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Yasemin Karakasoglu-Aydin
"Ich bin stolz, ein Türke zu sein". Bedeutung ethnischer Orientierungen für das positive Selbstwertgefühl türkischer Jugendlicher in Deutschland - Ein Essay


Druck-Ausgabe: Seite 27

Mit dem vorliegenden Beitrag möcht ich Beispiele dafür vorstellen, daß türkische Jugendliche ihren Migrantenstatus durchaus nicht unbedingt als "Klotz am Bein" der Integration erleben müssen, sondern im Gegenteil auch als Herausforderung und positives "Anderssein" begreifen können.

Die schulischen, beruflichen, psychosozialen und familialen Probleme der in Deutschland lebenden türkischen Jugendlichen sind allseits bekannt. Bewältigungsstrategien wie Drogenkonsum, Kriminalität oder Flucht in Nationalismen bzw. religiöse Fundamentalismen beherrschen die Schlagzeilen und die Diskussionen. [ Fn 1: Zur Stigmatisierung insbesondere der türkischen Mädchen in Deutschland als Ver liererinnen der Migration siehe: Boos - Nünning, Ursula: "Die Definition von Mäd chen türkischer Herkunft als Außenseiterinnen", in: Nestvogel, Renate (Hrsg.): „Fremdes" oder „Eigenes"? Rassismus, Antisemitismus, Kolonialismus, Rechtsex tremismus aus Frauensicht, Frankfurt a.M. 1994, S. 165 - 185.] Es scheint zwangsläufig, daß die zweite Migrantengeneration ihr "Ich" vergeblich sucht und nur die Wahl hat, entweder passiv in gesellschaftlichen Randpositionen zu verharren oder sich zu radikalisieren. Es trifft zu, daß türkische Jugendliche schulisch benachteiligt sind - ihre Überrepräsentanz in Haupt- und Sonderschulen beweist dies -, und man weiß, daß ihr Berufseinstieg auch dadurch erheblich erschwert wird.

Demnach könnte meine Absicht den Anschein erwecken, sie wolle allen Tatsachen zum Trotz eine "heile Welt" vorgaukeln. Ich möchte dennoch festhalten, daß viele türkische Jugendliche eigene Strategien entwickelt haben, nicht nur ihre Migrationssituation und die oftmals erschwerte soziale Lage ihrer Familien zu ertragen, sondern ihre Erfahrungen kreativ umzusetzen. Dies zeigen gerade in jüngster Zeit zahlreiche in Deutschland entstandene biographische Untersuchungen. [ Fn 2: Yalcin - Heckmann, Lale: „The predicament of mixing 'culture' and 'religion'", in: Baumann, Gerd/Sunier, Thijl (eds.): Post - Migration ethnicity. De - essentializing co hesion, cormnitments, and comparison, Amsterdam 1995, S. 78 - 98, Bommes, Michael: Migration und Sprachverhalten, Wiesbaden 1993, Tertilt, Hermann: Turkish Power Boys, Frankfurt a M. 1996.] Eine quantitative Repräsen-

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tativstudie liegt allerdings nicht vor, so daß ich mit statistischem Zahlenmaterial nicht aufwarten kann. Statt dessen werde ich meine Thesen auf jedem Beobachter zugängliche Beispiele aus dem Alltag stützen; auf Beispiele, die ebenso wie die bekannten problematischen Migrantenjugendbiographien Produkt der gesellschaftlichen Realität der Bundesrepublik sind. Vielleicht sind solche Beispiele (noch?) nicht allgegenwärtig. Es fällt jedoch nicht schwer, sich vorzustellen, welche Vorbild- und Lokomotivfunktion sie für die bislang weniger aktiven türkischen Jugendlichen haben können.

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Elemente der Patchwork-Identität: Code-Switching und Türkei-Option

Türkische Jugendliche schöpfen aus ihrer spezifischen Sozialisation Energien in dem Bewußtsein eine ganze Reihe von Kompetenzen entwickelt zu haben, die ihnen in einigen Lebensbereichen einen Vorsprung vor deutschen Jugendlichen ermöglichen. Viele wurden z.B. durch ihre tägliche Praxis semiprofessionelle „Vermittler" zwischen den Eltern und den deutschen Institutionen. Ihre Funktionen sind bei diesen Begegnungen nicht auf das reine Dolmetschen beschränkt, was bereits eine annähernde Zweisprachigkeit erfordert, es ging oft darum andere Denkstrukturen, Werte und Normen dem jeweils anderen in seiner Sprache begreiflich zu machen. Schon früh mußten viele von ihnen Verantwortung übernehmen, für die Eltern bei den Amtsgängen, für die Geschwister bei deren Betreuung. [ Fn 3: Diesen frühen Erwerb von Vermittler - bzw. Helferkompetenzen erwähnen Angehö rige der zweiten Generation immer wieder in Gesprächen mit Sozialwissenschaft lerinnen, u.a. bei Helma Lutz in ihrer Studie: Welten Verbinden. Türkische Sozial arbeiterinnen in den Niederlanden und in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1991, S. 220.] Daneben haben sie das Code-Switching. d.h. das hin- und herwechseln innerhalb eines Satzes, manchmal auch innerhalb eines Wortes zwischen zwei - bei Angehörigen ethnischer Minderheiten aus der Türkei sind es sogar drei - Sprachen, zur Perfektion entwickelt. Denjenigen, die das

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Code-Switching als Produkt einer doppelten Halbsprachigkeit bezeichnen, wäre entgegenzuhalten, daß es sich hier um eine erfolgreiche und höchst kreative Technik der sprachlichen Alltagsbewältigung handelt, die erst gemessen an den gehobenen Kriterien der formalen Bildung eine defizitäre Konnotation erhält. Nur Angehörige der eigenen Gruppe sind in der Lage, den ganzen Code zu entschlüsseln, was die Anbindung an die Peer-Group verstärkt. Während dies oft einseitig als Abkehr von der deutschen Mehrheitsgesellschaft interpretiert wird, wird vergessen, daß der sprachliche Code, verbunden mit jugendsprachlichen Versatzstücken beider Sprachen auch eine Abgrenzung gegenüber den Eltern und damit gegenüber den Repräsentanten der türkischen Herkunftskultur darstellt.

Ähnlich verhält es sich auch mit der Türkei-Option, d.h. der Möglichkeit zu einem selbstbestimmten Zeitpunkt sich für ein (vorübergehendes?) Leben in der Türkei entscheiden zu können, mit der der überwiegende Teil von ihnen groß geworden ist. Sie ist mittlerweile Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der türkischen Migrantengesellschaft geworden ist. Während diese Türkei-Option von einigen Beobachtern als Behinderung einer vollständigen Integration in die deutsche Gesellschaft interpretiert wird, da sie die realistische Zukunftsplanung in Deutschland behindere, sehen sich die Jugendlichen gegenüber den Deutschen im Vorteil; Vorstellungen hinsichtlich eines möglichen „Ausstiegs" werden nicht auf ein imaginäres Land projiziert, sondern haben reale Gestalt in Form der Türkei, auch oder gerade weil die meisten die Heimat ihrer Eltern nur aus gelegentlichen Urlaubsbesuchen her kennen.

Diese und andere Identitätsmerkmale kennzeichnen die Patchwork-Identität, die die Jugendlichen in der deutschen wie auch in der türkischen Gesellschaft handlungsfähig macht. [ Fn 4 Siehe hierzu detaillierter: Atabay, Ilhami: Ist dies mein Land? München 1995.] Aus den zur Verfügung stehenden Versatzstücken beider Gesellschaften entwickelt jeder für sich oder auch eine Peer-Group eine Identität, die nicht notgedrungen diffus sein muß. Das permanente Wiederholen dieses Topos der "verlorenen Generation", übrigens durchaus auch von türkischer Seite immer wieder bemüht, läßt viele der hier angesprochenen Entwicklungen unberücksichtigt und stellt die Jugendlichen - meiner Ansicht nach unzulässigerweise - als passive, amorphe Masse dar. Dafür, daß unter ihnen auch aktiv Handelnde sind, die sich mit ihrer Migrantenidentität kreativ einbringen möchten, will ich

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hier anhand der Freizeitkultur, sowie verschiedener Formen politisch-gesellschaftlicher Organisation exemplarisch darstellen.

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Die jugendliche Freizeitkultur

Seit ca. fünf Jahren verzeichnen die meisten deutschen Großstädte einen Boom der türkisch geführten Discotheken. In "Bodrum", "Abone", "Samata", alles Namen, die sich an ihren Vorbildern aus Ankara, Istanbul oder Antalya orientieren, werden die türkischen Pop-Charts rauf- und runtergespielt, neben den aktuellen englischen oder amerikanischen Charts. Die Diskotheken, ebenso wie die türkischen Kneipen stellen Refugien inmitten der deutschen Mehrheitsgesellschaft dar, in denen man sich an türkischen Umgangsformen orientiert. So wird zum Beispiel bereits am Eingang durch ein Schild: "Damsiz girilmez!" (Ohne Dame kein Eintritt!), deutlich, daß man bemüht ist, Mädchen vor Belästigungen durch "einsame Wölfe" zu schützen. Das frühe Verlassen einer Disco wird von den anderen nicht hämisch mit "Mußt Du jetzt heim zu Mami?" kommentiert, da viele auch noch als 23jährige bei den Eltern wohnen und diese Denkstrukturen kennen. An diesen Orten gelten eigene Regeln, ein eigener Habitus wird gepflegt, über den es einen weitgehenden Gruppenkonsens gibt. Außerdem stellen diese Orte die Umkehr der ansonsten gelebten Realität dar. Nicht-Türken sind hier in der Rolle des Gastes bzw. des Fremden, der, dies ist ein wenig rühmliches Nachahmen selbst andernorts erlebter Diskriminierung, gegebenenfalls keinen Zutritt bekommt.

Neben der mit Spannung verfolgten türkischen Pop-Kultur hat sich in Deutschland analog zu anderen Migrantenkulturen in Europa eine eigene Rap- und Hip-Hop-Kultur mit Elementen türkischer Musik oder türkischer Texte entwickelt. Erfolgreiche Beispiele hierfür sind die Gelsenkirchener "Sons of Gastarbeita" oder die "Kanacks with brain" aus Berlin. Selbstironisch, wie schon ihre Bandnamen zeigen, setzen sie sich mit engagierten Texten gegen Vorurteile und Ausländerfeindlichkeit ein. Ein besonders prägnantes Beispiel für diese Musik sind "Cartel", eine Gruppe, die mit besonders aggressiven, überwiegend türkischen Texten diese Thematik verarbeitete. Indem sie im Gegenzug zu den deutschnationalen Texten einiger rechter Musikgruppen Reime auf das Türkentum und damit die nationale Identität der Türken verwandte, brachte dies ihr den

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Vorwurf ein, in Verbindung zu den türkischen Nationalisten, auch bekannt als "Graue Wölfe", zu stehen. Dies wurde von der Gruppe jedoch immer wieder entrüstet zurückgewiesen. Cartel schaffte es als erste Gruppe, die zunächst in Deutschland Fuß gefaßt und sogar in die deutschen Charts kam, später auch in der Türkei erfolgreich zu sein. [ Fn 5: Auch deutsche Musikmagazine oder Radiosender widmen dem türkischen Rap oder Hip - Hop eigene Features, so z.B. Stefan Krulle: "Im Zeichen des Halbmondes", in: WOM Journal 4/96, S. 44 - 48; oder die einstündige Sendung „Wolfsmilch und Kö nigswasser. Das Kanacken - Cartel. Türkische Sounds und Samples" in der Reihe „Lauschangriff" des Radiosenders WDR Eins Live vom 19 11.1996.] Weniger gesellschaftlich engagiert, als vielmehr ein shooting-star der türkischen Pop-Szene ist seit 1994 Tarkan, ein Türke der zweiten Generation, der u.a. als Interpret von Liedern der türkischen Pop-Größe Sezen Aksu zunächst in der Türkei Karriere machte, bevor auch der deutsche Musiksender "Viva" auf ihn aufmerksam wurde und ihm 1995 ein ganzes "special" widmete. Er ist für viele musikalisch ambitionierten jungen Türken in Deutschland das große Vorbild, der es als einer von ihnen geschafft hat, sowohl in der Türkei als auch in Deutschland Anerkennung zu erlangen.

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Politisch-gesellschaftliche Aktivitäten

Auch im Bereich der politisch-gesellschaftlichen Aktivitäten können eigene Wege der zweiten und dritten Generation ausgemacht werden. Die herausragenden Beispiele für eine gelungene Nutzung der Migrantensituation, einer eigenen Verbindung von türkischem Background mit deutscher Sozialisation sind bekannt: Cem Özdemir, der grüne Bundestagsabgeordnete türkischer Herkunft hat sicher keine migrantentypische Karriere gemacht und mit seiner kritischen Haltung gegenüber der offiziellen türkischen Regierungspolitik ist er vor allem unter konservativ eingestellten türkischen Migranten nicht unumstritten. Unbestreitbar ist er für viele dennoch ein Vorbild und die türkische Community in Deutschland ist stolz darauf, daß es einer von ihnen geschafft hat, in die höchste Institution der deutschen Demokratie Eingang zu finden. Seine Wahl in den Bundestag war für viele junge Türken ein Signal dafür, daß es sich lohnen könnte, sich einbürgern zu lassen. Immer mehr Mitglieder der zweiten Generation türkischer Herkunft engagieren sich in deutschen Parteien. Während für

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die einen der Einstieg direkt war, wie etwa bei Cem Özdemir, verlief er für andere zunächst über die Aktivität in türkischen Selbstorganisationen, dann die Gründung parteinaher türkischer Gruppierungen und schließlich in die Parteien selbst. Bei der FDP ist es Mehmet Daimagüler, der zunächst über die türkische FDP-nahe Organisation Liberaler Türkischer Demokraten (LTD) den Einstieg fand. Bei der CDU ist Ertugrul Uzun, der ehemalige Vorsitzende der "European Association of Turkish Academics" (EATA), eine türkische Jungakademiker-Selbstorganisation, mittlerweile politisch aktiv. In allen politischen Lagern finden sich heute Menschen türkischer Herkunft, die sich für Veränderungen der deutschen Gesellschaft innerhalb existierender Strukturen einsetzen. Ein erstes Betätigungsfeld für politische Arbeit bilden für viele auch die Ausländerbeiräte, in denen zunehmend Angehörige der zweiten Generation in Führungsposten drängen, wie das Beispiel Hikmet Efe-Baz, Ausländerbeiratsvorsitzende in Essen oder auch Mustafa Gencer in Bielefeld zeigt. Sie haben gegenüber der ersten Generation den Vorteil, daß sie nicht nur fachlich interessiert und kompetent sind, sondern dies auch sprachlich in Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit Institutionen der Mehrheitsgesellschaft adäquat zum Ausdruck bringen können. Ihre Mitarbeit ist ein Zeichen für die Bereitschaft der zweiten Generation Verantwortung sowohl gegenüber der Migrantengesellschaft als auch der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu übernehmen und verleiht den eigentlich nur beratend tätigen Ausländerbeiräten mehr Gewicht bei kommunalen Entscheidungen.

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Ethnische Ausdifferenzierung

Die im politischen Bereich stattfindende Ausdifferenzierung ist auch in der ethnischen Identität zu beobachten. Sie machen eine Einschätzung der unter der Rubrik "türkische Jugendliche" geführten Gruppe nicht gerade leichter. Bewertet man jedoch Interessensaufspaltungen in Migrantengesellschaften als Teil des Integrationsprozesses. so dürfte auch dieser Aspekt hierbei eine Rolle spielen, neben dem Einfluß von Entwicklungen im ehemaligen "Heimatland" der Eltern. Unter den türkischen Jugendlichen gibt es mittlerweile ethnisch Ausdifferenzierungen in allen denkbaren Kombinationen: Da sind die Kurden alevitischer. sunnitischer, yezidischer

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oder atheistischer Provenienz. Mit Ausnahme der Yeziden sind die genannten religiösen Gruppierungen etwa gleich stark auch unter den Türken vertreten, ähnlich sieht es bei Türken arabischer Herkunft aus. Es gibt Türken die extrem-nationalistische Organisationen unterstützten, als Pendant dazu Kurden mit Präferenzen für die PKK. Darüber hinaus gibt es aber auch Türken und Kurden, die gemeinsam nationalistische bzw. rechts- oder linksextreme Gruppierung favorisieren.

Die große Mehrheit jedoch dürfte eher nicht politisch aktiv sein. Ein Teil von ihnen organisiert sich lieber in nationalitäten- und ideologienübergreifenden echten Migrantenselbstorganisationen, wie etwa im Verein "Die Unmündigen" in Mannheim, wo Vertreter der zweiten und dritten Generation verschiedener nationaler oder kultureller Herkunft sich für Gleichberechtigung von Deutschen und Ausländern in Deutschland einsetzen. In ihrer Verbandsbroschüre erklären sie, daß sie "den Ausländerstatus nicht mehr akzeptieren" wollen und geben auf die rhetorische Frage "Was brauchen wir" selbst die Antwort: "Ein starkes Selbstbewußtsein. Das finden wir bei der zweiten und dritten Generation, denn sie erfährt am deutlichsten jeden Tag, was es heißt, Ausländer im eigenen Land zu sein."

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Abzeichen und Symbole ethnischer oder politischer Zugehörigkeit

An dieser Stelle möchte ich kurz auf die von Jugendlichen türkischer Herkunft verstärkt getragenen Abzeichen und Symbole eingehen, die auch ein Ausdruck der hier beschriebenen Ausdifferenzierung zu sein scheinen. So tragen sie etwa Halbmond und Stern, die Kennzeichen der türkischen Flagge als Kettenanhänger oder Applikation an der Kleidung, einige bevorzugen auch das Abzeichen mit der Silhouette eines heulenden Wolfes im Halbmond, das Emblem der nationalistischen "Grauen Wölfe". Andere wiederum geben durch das Tragen eines Miniatur-Schwertes, das das "Zülfükar", d.h. Schwert Alis, des Cousins und Schwagers des Propheten symbolisiert, zum Ausdruck, daß sie sich dem Alevitum verbunden fühlen. Als Kettenanhänger sind auch kleine Miniatur-Korane in Futteralen oder blaue Steine gegen den "Bösen Blick" beliebt. Bei einigen kurdischen Jugendlichen kann man die Landkarte Kurdistans mit den kurdischen Farben grün, gelb, rot sowie dem PKK-Emblem ausmachen. Die Auswahl

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ist groß und alles wird mit Stolz getragen. Aber es gibt auch hier Unterschiede zwischen den eher kulturell-religiösen Zieraten und dem Versuch mit Symbolen auch eine politische Richtung, mit deren Inhalten man vertraut ist, zu demonstrieren oder schlicht zu provozieren. Nicht automatisch verweist das Symbol auch tatsächlich auf eine verinnerlichte politische oder religiöse Orientierung. Nicht immer weiß der Träger, welche Ideologie oder welche Tradition sich hinter dem vermeintlich "wahrhaft" türkischen, kurdischen oder islamischen Symbol verbirgt. Für viele scheint es viel eher darum zu gehen, nach Außen zu demonstrieren, daß man dazugehört, daß man nicht alleine und damit schutzlos ist, sondern etwas "zutiefst eigenes" mit einer Gruppe von Menschen teilt. In Gesprächen mit kopftuchtragenden Studentinnen gewann ich ebenfalls den Eindruck, daß ganz im Gegensatz zur negativen Wahrnehmung dieses Symbols in der deutschen Öffentlichkeit sie selbst dieses als Ausdruck eines positiven, neuen Selbstwertgefühls als gebildete muslimische Frau tragen, und ihnen insbesondere das Gemeinschaftserlebnis, den Entschluß, sich so zu kleiden, mit anderen zu teilen, viel Stärke gibt. [ Fn 6: Siehe hierzu auch: Karakasoglu, Yasemin: „Türkische Jugendcliquen in Deutschland. Jugend auf zwei Stühlen", in Medien Concret, Magazin für die pädagogische Praxis, November 1994, S. 52 - 57.] Dabei grenzt man sich übrigens nicht nur gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft ab, sondern auch gegenüber der Herkunftskultur der Eltern. [ Fn 7: Apitzsch, Ursula: „Migration und Traditionsbildung", S 21, in: Karpf, Ernst/Kiesel, Doron (Hrsg.): Politische Kultur und politische Bildung Jugendlicher ausländischer Herkunft, Arnoldshainer Texte - Band 91, Frankfurt a.M. 1996, S 11 - 30.] Das Kopftuch der Mutter, das nicht exakt gebunden ist. vielleicht noch Haare herausschauen läßt, ist für sie nicht mehr als das Nachahmen einer unreflektierten türkisch-islamischen Tradition. Ihr eigenes. auch die Schultern verhüllendes Kopftuch jedoch demonstriert das durch (Selbst-)Studium erworbene Wissen um koranisch legitimierte islamische Vorschriften, die ihrer Überzeugung nach auch das Tragen eines Haare und Hals verhüllenden Kopftuches für Frauen fordern.

Als Reaktion auf die oben geschilderten ethnischen Ausdifferenzierungen gibt es auch aus den eigenen Reihen Kritik dahingehend, daß dies die gemeinsame Handlungsebene als Migranten in Deutschland behindere. Ein Beispiel hierfür ist die Reaktion einer türkischen Studentin übrigens ur-

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sprünglich georgischer Abstammung, an der Polarisierung zwischen türkischen und kurdischen Studierenden an der Universität GH Essen. Sie verwehrte sich in einem Leserbrief in der Studentenzeitschrift "Asta la Vista" gegen die Segregation und die gegenseitigen Feindseligkeiten innerhalb der Gruppe von Menschen aus der Türkei: "Anstatt sich abzukapseln und neue Vereine zu gründen, die nur für eine Völkergruppe bestimmt sind, wäre es doch vorteilhaft, einen z.B. kurdisch-türkischen Freundschaftsverein gegen den Rechtsradikalismus in Deutschland zu gründen." [ Fn 8: Asta la Vista. Die Essener Studentlnnenzeitschrift, Mai 1996. S 14.] Ein positives Selbstwertgefühl als türkische Migranten in Deutschland hat auch ein großer Teil der ca. 200 türkischen Lehramtsstudierenden in Essen, die der Gedanke verbindet, in einem neu eingerichteten Studiengang "Türkisch als Lehramt in der Sek. II" alle Pioniere zu sein und eine große Verantwortung für die intellektuelle Entwicklung der türkischen Migrantengesellschaft der Zukunft zu tragen. Dies zeigt sich u.a. im Appell an die nachfolgenden Jahrgänge, bei aller Begeisterung für die türkische Sprache die deutschen Sprachkenntnisse nicht zu vernachlässigen und mit deutschen KommilitonInnen Kontakt zu suchen, um nicht in eine sprachlich und kulturell isolierte Situation zu geraten.

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Islamisch orientierte Jugendliche

Sehr differenziert entwickelt sich auch die islamische Szene. Vielfach noch im Dunstfeld der verschiedenen, teilweise vom Verfassungsschutz als extremistisch definierten islamischen Organisationen, aber auch unabhängig von ihnen, entwickelt sich ein eigenes Selbstverständnis auf islamischer Grundlage, das sich sowohl gegenüber der Türkei, dem traditionellen Islam der Eltern wie auch der deutschen Mehrheitsgesellschaft und ihren diversen Jugendsubkulturen abzugrenzen versucht. Verglichen mit linksorientierten Jugendzeitschriften sind ihre religiösen Bezugspunkte eher wertekonservativ. Sie versuchen jedoch mit eigenen Publikationen die Diskussion, z.B. um die zeitgemäße Organisation eines islamischen Alltags, durch eigene Beiträge anzuregen. Darüber hinaus werden durchaus auch kritische Töne gegenüber den Dachverbänden laut, wie z.B. in der Kulturzeitschrift "Kafdagi", die einen gehobenen intellektuellen Anspruch

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hat. Hier kritisieren sie u.a. daß sich die religiösen Organisationen nicht wirklich für die Belange der Türken in Deutschland interessierten, sondern in den Deutschland-Türken reine "Geld-Esel" sähen. [ Fn 9: Kafdagi, Ausgabe von Mai 1996, s. 13.] Es sei notwendig, sich von der Türkei-Orientierung zu lösen und endlich eine eigene Identität zu entwickeln. Vereine wie die "Akademische Initiative Dialog - Akaid" an der Bochumer Universität organisieren Informationsveranstaltungen über den Islam, über das Verhältnis zwischen dem Islam und dem Westen und über einen Dialog mit Nicht-Muslimen. Andere bilden Selbsthilfegruppen, wie etwa der Verein muslimischer Studentinnen "Sura" an der Universität Dortmund. Bei diesen Veranstaltungen kommen radikale und moderate Standpunkte zur Ausgestaltung einer Islam-gerechten Gesellschaft gleichermaßen zur Sprache. Auf diese Weise ergreifen die jungen bekennenden Muslime im Gegensatz zu ihren Eltern von sich aus die Initiative, nicht nur die zur Selbsthilfe sondern auch zum Dialog mit Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft.

Die türkisch-muslimischen Dachverbände [ Fn 10: Siehe hierzu ausführlicher: Ministerium nur Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein - Westfalen (Hrsg.): Türkische Muslime in Nordrhein - Westfalen, 2. überarbeitete Auflage, Pulheim, Juli 1995 [3. völlig aberarbeitete Auflage ist im Erscheinen].] haben das Potential, das in der Verbindung von Jugendarbeit und Islam liegt, entdeckt und bieten der Zielgruppe der türkischen Jugendlichen eine breite Palette an Betätigungsmöglichkeiten an, nicht zuletzt Aufstiegsoptionen innerhalb der Organisationshierarchie, die Prestige gegenüber der türkischen wie auch der deutschen Gesellschaft, von der sie dann als "Repräsentanten der türkischen Muslime in Deutschland" betrachtet werden, verheißen. Zwei große türkisch-muslimische Dachverbände (IGMG sowie VIKZ) haben mittlerweile in ihrem Führungskader Repräsentanten der zweiten Generation. Man sollte jedoch nicht den Fehler begehen, die von den Organisationen stark umworbene Bildungselite der türkischen HochschulstudentInnen in ihrem eigenen Urteilsvermögen zu unterschätzen. Sie wägen sehr wohl ab, was sich von den durch die Organisationen vertretenen Ideen noch mit ihrer persönlichen Auffassung vereinbaren läßt und was nicht. Außerdem sind sie bemüht, nicht in Zusammenhang mit extremistischen Ideologien gesehen zu werden, da dies ihre Position innerhalb der deutschen Gesellschaft

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schwächen würde. Um sich einen Überblick zu verschaffen, hat sich bei dieser Gruppe ein regelrechter Kongreßtourismus entwickelt. Die gleichen Personen besuchen nacheinander den Jahreskongreß der "Grauen Wölfe", der "Milli Görüs" und der "ATiB". Später berichten sie davon, daß die einen eine interessante Multi-Media-Show präsentiert hätten, während bei den anderen die Musik im Kulturteil des Kongresses besser angekommen sei, hier waren die Slogans nicht mehr aktuell, an anderer Stelle wird die allzu strenge Geschlechtertrennung (eigene Eingänge für Männer und Frauen) kritisiert. Einig ist man sich jedoch über das sie tief beeindruckende Zusammengehörigkeitsgefühl, das dadurch entstehe, wenn 10-20.000 religiös orientierte Türken an einem Ort in Deutschland zusammenkommen. [ Fn 11: Zum Aspekt der Schicksalsgemeinschaft, der Aufstiegsoptionen aber auch der Ein flußmöglichkeiten jugendlicher Intellektueller der zweiten Generation auf die Ver bandslinie siehe auch den Aufsatz „Üben islamisch - fundamentalistische Organisationen eine Anziehungskraft auf Jugendliche aus?" von Emir Ali Sag, in: Heitmeyer, Wilhelm/Dollase, Rainer: Die bedrängte Toleranz. Frankfurt a.M. 1996, S 450-476.] Um dies zu stärken haben die Organisationen Slogans entwickelt, in denen zum einen die Verbleibabsicht in Deutschland und zum anderen das türkisch-muslimische Selbstbewußtsein zum Ausdruck gebracht werden soll. Sie werden von der Menge auch angenommen, wie z.B. "Wir, wir, wir sind von hier, sind Einheimische!" [gemeint ist: Einheimische in Deutschland] und in Ergänzung dazu .,Wir sind Türken, sind Muslime und zivilisiert". Ähnliche Tendenzen sind bei den alevitischen Jugendlichen zu beobachten, für die z.B. das jährlich stattfindende Alevitische Kulturfestival mit über 30.000 TeilnehmerInnen ebenfalls wichtig zur Stärkung ihres Zugehörigkeitsgefühls ist. Auch unter ihnen gibt es Gruppen, die z.B. dies von der größten Alevitischen Vereinigung in Deutschland organisierte Fest befürworten, sich jedoch gegenüber der Verbandspolitik distanzieren und auf ihrer Eigenständigkeit pochen, wie z.B. die „Unabhängige Alevitische Jugend" (Bagimsiz Alevi Gencligi). [ Fn 12: Das hier Geschilderte beruht auf eigenen Gedächtnisprotokollen zu teilnehmenden Beobachtungen bei verschiedenen Großveranstaltungen tiirkisch - islamischer Vereine aus dem Jahr 1996.]

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Schlußbemerkung

Die hier geschilderte Ausdifferenzierung hat im Hinblick auf den Zusammenhalt innerhalb der einzelnen Gruppen durchaus identitätsstiftende bzw. -stabilisierende Effekte, gemeinsamer Habitus, gemeinsame Symbole spielen hier eine große Rolle. Allerdings birgt diese Binnendifferenzierung auch konfliktfördernde Aspekte, insbesondere dann, wenn eine Vereinnahmung der Jugendkulturen durch die diversen Dachverbände stattfindet und die von ihnen vorgegebenen Feindbilder („der Westen", „der Islam", „die" Rechten, „die" Linken etc.) unreflektiert übernommen werden. Man sollte die Jugendlichen jedoch in ihrer Dynamik und Ambivalenz bis hin zur Ablehnung jeglicher Vereinnahmung auch nicht unterschätzen. Ihr Mißtrauen besteht nicht nur gegenüber Vereinnahmungsversuchen der Mehrheitsgesellschaft (Stichwort Assimilation) sondern auch gegenüber Angehörigen der eigenen ethnischen Gruppe, die blinden Gehorsam fordern. Letztlich sind sie mit ihren jugendlichen Subkulturen Teil der multikulturellen Jugendkultur Deutschlands, die sich - wie alle Jugendkulturen -durch Radikalität und Kompromißlosigkeit vor allem gegenüber der älteren Generation und ihrem Führungsanspruch abgrenzen will.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1999

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