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Heike Roll:
Deutsch sein und doch fremd sein - Jugendliche Aussiedler suchen ihre Identität


Druck-Ausgabe: Seite 39

Zwischen 1988 und 1996 sind 2.088.681 Aussiedler nach Deutschland eingereist, davon 1.264.522 Millionen aus den GUS-Staaten. Seit dem Inkrafttreten des sogenannten Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes am 1.1.1993 stellen die Aussiedler aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion über 90% der nach Deutschland einwandernden Aussiedler aus den ehemaligen Ostblockstaaten. Neben der türkischen Minderheit bilden sie mittlerweile in Deutschland die zweitgrößte Einwanderungsgruppe. Innerhalb der letzten sieben Jahren hat ein hoher Anteil [ Fn 1: Wieviele Rußlanddeutsche heute noch in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion leben läßt sich nur anhand der Volkszählungsergebnisse schätzen, Ausreise, natürliches Bevölkerungswachstum, Binnenmigration und Wechsel der nationalen Zuordnung müssen miteinbezogen werden. 1991 lebten in der Sowjetunion laut Volkszählung 1.821.300 Deutsche. Quelle: Strany - cleny SNG. Statisticeskij ezegodnik. Moskva, 1993.] der gesamten rußlanddeutschen Minderheit ihre Hauptsiedlungsgebiete Kasachstan, Mittelasien und Sibirien verlassen - ein Exodus, der sowohl die Lebensbedingungen der zurückbleibenden Rußlanddeutschen maßgeblich verändert hat, als auch die Integration der in Deutschland lebenden Aussiedler erschwert. Weitere Faktoren sind dabei die gekürzten Eingliederungshilfen, die abnehmende Akzeptanz bei der Bevölkerung sowie die veränderten soziodemographischen Hintergründe der Zuwanderer.

Vor allem die Jugendlichen unter den Aussiedlern sind Leidtragende dieser Situation. Ihr Anteil an der Gesamtgruppe ist vergleichsweise hoch: Von den 1995 nach Deutschland eingereisten Aussiedlern (217.898) betrug die Zahl der unter 20jährigen 38%. [ Fn 2: Quelle: Bundesverwaltungsamt, in: Info - Dienst Deutsche Aussiedler (1996), Nr. 82, Bonn, S. 22.] Sie machen zunehmend, ebenso wie die Jugendlichen anderer Einwanderergruppen bzw. auch der zweiten Arbeitsmigrantengeneration, Erfahrungen sozialer Ausgrenzung und fehlender Anerkennung. Die spezifischen Schwierigkeiten, die rußlanddeutsche Ju-

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gendliche beim Einstieg in die bundesdeutsche Gesellschaft zu bewältigen haben, sollen im folgenden vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen in den Herkunftsländern, des Erlebnisses der Migration und ihrer Situation in Deutschland beleuchtet werden.

Grundlage dafür sind Ergebnisse einer Interviewstudie, die die Forschungsgruppe "Migration" am Osteuropa-Institut München im Winter 1995/96 durchgeführt hat. [ Fn 3: Diese Studie fand im Rahmen des von der Volkswagen Stiftung finanzierten For schungsprojektes "Die fremden Deutschen" statt.] In sieben Bundesländern haben insgesamt 253 jugendliche Aussiedler im Alter von 15-26 Jahren teilgenommen. Die Hälfte der befragten Jugendlichen ist zwischen 1990 und 1992 gekommen, die andere bis Ende 1994, männliche und weibliche Jugendliche waren gleich verteilt. Die Studie repräsentiert erstmals umfassende empirische Daten über die Erfahrungen und Einstellungen der Jugendlichen im Herkunftsland und in Deutschland. [ Fn 4: Ergebnisse des Forschungsprojektes sind des weiteren publiziert bei Dietz, B.: Jugendliche Aussiedler, Berlin 1996 (im Druck); Dietz, B./Greiner, J./Roll, H: Ju gendliche Aussiedler, in: Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit (Hrsg.): Beratungs - und Betreuungsarbeit für .Jugendliche AussiedlerInnen, 34. Sozialanalyse, Bonn 1996, S. 26 - 31.]

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1. Zur Situation in den Herkunftsländern



Bedeutung der ethnischen Identität

Geboren in den siebziger und achtziger Jahren, zählt die jüngste Nachkriegsgeneration der Rußlanddeutschen in ihren Herkunftsländern zur sogenannten Perestroika- bzw. Nachperestroikageneration. Ihre sozialen Erfahrungen sind andere als die ihrer Eltern und Großeltern: Zum einen unterscheiden sich ihr Status und ihre Selbstwahrnehmung als Angehörige der deutschen Minderheit, zum anderen sind sie vom Zusammenbruch der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen und des sie tragenden Wertsystems infolge der Auflösung der Sowjetunion betroffen.

Nach dem zweiten Weltkrieg hatten die Rußlanddeutschen aufgrund ihrer jahrzehntelangen Diskriminierung wenig Möglichkeiten, deutsche Sprache

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und Kultur institutionell zu verankern. Wenn Deutsch nicht in der Familie gesprochen oder deutsche Traditionen gepflegt wurden, ist in vielen Fällen davon auszugehen, daß die Jugendlichen keine oder nur geringe deutschen Sprachkenntnisse haben. Deutsch kann als Fremdsprache an manchen Regelschulen gelernt werden, jedoch zumeist in geringer Stundenzahl. Vom "muttersprachlichen Deutschunterricht", der bereits 1957 für die Deutschen eingerichtet wurde, profitiert nur eine kleine Schülergruppe, da dieser nur an wenigen Schulen zumeist in den sogenannten kompakten deutschen Siedlungen in Nordkasachstan, Westsibirien oder Kirgisien gegeben wird, wo bis heute rußlanddeutsche Kultur im Alltag teilweise eine Rolle spielt. [ Fn 5: Vgl. Hilkes, P.: Die Schulsituation der Rußlanddeutschen in der ehemaligen Sowjetunion, Osteuropa - Institut München 1993.] In vielen kompakten Siedlungsgebieten verändern sich jedoch seit der Massenausreise der Deutschen die ethnischen Strukturen. Die Mehrheit der Rußlanddeutschen lebt in der Streusiedlung oder auch in Städten in einer nicht-deutschen Umgebung. So gaben nur 15% aller von uns befragten Jugendlichen an, sie seien in einem überwiegend rußland-deutschen Umfeld aufgewachsen. Von den aus Rußland stammenden Jugendlichen lebte die Mehrheit (60,7%) in einem überwiegend russischen Umfeld. In Kasachstan hingegen war die Lebenswelt der Jugendlichen vom multikulturellen Kontext des Landes geprägt: 52% der Jugendlichen lebten in einem gemischtnationalen Umfeld, 20% in einem überwiegend kasachischen und 12,8% in einem überwiegend russischen. Dementsprechend sind auch die Angaben der Jugendlichen über ihre Freundeskreise: Nur 6,3% der Jugendlichen hatten einen überwiegend rußlanddeutschen Freundeskreis.

Die schulische und gesellschaftliche Sozialisation der Jugendlichen ist zumeist durch die russische Sprache und Kultur geprägt, die von den nachsowjetischen Institutionen ihrer Herkunftsländer vermittelt wurden. Über die Hälfte (55,2%) der Befragten haben sich in ihrem Wohnumfeld völlig dazugehörend gefühlt, ein Drittel (30,6%) fühlte sich akzeptiert. Ausgrenzungserfahrungen machten 13,1% der Jugendlichen, isoliert empfanden sich nur 1,2%. Inwieweit diese Fälle von Ausgrenzung ethnisch begründet sind, ist nicht eindeutig zu rekonstruieren. Diejenigen Jugendlichen, die in einem überwiegend rußlanddeutschen Umfeld aufgewachsen sind, berichten jedoch von keinen Ausgrenzungserfahrungen. Viele Rußlanddeutsche

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fühlen sich aber in Kasachstan und besonders in Mittelasien (Tadschikistan, Kirgisien, Usbekistan), ebenso wie die Angehörigen anderer europäischer Nationalitäten, von dem wachsenden Nationalismus der Titularnationen bedroht, auch wenn sie nur teilweise persönlich Diskriminierung erfahren. Einige Jugendliche berichten, daß sie, wie früher ihre Großeltern, als "Fritzen" oder "Faschisten" beschimpft wurden.

Das Trauma der Deportation und jahrzehntelangen Diskriminierung als deutsche Minderheit sind Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der Rußlanddeutschen und begründen unter anderem ihr ethnisches Bewußtsein als ein diachrones: die Erinnerung an ein gemeinsam erlittenes Schicksal und auch die Angst vor dessen Wiederholung ist noch lebendig bei der älteren Generation und wird zum Teil, gerade jetzt erneut, an die jüngste überliefert. In vielen Familien wurde das Erlebte jedoch verdrängt und verschwiegen, nicht zuletzt um die nachwachsende Generation vor einer erneuten Stigmatisierung als Deutsche zu schützen. Wenige Jugendliche haben in ihren Herkunftsländern erlebt, daß sie gezielt als Deutsche benachteiligt wurden. In den GUS-Staaten spielt die ethnische Zugehörigkeit "deutsch" jedoch in verschiedenen sozialen Zusammenhängen (Schule, Nachbarschaft) ebenso wie in offiziellen Bereichen (z.B. beim Paßsystem, bei der Aufnahme in die Hochschule) eine Rolle. Jugendliche erleben, daß sie "von außen" als Deutsche wahrgenommen werden bzw. nehmen sich selbst als Angehörige der deutschen Minderheit wahr, oft ohne ihr "Deutschsein" mit Inhalt füllen zu können.

Auf die Frage, in welchen Zusammenhängen die Befragten ihre deutsche Identität in den Herkunftsländern erfahren hätten, entfielen die meisten Nennungen (41,1%) auf die Abstammung von einer deutschen Familie (es konnten zwei Angaben gemacht werden). 31,6% antworteten, sie hätten sich schon immer deutsch gefühlt. Ein Fünftel (23,7%) gibt Familientraditionen an und nur 13% die deutsche Sprache. 8,7% der befragten Jugendlichen fühlten keine deutsche Identität.

Religion ist ursprünglich ein wichtiger Bestandteil der rußlanddeutschen Geschichte. Rußlanddeutsche der älteren und mittleren Generation, die religiös gebunden sind, haben häufig deutsche Sprachkompetenzen (d.h. ihre jeweiligen Dialekte) oder kulturelle Muster bewahrt. Aufgrund der jahrzehntelangen Unterdrückung von Religion und Kirche in der Sowjetunion konnten sich die rußlanddeutschen Gläubigen - ebenso wie alle

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anderen Gläubigen - nur in illegalen Hauskreisen treffen. [ Fn 6: Vgl. hierzu auch Stricker, G.: Deutsches Kirchenwesen in Rußland und in der UdSSR nach 1941, in: Ders./Basse, O. (Hrsg.): Religionen in der UdSSR. Unbekannte Vielfalt in Geschichte und Gegenwart. Zollikon. 1989. S. 149 - 177.] Der Kreis der "verborgenen Kirche" reduzierte sich daher auf eine kleinere Gruppe, deren oftmals fundamentale Überzeugungen den Repressionen des sowjetischen Systems widerstanden. Die Mehrheit der Aussiedler zählt sich zur evangelisch-lutherischen Konfession (davon ist ein kleinerer Teil brüdergemeinschaftlich-pietistisch geprägt), ein Teil zur römisch-katholischen und eine Minderheit ist freikirchlich ausgerichtet, d.h. vor allem mennonitisch oder baptistisch. [ Fn 7: Laut Statistik des Bundesverwaltungsamtes waren 55,7% aller 1995 nach Deutschland eingereisten Aussiedler evangelisch, 19,6% katholisch und 24.6% gehörten einer anderen Konfession an, in: Info - Dienst Deutsche Aussiedler. Nr. 82, Bonn 1996, S. 18.]
Die Aussiedlerjugendlichen sind in einem atheistischen Gesellschaftssystem sozialisiert. Religiöse Handlungspraxis konnten sie zumeist nur erleben, wenn sie in einer religiösen Familie aufgewachsen sind oder einen freikirchlich-brüdergemeinschaftlichen Hintergrund haben. Allerdings ist in den letzten Jahren ein neuer Trend zu Kirche und Religiosität zu verzeichnen, der mit der Perestroika zu tun hat: Manche Jugendliche suchen neue Werte, die sie in den seit 1990 zugelassenen Glaubensgemeinschaften zu finden hoffen.

Die konfessionelle Zugehörigkeit der von uns befragten Jugendlichen spiegelt die Verteilung in der Gesamtgruppe wider (56,1% sind evangelisch, 19,8% katholisch, 6,8% evangelisch-freikirchlich. 2,8% orthodox). 12,3% gehören keiner Religion an. Den Gottesdienst besucht die Hälfte der Befragten in Deutschland gar nicht (50,2%), ein Drittel (28.8%) gelegentlich bzw. zu hohen Feiertagen. 14,2% gehen ein- bis dreimal im Monat in die Kirche, 6,7% viermal und mehr (in unserer Studie sind dies die Jugendlichen, die baptistisch, neuapostolisch sind oder einer evangelischen Brüdergemeinde angehören.) Den Kirchen kann bei der Eingliederung der Jugendlichen in der Bundesrepublik eine gewichtige Rolle zukommen, da Gemeindeaktivitäten, Religionsunterricht u.ä. für viele Jugendliche wichtige Anknüpfungspunkte an die hiesige Gesellschaft sein können.

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Soziale Erfahrungen

Für die Herausbildung der Identität der Jugendlichen in den Herkunftsländern waren aber von viel entscheidenderer Bedeutung als die Ethnizität die sozialen Erfahrungen in den nachsozialistischen Herkunftsgesellschaften. Jugend als eine Lebensphase zu betrachten, in der Jugendliche sich von der Erwachsenenwelt absetzen und eigene Wege gehen, entsprach nicht der sowjetischen Ideologie. Es wurde vielmehr die "Kontinuität der Generationen" propagiert. [ Fn 8: Vgl. Pilkington, H.: Russia's Youth and its culture. A nation's constructors and constructed, London/New York 1994.]
Kollektivdenken, Solidarität, Klassenbewußtsein, Disziplin etc. wurden in einem hierarchischen Erziehungssystem an die junge Generation weitergegeben. Jugendliche sind zumeist in traditionellen Autoritätsstrukturen verblieben, konnten sich nicht im Protest gegen Mütter und Väter, geschweige denn gegen Schule und Staat erproben. Jugendkultur durfte sich nur im Rahmen der staatlichen Jugendorganisationen (die Pionier- und Komsomolzenorganisationen wurden 1991 aufgelöst) entwickeln, abweichendes Verhalten wurde sanktioniert. Insgesamt war und ist zum Teil bis heute das soziale Netz sehr viel engmaschiger: Einen festen Platz in einer Gruppe (Klasse, Jugendgruppe, Arbeitskollektiv, Wohnblock etc.) einzunehmen, war für Kinder und Jugendliche bis zum Beginn der neunziger Jahre oftmals identitätsstabilisierend. Das konnte soziale Kontrolle, zugleich aber auch Sicherheit und Geborgenheit bedeuten. Der Zusammenbruch der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen im Zuge der Auflösung der Sowjetunion 1991 bedeutet für viele Jugendliche eine Orientierungskrise. Viele Schlüsselinstanzen, also Jugendorganisationen, Schulen, Hochschulen, Betriebe und auch die Familien können den Jugendlichen infolge der gesamtgesellschaftlichen Destabilisierung häufig keine Orientierung und keine Perspektive in einer sich verändernden Gesellschaft mehr bieten.

Vor allem das Bildungssystem in den GUS-Staaten befindet sich in einer tiefgreifenden Krise: Zwar sind die Rechtsgrundlagen für eine Entideologisierung und Demokratisierung der Schulen und Hochschulen bereits geschaffen, aufgrund fehlender finanzieller Mittel und verkrusteter Struktu-

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ren können sie jedoch nur begrenzt realisiert werden. [ Fn 9: Vgl. Kuebart, F.: Rußland, in: Anweiler, O./Boos - Nünning, U./Brinkmann, G. u.a.: Bildungssysteme in Europa, Weinheim 1996, S. 165 - 192.]
Lehrer bekommen ihr ohnehin sehr niedriges Gehalt nicht mehr regelmäßig ausbezahlt, sind auf Nebenerwerb angewiesen oder quittieren ganz den Schuldienst. Nicht zuletzt bedingt durch das veraltete Lehrmaterial und veraltete Lehrpläne, finden nach wie vor traditionelle Lehr - und Lernformen Anwendung. Die Kontinuität zwischen Schule, Berufsausbildung und Beruf ist zum Teil zerstört: der Erwerb eines höheren Bildungsabschlusses verspricht nur bedingt eine Chance auf einen Arbeitsplatz. Die in der Schule vermittelten Kenntnisse entsprechen oft nicht mehr den neuen Erfordernissen der Berufswelt, was unter anderem dazu führt, daß immer mehr Jugendliche die Schule abbrechen. Die Anzahl der arbeitslosen Jugendlichen ist steigend. [ Fn10: Vgl. Slepzow, N.: Auf dem Wege zur Marktwirtschaft, in: Slepzow, N./Rewenko, L.: Die Perestroikageneration. Jugendliche in Rußland, Weinheim/München 1993, S. 15.]
Deutschland erscheint vielen Jugendlichen vor diesem Hintergrund als ein Land, das Perspektiven bietet. Dies wird bestärkt durch die insgesamte "Westorientierung" in den GUS-Staaten und nicht zuletzt auch durch die Berichte und Erfahrungen von bereits nach Deutschland ausgereisten Verwandten und Bekannten, die oftmals nur von ihren positiven Erfahrungen berichten.

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2. Erfahrung der Ausreise

Die Ausreise trifft viele Jugendliche in einem Lebensabschnitt, indem die Suche und die Verfestigung des Identitätsgefühls zentral sind. Wesentlichen Einfluß auf die erste Phase der Integration haben die Einstellungen und Motive des Jugendlichen gegenüber der Ausreise. Auf die Frage, inwieweit sie am Entschluß der Familie auszureisen beteiligt waren, antwortete die Mehrzahl der Befragten (70%), daß sie den Entschluß positiv unterstützt haben (37,2% habe mitentschieden, 20,9% habe den Entschluß sehr unterstützt, 11,9% habe allein entschieden). 14,2% haben bei der Beschlußfassung keine wesentliche Rolle gespielt, während 8,3% nicht gefragt wurden und 5,5% explizit nicht ausreisen wollten. Als Hauptmotive für die Ausreise der Familie nannten die Jugendlichen die Hoffnung auf materielle Bes-

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serstellung (40%) und Familienzusammenführung (26,9%). Des weiteren wurde der Wunsch in einem deutschen Umfeld zu leben (19,8%) bzw. in das Abstammungsland der Familie zurückzukehren genannt, sowie die Suche nach einer besseren Nationalitätensituation (19,7%). Die Ergebnisse zeigen, daß die Rede von den "mitgenommenen Jugendlichen" nur bedingt zutrifft. Immerhin etwas mehr als ein Drittel (36,8%) der Befragten sind mit Freude und großen Erwartungen ausgereist. 42,3% haben gemischte Gefühle empfunden. Gefürchtet haben sich 11%. Explizit ablehnend oder gleichgültig haben sich nur 7,5% der Jugendlichen verhalten.

Trotzdem ist für die meisten Jugendlichen die Ausreise de facto ein traumatisches Erlebnis, da sie mit tiefgreifenden Trennungs- und Verlusterfahrungen verbunden ist: Freunde und familiäre Bezugspersonen bleiben zurück, ebenso wie die vertraute Umgebung. Schule, Arbeitsstelle usw. Oftmals finden die Jugendlichen keine Unterstützung bei der Verarbeitung ihrer Trauer und ihres "Heimwehs", da sich die Eltern mit ihren eigenen Problemen auseinandersetzen müssen. [ Fn 11: Vgl. auch Grinberg, L./Grinberg, R.: Psychoanalyse der Migration und des Exils, München/Wien 1990.]
Gerade Verweigerungshaltungen, Aggressionen oder auch Apathie und Initiativlosigkeit der Jugendlichen müssen vor dem Hintergrund des Migrationsschocks gesehen werden, unter dem sie zumindest im ersten Jahr oft stehen. Stoßen die Jugendlichen, wie es heutzutage häufiger der Fall ist, in Deutschland auf Ablehnung, kann die anfangs offene Haltung in Frustration umschlagen. Die Migration hat für die Jugendlichen einen endgültigen Charakter: alle Zelte sind abgebrochen, sie haben einen deutschen Paß. Ihr Status in Deutschland ist zwar, im Gegensatz zum Beispiel zu türkischen Jugendlichen, rechtlich gesichert. Aber für die Jugendlichen heißt es auch, daß sie ihre Heimat, in der sie geboren und aufgewachsen sind. verloren haben, was am Anfang eine große Verunsicherung bedeutet.

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3. Chancen und Grenzen einer Bikulturalität bei Aussiedlerjugendlichen

Von den von uns befragten Jugendlichen meinen nur 13%, daß sie in Deutschland uneingeschränkt willkommen sind. die Hälfte schätzt die

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Haltung der Bevölkerung ihnen gegenüber als teils negativ, teils positiv ein (50,6%) und 26,9% glauben, daß die Einheimischen sie ablehnen. Oftmals isoliert in Wohnheimen oder in Wohngebieten, wo hauptsächlich Aussiedler wohnen, haben die Jugendlichen Kontakt zu Einheimischen fast nur in offiziellen Einrichtungen, d.h. in der Schule oder in Betreuungsinstitutionen. Der Freundeskreis besteht bei über der Hälfte der Befragten überwiegend aus Aussiedlern (54,2%). Eine Hauptbarriere, die den Kontakt zu einheimischen Jugendlichen erschwert, ist die deutsche Sprache: aufgrund der unzulänglichen Sprachforderung und der teilweisen Gettoisierung der Jugendlichen sind die Sprachkompetenzen vieler Jugendlicher beschränkt: Über die Hälfte (52,6%), halten ihre Deutschkenntnisse für mittelmäßig, 14,3% für schlecht und ein Drittel (33,2%) für gut oder sehr gut. Der Wunsch nach Kontakten ist stark: 70,4% der Jugendlichen wünschen sich mehr Kontakte zu einheimischen Jugendlichen. Immerhin 13,4% der Befragten wollen jedoch explizit keinen Kontakt und 16,2% sind indifferent. Aus unserer Erhebung wird deutlich, daß die Jugendlichen, die bereits Kontakte zu Einheimischen haben, sich weitere wünschen, diese also positiv bewerten.

Viele Jugendliche - diejenigen ausgenommen. die aus Gebieten mit ethnischen Konflikten stammen- machen in Deutschland Ausgrenzungserfahrungen, die sie in den Herkunftsländern zumeist nicht erlebt haben. Ihre mitgebrachte russische Sprache und Kultur wird negativ bewertet, sowohl von der deutschen Umwelt als auch von Teilen der Rußlanddeutschen, die noch zur früheren Aussiedlergeneration gehören. Ihr subjektives Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Kultur wird den Jugendlichen nicht geglaubt: "Die wollen doch deutsch sein, dann sollen sie doch deutsch sprechen" - ein Kommentar, mit dem sie häufig konfrontiert sind. Vor allem die Jugendlichen, die in den Ballungsgebieten der Aussiedlerbevölkerung leben, finden sich von Anfang an von außen definiert als Aussiedler, "Russkis" oder "Iwans", verbunden mit entsprechenden Stereotypen. "Nehmt uns als Individuen wahr und nicht immer nur als Aussiedler" [ Fn 12: Vgl. "Nehmt uns als Individuen wahr!" Drei junge Aussiedler berichten über ihre Erfahrungen in Deutschland, in: pogrom. Zeitschritt für bedrohte Völker, 7/8, 1996, S. 14.] - in diesem Wunsch einer jungen Aussiedlerin wird ihr Unbehagen darüber deutlich, in Deutschland "von außen" eine Gruppenidentität zugewiesen zu bekommen.

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Die Herkunft aus einer deutschen Familie spielt für einen Teil der von uns befragten Jugendlichen in Deutschland eine noch wichtigere Rolle für ihr Selbstverständnis als Deutsche als in den Herkunftsländern. Auf die Frage, wer ihrer Beurteilung nach Deutscher sei, entfielen mehr als die Hälfte (57,3%) der Nennungen auf die Antwort, derjenige sei Deutscher, der deutsche Vorfahren habe. Dies kann damit zusammenhängen, daß für viele Jugendlichen ihre deutschen Vorfahren zur einzigen Legitimation werden, warum sie nach Deutschland gekommen sind. Dementsprechend kann dies als Abgrenzung gegen "Deutsche" ohne deutsche Vorfahren, zum Beispiel gegen türkische Jugendliche, greifen. An zweiter Stelle steht jedoch das subjektive Zugehörigkeitsgefühl (21,7%), d.h. deutsch ist, wer sich als Deutscher fühlt. Fast genauso viele Jugendliche haben ein staatsbürgerliches Verständnis von "deutsch sein": 18,5% meinten, Deutscher sei, wer die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. 17,7% der Jugendlichen gaben an, Deutscher sei, wer in Deutschland aufgewachsen ist: Hier kommt zum Teil die eigene Ausgrenzungserfahrung zum Ausdruck, da diese Definition für sie nicht zutrifft. 16,2% nannten die Sprache als Kriterium, d.h. deutsch sei, wer deutsch spricht (16,2%). 7.8% haben zu dieser Frage keine Meinung.

Jugendliche, die in Übergangswohnheimen oder in Wohngebieten leben, in denen überwiegend Rußlanddeutsche wohnen, finden sich häufig in Gruppen und Cliquen zusammen, die fast ausschließlich aus Aussiedlern bestehen. Der Rückzug in die Gleichaltrigengruppe bietet Sicherheit und Zusammenhalt gegen eine als fremd empfundene Umwelt. [ Fn13: Die Bildung von Jugendcliquen und Jugendgangs in Einwanderungsminderheiten wurde von amerikanischen Soziologen in bezug auf die Einwanderungssituation in den USA vielfach analysiert, vgl. z.B. Spergel, I: The Youth Gang Problem. A Community Approach, New York/Oxford 1995. H. Tertilt (Turkish Power Boys. Ethnographie einer Jugendbande, Frankfurt am Main 1996) hat in seiner Studie über eine türkische Jugendbande dargestellt, wie sich Jugendliche der zweiten Arbeitsmigrantengeneration im subkulturellen System der Jugendbande ein eigenes Handlungs - und Wertesystem entwerfen.]
An manchen Orten ist eine eigene Infrastruktur entstanden: Discotheken, Treffpunkte etc. nur für Aussiedler. Hier bildet sich eine rußlanddeutsche Jugendkultur, in der Elemente aus den neuen Jugendkulturen in den Herkunftsländern (Musik, Verhaltensmuster, geschlechtsspezifische Verhaltensweisen) sich mit den Gegebenheiten des neuen Umfelds mischen. Vor allem männ-

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liche Jugendliche suchen sich einen Platz in einer festen Gruppe, die ihre soziale Identität stärken kann, ihnen Status und Unterstützung bietet. Alkohol- und Drogenkonsum sowie gewalttätige Auseinandersetzungen kommen häufiger ins Spiel.

Viele Jugendliche erleben also eine zweifache Destabilisierung: in ihren Herkunftsländern die Auflösung der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen und nach der Ausreise in Deutschland soziale Ausgrenzung aufgrund fehlender Akzeptanz und beschränkter Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen. Dementsprechend stark sind die Schwierigkeiten eines Teils der Jugendlichen, eine stabile Ich-Identität aufzubauen. Eine Voraussetzung dafür ist, daß sie sich auch positiv auf ihre mitgebrachten russischen Sprach- und Kulturkompetenzen beziehen können, die sie nicht einfach ablegen können und auch nicht ablegen wollen. Ein wichtiges Stadium im Integrationsverlauf ist daher die Unterstützung einer Bikulturalität der Jugendlichen, die es ihnen erlaubt, die verschiedenen Anteile ihrer Persönlichkeit zu einer kohärenten Identität zu verbinden. In der Betreuungsarbeit mit Aussiedlerjugendlichen wird die Orientierung der Förderangebote an interkulturellen Konzepten immer stärker gefordert: In der Jugendarbeit "Schonraum" schaffen, russischsprachige Betreuungspersonen einzusetzen, Russisch als Fremdsprache an den Schulen einzuführen, für mehr Akzeptanz der russischen Kultur zu werben sind nur einige Vorschläge. [ Fn 14: Vgl. hierzu auch Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit (Hrsg.): Jugend Beruf Gesellschaft, Beratungs - und Betreuungsarbeit für Junge Aussiedlerinnen, 34. Sozialanalyse, Bonn 1996.]
Dieses Konzept ist eine Gratwanderung: einerseits gilt es, den Jugendlichen einen Schonraum zu bieten, andererseits müssen sie schnell den Einstieg in Schule und Beruf schaffen. Voraussetzung dafür sind deutsches Sprach- und Kulturwissen. Bekommen die jugendlichen Neubürger jedoch keine Chance, ihr mitgebrachtes Vorwissen in Kooperation mit Einheimischen zu bearbeiten und neu zu strukturieren, ist es schwer für sie, eine Identität als bundesdeutsche Staatsbürger zu entwerfen. Vor allem die mangelhafte sprachliche Integration der Jugendlichen steht diesem Prozeß entgegen.

Trotz der Schwierigkeiten, mit denen sich viele Jugendliche in Deutschland konfrontiert sehen, scheint für die große Mehrheit der Jugendlichen eine Rückkehr in die Herkunftsländer keine Option zu sein: Nur 1,2% der

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von uns befragten Jugendlichen sagten, sie würden gerne für immer zurückkehren. Als Besucher (67,6%) oder für einen bestimmten Zeitraum (9,1%) würden jedoch die meisten gerne wieder in ihre alte Heimat reisen, während 13% der befragten Jugendlichen nie mehr in ihre Herkunftsgebiete zurück möchten.

Die Ergebnisse zeigen, daß sich die Jugendlichen mit ihren Herkunftsländern durchaus verbunden fühlen, ihre zukünftige Existenz jedoch in Deutschland aufbauen wollen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1999

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