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Margrit Linn
Erfahrungsbericht aus der Praxis: Das Sophien-Sanatorium Thambach


Es wurde heute über die Zunahme von Demenzerkrankungen im Alter und den daraus entstehenden Problemen gesprochen. Für jeden Träger stationärer Einrichtungen der Altenhilfe ist es seit Jahren notwendig, sich darauf einzustellen.

Es gibt verschiedene Modelle, aber meiner Meinung nach nicht die Lösung des Problems der Pflege und Betreuung dementer alter Menschen.

Das Collegium Augustinum geht zwei Wege, sowohl integrativ in den Wohnstiften, wo leichtere Formen der Demenzerkrankungen durch individuelle Zusatzbetreuung und übergreifende Tagesbetreuung aufgefangen werden, als auch segregativ in zwei Häusern in der Bundesrepublik Deutschland.

Einmal in Bayern im Sophien-Sanatorium Thambach (SST) und zum anderen hier, in Bonn-Oberkassel, wo das Itzel-Sanatorium-Oberkassel im nächsten Monat seinen Betrieb aufnehmen wird. Es wird von Herrn Josef Schillhuber geleitet, der über 10jährige Erfahrungen im Sophien-Sanatorium in Thambach als stellvertretender Leiter verfügt. Ich selbst arbeite im SST, 60 km östlich von München auf dem Land und das auch seit fast 10 Jahren.

Nun zum Sophien-Sanatorium - es ist ein Haus für mobile Patienten, die im Alter an Hirnleistungsstörungen erkrankt sind und ein fortgeschrittenes Stadium ihrer Krankheit erreicht haben. Es wird als behütetes Haus geführt.

Die Bewohner kommen aus den Wohnstiften des Collegium Augustinum, von anderen Häusern der stationären Altenhilfe, oft nach Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken und auch direkt von zu Hause.

In 12 Einzelzimmern und 7 Doppelzimmern werden auf drei Stockwerken 26 Bewohner von 25 Voll- und Teilzeitkräften betreut; keine Pforte, Leiter = Pfleger, kein Büro, Hausmeister.

Alte Menschen, die in das SST kommen, haben alle Untersuchungen, die möglich sind und alle möglichen Formen der Therapie meist schon hinter sich. Auch wurden sie des öfteren so lange es irgend ging, in anderen Häusern integrativ betreut.

Wenn nun der Umgang mit Demenzkranken für Fachleute zum Alltag gehört, was ist dann besonders Vorstellenswertes am Konzept des SST?

Da es kein Heilmittel für die Alzheimer Krankheit gibt, versuchen wir uns im SST auf die Krankheit einzustellen. Das wichtigste am Konzept ist deshalb sicher, daß es sich ausschließlich an den Bedürfnissen der Alzheimer Kranken orientiert.

Das gesamte Konzept hier ausführlich vorzustellen, wäre zu lang. Deshalb möchte ich Ihnen vier Leitsätze nennen, die sich prägend durch die Arbeit im SST ziehen.

Da wäre der Satz:
- Leben kommt vor Therapie -
und
• - Zuerst kommen die Bedürfnisse der Bewohner, dann die Organisation -
ebenso wichtig
• - Die Zufriedenheit der Mitarbeiter überträgt sich auf die Bewohner -
und zum Schluß
• - Das Ziel ist, den Bewohnern ein Leben in Würde, mit soviel Selbstbestimmung wie möglich und soviel Hilfestellung wie nötig und mit einem Stück Lebenszufriedenheit trotz und mit der Alzheimer Krankheit zu ermöglichen. -

Das sind große Worte und alle Mitarbeiter des SST arbeiten täglich daran, so nah wie möglich an die gesteckten Ziele zu kommen.

Wie sieht nun diese tägliche Arbeit aus? Mit welchen Schwierigkeiten müssen wir uns auseinandersetzen?

Bekannte Symptome von Demenzerkrankungen sind u.a. Gedächtnisstörungen, Wahrnehmungsstörungen und Orientierungsstörungen, nachlassende Selbstkritik und Inkontinenz. Sie kommen zu den im Alter sowieso oft auftretenden somatischen Beeinträchtigungen hinzu.

Ärztliche Betreuung im SST für die Probleme der Multimorbidität ist selbstverständlich durch zwei Hausärzte gewährleistet, die Betreuung durch einen Facharzt der Psychiatrie auch. Es erfolgen vielfältige Behandlungen wie z.B. Massagen und therapeutische Maßnahmen für somatische Erkrankungen.

Aber der langsame Verfall der Persönlichkeit braucht mehr, er braucht tägliche Hilfestellung, um das Leben bewältigen zu können.

Wie wir diese Hilfestellung im SST anbieten, kann ich Ihnen gut erklären, wenn ich mich wieder an die genannten Leitsätze halte:

- Leben kommt vor Therapie -

Das beginnt damit, daß wir versuchen, dem Haus durch seine Einrichtung nicht den Charakter eines Krankenhauses zu geben. Sterilität ist nicht geboten bei der Alzheimer Krankheit! Die Bewohner möblieren ihre Zimmer selbst, sie bringen die gewohnten eigenen Möbel mit und wenn es von der körperlichen Mobilität her geht, auch das eigene Bett.

Wir versuchen die Angehörigen auch zu überzeugen, daß geliebte Gegenstände mit einziehen sollten, Fotos, Bilder, Krüge, Teller etc., was einem im Leben so ans Herz wachsen kann.

Und wir versuchen auch klar zu machen, daß diese Gegenstände nicht gehütet werden können. Die Alzheimer Krankheit bringt es mit sich, daß Dinge zweckentfremdet werden, das Grenzen zwischen Dein und Mein verfließen und daß man solche Gegenstände oft und oft suchen muß, ja, daß sie auch verloren gehen können. Ich versichere Ihnen, wir räumen seinen Platz auf und suchen im SST - und das nicht zu knapp! Probleme damit haben am wenigsten die Alzheimer Kranken selbst. Umstellung bedeutet dies vor allem für die Angehörigen und für den Ordnungssinn des Personals.

Tagsüber findet Leben im ganzen Haus statt, am allerwenigsten zurückgezogen in den Zimmern, bei den Mahlzeiten, über Kontakt auf den Gängen, im Foyer bei gemeinsamer Betätigung, im Garten.

Leben findet auch nachts und am Wochenende statt, deshalb gibt es im SST zwei Mitarbeiter im Nachtdienst, so daß die Bewohner nicht um eine gewisse Zeit, alle zur gleichen Stunde im Bett sein müssen. So kann auf individuelle Gewohnheiten Rücksicht genommen werden.

Der Tag-Nacht-Rhythmus von Alzheimer Patienten ist oft gestört, nächtliches Aufstehen und Herumwandern ist bei uns im Haus selten ein Problem. Die Bewohner können ihr Zimmer verlassen, noch einmal zum Fernseher kommen oder mit den Mitarbeitern des Nachtdienstes eine späte Brotzeit machen.

Ein Wort zum Wochenende. Wir haben am Wochenende die gleiche personelle Besetzung wie an den anderen Tagen der Woche, einschließlich zusätzlicher Betreuung. Dies gibt auch für alle Feiertage im Jahr. Natürlich sind die Mitarbeiter im SST genausowenig gern bereit, an Sonn- und Feiertagen zu arbeiten, wie woanders auch, aber dem Problem kann man sehr gut mit Teilzeitbeschäftigung beikommen, weil sich so alles auf viele Schultern verteilt. Dies kommt auch den Angehörigen zugute. Die Besuche der Angehörigen konzentrieren sich bei uns eher auf das Wochenende. Da wir personell genauso besetzt sind, wie an den anderen Tagen, aber weniger Telefonate kommen und keine Anlieferungen etc., ist eher mehr Zeit für Bewohner und ihre Besucher, als unter der Woche.

Der Satz, auf den ich mich bezog, heißt - Leben kommt vor Therapie -.

Therapie im SST? Wir gehen mit diesem Begriff und dem Begriff -Training - eher vorsichtig um.

Die Bewohner leben bei uns, sie brauchen: Hilfe zur Lebensgestaltung ebenso, wie zu den Verrichtungen des täglichen Lebens.

Und diese Hilfe bekommen sie in Form von zusätzlicher Betreuung durch Spiele, Vorlesen, Musikangebote, kreatives Tun, Konzerte, Feste, Ausflüge und Urlaub. Mit Informationen und Angeboten gehen wir so um, daß sie gegeben werden, aber wir "therapieren" und "trainieren" nicht mit dem Ziel der Gesundung. Mit dem Wissen, daß wir diese nicht erreichen können. Wir versuchen anzuregen, zu momentaner Orientierung zu verhelfen, zu Spaß, zu Kontakt, zu gemeinsamem Erleben, ähnlich wie in der Familie.

Das positive Resultat, die Verbesserung des Allgemeinbefindens ist unser Wunsch dabei, aber wir sind uns ganz klar darüber, daß dies immer nur vorübergehende Erfolge sind und wir sehr oft wieder da anfangen müssen, wo wir auch gestern angefangen haben.

Wenn dabei bei manchen der Bewohner das positive Grundgefühl und Geborgenheit im SST entsteht, so haben wir ein ganz hohes Ziel erreicht.

Zu meinem dritten Leitsatz. Gleich nach den Bedürfnissen der Bewohner kommen die der Mitarbeiter, was sich in dem Satz widerspiegelt

- Die Zufriedenheit der Mitarbeiter überträgt sich auf die Bewohner -.

Ein wichtiges Kriterium ist hier die Gestaltung des Dienstplanes und die Aufteilung der 12 Vollzeitstellen in Teilzeitarbeitsplätze. Auf den Vollzeitstellen arbeiten nur sechs Mitarbeiter zu 100%, die restlichen teilen sich in 75%- und 50%-Stellen und in Stellen für Zivildienstleistende, Mädchen im Freiwilligen Sozialen Jahr und stundenweise Helfer. Somit entspannt sich die Dienstplangestaltung an Wochenenden und Feiertagen.

Wichtig ist auch, daß sich die Mitarbeiter auf den Dienstplan verlassen können, wenn "frei" im Plan steht, muß der Mitarbeiter auch "frei" haben. Zu oft konstruierte "Notfälle" überfordern die Mitarbeiter. Ein überforderter Mitarbeiter ist kein guter und geduldiger Mitarbeiter!

Deshalb ist ein wichtiger Punkt auch die Möglichkeit, sich zurückziehen zu können. Der Mitarbeiterbereich ist streng getrennt vom Bewohnerbereich. Pausen müssen wirkliche Pausen sein!

Der Umgang mit Alzheimer Kranken kann oft sehr belastend sein. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im SST haben die Möglichkeit, darüber offen zu reden, sich und anderen einzugestehen, daß sie von einer Situation momentan überfordert sind, sich kurz zurückziehen müssen oder den anderen bitten, eine bestimmte Arbeit bei einem bestimmten Bewohner zu übernehmen und dadurch schwierige Situationen zu entschärfen, ohne dabei das Gesicht zu verlieren.

Im SST ist die personelle Fluktuation sehr gering, was sicher den Alzheimer Kranken sehr zugute kommt, aber auch einen einsichtigen und großzügigen Träger wie das Collegium Augustinum voraussetzt, weil die vielen Teilzeitstellen einen erheblich größeren Verwaltungsaufwand erfordern.

Der vierte und letzte Leitsatz hier:

• - Das Ziel ist, den Bewohnern ein Leben in Würde, mit soviel Selbstbestimmung wie möglich und soviel Hilfestellung wie nötig und mit einem Stück Lebenszufriedenheit trotz und mit der Alzheimer Krankheit zu ermöglichen. -

Das ist Stoff für einen eigenen Vortrag. Einige Aspekte will ich ansprechen.

- Die äußere Erscheinung!

Es gehört zur Würde des Menschen, daß ich ihm zu einem "gepflegten Äußeren" verhelfe. Dazu gehört die Hilfestellung in der ganz persönlichen Pflege der eigenen Erscheinung. Ein mobiler Alzheimer Patient kann sicherlich fast immer weiterhin das anziehen, was er sein Leben lang gewohnt war, auch wenn sich das manchmal von den Vorstellungen von "Pflegeleichtheit" unterscheidet, die das Personal hat.

Wenn der kontrollierende Griff zum Kragen dort einen Krawattenknoten erwartet, so soll dort auch einer sein. Es gibt keinen Grund, warum jemand, nur weil er die Krawatte nicht mehr selbst binden kann, keine mehr tragen soll.

Ein gepflegtes Äußeres gehört zum Bild, das von sich gemeinhin vom Erwachsenen macht und es bedeutet eine starke Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls, wenn einem die Möglichkeit der Pflege dafür entgleitet. Hier die vorhandene restliche Selbständigkeit zu erhalten, ist uns sehr wichtig.

Dies gilt im gleichen besonderen Maß für die Kontinenzpflege und die Hilfestellung bei Inkontinenz.

• - Die Orientierungshilfen im Haus

Damit die Bewohner sich im Haus alleine leichter zurechtfinden, sind deutlich sichtbare Orientierungshilfen notwendig:

große Uhren und Kalender,

gut lesbare Namensschilder an den Zimmern,

Beschriftungen an jeder Tür,

Namen an der Dienstkleidung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter u.v.a.m.

Aber es ist nicht immer leicht, plakativ und unaufdringlich zugleich zu sein.

Alle im Haus, ob die gut sichtbaren oder die dezenten im Hintergrund verstehen wir als stete Einführung zur Realität und Selbständigkeit, wobei wir starken Wert darauf legen, daß die Betonung auf Angebot und Hinführung liegt und wir es bewußt den Kranken überlassen, in welchem Umfang er von diesem Angebot Gebrauch machen kann und will.

• - Das geschlossene Haus

Viele von Ihnen werden skeptisch, wenn sie den Begriff "geschlossenes Haus" hören, doch es liegt auch eine Chance darin. Und gerade deshalb nenne ich jetzt erst den Bewegungsdrang. Alzheimer Kranke werden oft von unstillbarem Bedürfnis nach Bewegung befallen. Im SST können sich die Bewohner auf drei Stockwerken und in einem großen Park frei und fast ohne Einschränkungen bewegen.

Ich muß nicht jedem Bewohner nachlaufen, um zu schauen, wohin er geht, weil ich sicher sein kann, daß er z.B. keine Straße erreicht, wo er sich und andere gefährden kann.

Ich muß im SST keinen Aufbruch eines Bewohners schon im Keim ersticken, und ich muß vor allem wegen eines starken Bewegungsdranges niemanden mit Medikamenten sedieren.

Trotz stark nachlassender Gedächtnisleistungen kann ein Alzheimer Kranker sich an diesen in sich abgeschlossenen Lebensraum noch gewöhnen und sich zurechtfinden, ohne das immer wiederkehrende Erlebnis des "Verlorengehens".

Leben mit der Alzheimer Krankheit heißt ein Leben mit Defiziten. Diese Defizite auszugleichen, durch Hilfe von außen und von innen heraus, das ist das Bemühen aller Mitarbeiter des SST.

Dazu muß die Organisation beitragen, und es bedarf vor allem einer Haltung den Bewohnern gegenüber, die die Kranken so akzeptiert, wie sie sind.

Auf alles gefaßt sein und allen Schwierigkeiten mit immer wieder neuen Ideen zu begegnen, vielleicht ist dies das "Geheimnis" guter Betreuung von Alzheimer Kranken.

Und so komme ich zu meinem letzten Satz und zum Ende: "Es gibt nichts, was es im SST nicht gibt und geben darf!"


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 1999

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