desorientiert und verwirrt. Demenz oder gar Alzheimer lagen kaum als Diagnosen vor.

In dem 1978 erschienen Buch "Praxis der psychischen Altenpflege" von Grond wird Alzheimer nur im Zusammenhang mit der präsenilen Demenz genannt. Im Verlauf der frühen achtziger Jahre wurde für das Pflegepersonal sichtbar, daß immer mehr Bewohner mit Hirnleistungsstörungen in den stationären Bereich kamen.

Unsere Warnungen und Forderungen nach personellen Konsequenzen fanden kein Gehör. Zu wenig Personal, zu wenig Fachpersonal und zu wenig Fachpersonal mit Zusatzausbildung können auch heute noch nicht den stark angestiegenen Anforderungen gerecht werden.

Desorientiertheit und Verwirrtheit sind Pflegediagnosen, Symptome einer akuten oder chronischen Leistungsstörung des Gehirns. Die medizinische Diagnose, also Zuordnung der individuellen Symptomatik und Untersuchungsergebnisse ist Aufgabe der Ärzte.

So kommen Bewohner zu uns mit den Diagnosen hirnorganisches Psychosyndrom (HOPS), Demenz vom Alzheimer Typ, senile Demenz und Cerebralsklerose. Nur in wenigen Fällen ist diese Diagnose von Neurologen gestellt worden.

Es ist leider immer noch so, daß zuwenig Ärzte ihrer veränderten Patientenstruktur, also starker Anstieg von alten Menschen, gerecht werden. Die niedergelassenen Ärzte haben äußerst selten geriatrische Vorbildung und oft werden keine Neurologen konsiliarisch hinzugezogen. Aus dieser Erfahrung heraus begegne ich den gestellten Diagnosen bei Einzug mit großem Mißtrauen.

Durch die freie Arztwahl der Bewohner wird meist der diagnosestellende Arzt auch die Weiterbehandlung im Heim übernehmen. Das Pflegepersonal hat aber zumindest jetzt die Möglichkeit, darauf hinzuwirken, daß ein Neurologe hinzugezogen wird. Eine Verordnung von Psychopharmaka darf - wenn überhaupt notwendig - nur durch einen Neurologen erfolgen.

Wenn ein an der Alzheimerschen Krankheit erkrankter Bewohner in die stationäre Altenpflege kommt, hat er gewöhnlich schon einen längeren Leidensweg hinter sich und befindet sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Krankheit. Er kommt gewöhnlich erst dann, wenn ein Alleinleben unmöglich wird oder die Familie nicht mehr in der Lage ist, selbst zu pflegen. Eine schwierige Situation für ihn, die Mitbewohner und die Pflegenden.

Und auch nicht zu vergessen für die Angehörigen, die noch immer mit dem Vorurteil des "Abschiebens" zu kämpfen haben. Sie müssen mit ansehen, wie ein geliebter Mensch ihnen und sich selbst fremd wird, sie pflegen oft bis an die Grenze der eigenen Belastbarkeit und darüber hinaus, treffen in ihrer Umgebung auf Nichtwissen und Unverständnis und werden von genau dieser verurteilt, wenn sie die Pflege des erkrankten Angehörigen an professionelle Pflege im Heim abgeben müssen. Dafür erwarten sie jetzt vom Pflegepersonal Übermenschliches, um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, obwohl sie es gar nicht müßten. So erschwert eine uninformierte Gesellschaft mit Vorurteilen indirekt unsere Pflegetätigkeit.

Wenn also ein neuer Bewohner zu uns kommt, sehen wir die gestellten Diagnosen, die aber nur sekundäre Bedeutung für uns haben.

Primär wichtig ist für unser pflegerisches professionelles Eingreifen das Vorliegen einer Demenz.

Gleich welche Ursache zugrunde liegt, führt sie zu gleichem pflegerischen Handeln und gleicher Problematik im Stationsablauf

Wie Erwin Böhm so schön sagt, sind wir für das Befinden des Bewohners und nicht für die Befunde zuständig.

Beim Einzug eines Alzheimer-Kranken kommen schwierige Aufgaben auf die Pflegenden zu. Einen Menschen, dem die eigene Welt fremd geworden ist, mit kommunikativen und intellektuellen Defiziten, desorientiert und antriebslos in eine fremde Welt mit der absoluten Nähe fremder Menschen zu integrieren - und das in unangemessenem, viel zu knappem Zeitrahmen - läßt eigentlich nur die Chance zu versagen.

Hinzu kommt, daß ein großer Teil des Pflegepersonals nichts von psychiatrischer Altenpflege weiß, daß für sie meßbare Arbeit (Sauberkeit der Bewohner und der Station) im Vordergrund steht und ein dementer Bewohner eher Störfaktor im Stationsablauf ist.

Den gestiegenen Anforderungen der altenpflegerischen Arbeit ist in der Qualität der Ausbildung der Altenpfleger Rechnung getragen worden, das berufliche Umfeld ist jedoch noch oft vorsintflutlich, selbst wenn dies nach außen meist nicht sichtbar ist.

Hinzu kommt, daß durch das Negativimage des Berufes zu wenig und zu wenig qualifizierte Bewerber vorhanden sind.

Sicher gibt es seit dem 1.10.1993 die Personalverordnung zum Heimgesetz, das einen Fachpersonalanteil von 50% vorschreibt - aber woher kommt das Fachpersonal?

Wenn die Gesellschaft nicht endlich begreift, daß Altenpflege ein hochqualifizierter Fachberuf mit hohen intellektuellen und auch emotionellen Anforderungen und nicht erweiterte Haushaltsführung mit Fäkalienbeseitigung ist, wird der qualifizierte Nachwuchs ausbleiben. Haushaltskenntnisse, das "große weiche Frauenherz" und Lebenserfahrung als grundlegende Eignungsvoraussetzungen zu nennen, heißt für mich einen wichtigen und schönen Beruf zu degradieren.

Es ist zwar immer noch so, daß in unserer Gesellschaft die Frauen die Pflege in der Familie leisten und auch den bei weitem überwiegenden Teil des Pflegepersonals stellen. Aber allein Frau oder arbeitslos zu sein, reicht nicht aus. Die Eignungsvoraussetzungen gerade für die Pflege von Bewohnern mit psychischen Erkrankungen und Hirnleistungsstörungen können nicht hoch genug angesetzt werden.

Außerdem ist eine dauernde Fortbildung über das gesamte Berufsleben erforderlich, dazu sollte das Personal nicht nur motiviert, sondern verpflichtet werden.

Das Leben eines Bewohners im stationären Bereich wird durch zwei Gruppen entscheidend geprägt - die Gruppe des Personals und die Gruppe der Mitbewohner. Besonders bei Dementen sind die Beziehungen zu beiden Gruppen sehr konfliktgeladen.

Zunächst möchte ich auf die Beziehung zum Personal eingehen. Wie schon oben erwähnt ist die Personalsituation in der gesamten Altenpflege sehr angespannt. Besondere Personalschlüssel für den gerontopsychiatrischen Bereich sind nicht die Regel, viele Häuser sind auch nicht in der Lage, einen dafür geforderten Fachpersonalanteil von 60% vorzuweisen.

Die Pflege von dementen Bewohnern ist sehr belastend, psychisch wie auch physisch, zeitaufwendig und pflegeintensiv und muß heute mit einem realen Personalschlüssel von 1 : 10 geleistet werden.

Es ist festzustellen, daß in letzter Zeit nur wenige neue Bewohner voll orientiert sind, sondern die meisten sowohl körperliche Defizite und Krankheiten und Hirnleistungsstörungen aufweisen. Es wird behauptet, daß über die Hälfte an der Alzheimerschen Krankheit leiden.

Die Beziehung des Personals zu den dementen Bewohnern ist von Beginn an sehr konfliktreich. Da neue demente Bewohnter bereits in einem fortgeschrittenen Stadium kommen, sind sie kaum noch in der Lage, sich auszudrücken, sich zu verständigen, ihre Wünsche verständlich zu äußern. Sie sind nicht in der Lage, sich in der fremden Umgebung zurechtzufinden, sie sind durch die kommunikativen Schwierigkeiten oft aggressiv, irren durch den Wohnbereich, gehen an fremde Schränke, in fremde Zimmer, nehmen fremdes Eigentum mit - was zu massiver Unruhe unter den anderen Bewohnern führt. Es kommt oft zu lautstarken Äußerungen und auch Tätlichkeiten zwischen den Bewohnern. Kurz gesagt - die Station steht Kopf, die Zeit drängt, das Personal ist knapp und das Chaos perfekt. Dies ist nicht an allen Tagen so, aber doch sehr oft. Es scheint dabei einen Schneeballeffekt zu geben, ein Bewohner ist sehr unruhig und etliche Bewohner folgen dann.

Ich bin im Prinzip gegen Ausgrenzung dementer Bewohner, also Einrichtung von gerontopsychiatrischen Stationen. Dies ist wohl auch der allgemeine Trend. Aber - wer ist sich schon bewußt, was wir Bewohnern, die noch geistig fit sind, antun?

Weil sie gebrechlich oder krank sind, sind sie gezwungen, ihre Wohnung aufzugeben, den überwiegenden Teil der Habe, die sie sich in ihrem langen arbeitsreichen Leben erspart haben, Dinge, an denen sie hängen, ihre Intimsphäre aufzugeben. Sie müssen sich anpassen an starre Heimstrukturen, können ihre Individualität nicht mehr ausleben, werden oft bevormundet, oft liebevoll und ohne Absicht. Sie müssen dann mit Mitbewohnern leben, die fremdes Eigentum nicht achten, den gehüteten Kamm oder den Badezusatz wegnehmen und benutzen und nicht immer zum vorgesehenen Zweck, ihnen das Brötchen vom Teller nehmen oder ihre Milchsuppe in den anderen Frühstückskaffee schütten.

Vielen Pflegekräften erscheint als einziger Ausweg die massive Gabe von Psychopharmaka.

Der Zeitdruck bei der Arbeit führt dazu, gerade dementen Bewohnern Tätigkeiten abzunehmen, die sie eigentlich noch können, aber dies nur sehr umständlich oder nicht unserem Sauberkeitsempfinden entsprechend. Somit werden sie immer weiter in die Passivität gedrängt. Gerade bei der Alzheimerschen Krankheit wird oft vom Defizitmodell aus gedacht und rehabilitative Pflege bleibt aus. Die negative Einstellung führt auch zu negativen "Erfolgen". Das Fehlen von Erfolgserlebnissen und kommunikative Schwierigkeiten bei Dementen sind für das Personal schwierig.

Frustrationen sind die Folge und oft auch ein Ausleben der ohne Zweifel vorhandenen Machtposition. Bei nicht ausgebildetem Personal, ohne psychiatrische Kenntnisse, wird das aggressive Verhalten von dementen Bewohnern oft persönlich genommen. Ohne Supervision oder Unterstützung der Vorgesetzten ist Ausbrennen oder Versagen vorprogrammiert.

Auch die rechtlich ungeklärte Abgrenzung zwischen Verletzung der Aufsichtspflicht und Freiheitsberaubung führt zu Verunsicherung.

Wichtig wäre gerade bei dementen Bewohnern die Einrichtung einer entsprechenden Tagesbetreuung durch entsprechend vorgebildetes Personal in geeigneten Räumen, entsprechenden Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des Wohnbereichs in Kleingruppen. Im normalen Stationsablauf würde dies zur Entspannung führen.

Besonders wichtig wäre eine Anhebung des Personalschlüssels, ständige Fortbildung zur Reflexion der Arbeit.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 1999

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