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Druck-Ausgabe: Seite 11

Wilhelm Heitmeyer:
Islamisch-fundamentalistische Orientierungen bei türkischen Jugendlichen [ Fn 1: Der Text basiert auf der Untersuchung - Verlockender Fundamentalismus'', die im Suhrkamp Verlag erschienen ist.]




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0. Vorbemerkungen

Das Problem islamisch-fundamentalistischer Orientierungen wurde bisher weitgehend in Form von Tabuisierungsversuchen oder Skandalisierungen "behandelt". Beide Varianten gehen zu Lasten der Jugendlichen, weil sie entweder mit Desinteresse durch die Tabuisierung oder mit Generalverdacht durch Verallgemeinerung belegt wurden. Der Grund liegt m.E. darin, daß Vertreter beider Positionen sich bisher nicht dazu durchringen konnten, genauer hinzusehen, d.h. empirisch quantitativ an die Frage heranzugehen. Möglicherweise geschah dies aus Angst vor Überraschungen.

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1. Problemzuschnitt

Wenn man die Entwicklung von sozialen, politischen oder religiösen Orientierungen von Jugendlichen untersuchen will, ist es bekanntlich sinnvoll, dies im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Bedingungen zu tun. D.h., es ist anzunehmen, daß Veränderungen in diesen gesellschaftlichen Bedingungen auch Auswirkungen auf die Orientierungen haben. Daraus können sich neue kollektive Zusammenschlüsse bilden, die wiederum Auswirkungen auf die Bedingungen des Aufwachsens haben.

Diese Bedingungen sind sowohl für Jugendliche deutscher Herkunft als auch für Jugendliche türkischer Herkunft dadurch gekennzeichnet, daß es eine wachsende Spannung gibt zwischen vielfältiger werdenden kulturellen Optionen und sich verschärfender sozial-ökonomischer Ungleichheit. Die Chancen auf eigene Lebensgestaltung nehmen zu, während für immer größere Teilgruppen die Realisierungsmöglichkeiten abnehmen.

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Diese Spannung wird inzwischen in der deutschen Bevölkerung immer deutlicher wahrgenommen. So gehen 48% der Deutschen im erwerbsfähigen Alter etwa davon aus, daß ihre eigenen Kinder einen sozialen Abstieg zu erwarten haben.

Dies bedeutet auch, daß wir mit einer erheblichen Integrations- und Desintegrationsdynamik rechnen müssen, was etwa den Erwerb sozialer und beruflicher Positionen, die Sicherung sozialer Zugehörigkeiten und Anerkennung angeht. Die Lasten werden ausländische Jugendliche zuerst tragen müssen.

Nun ist inzwischen bekannt, daß es zu den fatalen Irrtümern soziologischer Klassiker gehört, die Bedeutung und Brisanz von ethnischen Zugehörigkeiten, kulturellen Selbstverständlichkeiten und religiösen Gewißheiten für die gesellschaftliche Integration bzw. für Konflikte unterschätzt zu haben.

Deshalb kann die Aufmerksamkeit für das Aufwachsen von türkischen Inländern der dritten Generation nicht stehenbleiben bei den vielfältig schon untersuchten Themen, etwa der beruflichen Eingliederung oder der Identitätsentwicklung, sondern muß auch die verschiedenen Varianten und Funktionen des individuellen islamischen Glaubens, die Bedeutung kollektiv kultureller Verankerung und die Folgen politisch ausgerichteter nationalistischer und fundamentalistischer Orientierung für das Aufwachsen in einer säkularisierten Mehrheitsgesellschaft einbeziehen, in die sie zumeist hineingeboren sind und als deren selbstverständliche Mitglieder sie sich überwiegend fühlen.

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2. Thesen

Daraus ergibt sich die erste These, daß infolge gesellschaftlicher Integrationsprobleme u.a. auf dem Arbeitsmarkt ethnisch-kulturelle Identifikationen für die individuelle wie kollektive Identität an Gewicht gewinnen. Dazu gehört auch, daß z.T. die traditionsvermittelte Lebensweise, ihre religiösen Ausdrucksformen, nationale Identifikationsanker und vor allem der Rückzug in die eigenethnische Wir-Gruppe dann jene Sicherheiten bieten sollen, die eigentlich in modernen Gesellschaften durch universal gültige Zugänge zum Arbeitsmarkt, zum Bildungssystem etc. erwartet wurden.

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Daran kann die zweite These anknüpfen. Sie besagt, daß es einen Zusammenhang zwischen Desintegrationserfahrungen bzw. -Ängsten der Akzeptanz islamisch-fundamentalistischer Orientierungen gibt.

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3. Untersuchungskonzeption

Eine angemessene Untersuchungsanlage muß die Stränge von Religion, Ökonomie und Politik verbinden. Nun zeigt sich aber, daß wir derzeit außerordentlich wenig über diesen Zusammenhang wissen, weil es dazu nach meiner Kenntnis keine Forschungen gibt. Das gilt auch für Frankreich oder England mit relativ großen muslimischen Minderheiten. Die Gründe sind vielfältig. Dazu gehört das Desinteresse der Mehrheitsgesellschaft am Schicksal von Minderheitengenerationen, auch Political Correctness trägt dazu bei wie das Problem der empirischen Konzeptualisierung solcher Analysen.

Besondere Fragen stellen sich schon bei der Klärung des Begriffs "Islamischer Fundamentalismus", denn es müssen vielgestaltige Varianten des Islam voneinander geschieden werden, um eine Gleichsetzung von Islam und Fundamentalismus zu vermeiden. In einer empirischen Untersuchung kann man jedoch nicht einfach bei der Deskription ungewichteter Vielgestaltigkeit stehenbleiben. Statt dessen ist eine Operationalisierung notwendig, die sich einerseits als anschlußfähig an die Theorie- und Analysedebatte erweist und andererseits statt fortwährendem Relativismus auch Festlegungen trifft. Vor diesem Hintergrund folgen wir einem Verständnis, das islamischen Fundamentalismus als die Umwandlung der Religion des Islam in eine politische Ideologie interpretiert. Wir verstehen Ideologien als Verzerrung der Realität im Sinne der Monopolisierung von Weltdeutung zum Zwecke der Durchsetzung von politischer Macht, die in Anti-Aufklärung mündet.

Ein generelles Kennzeichen von Fundamentalismus besteht darin, daß er sich gegen eine vermutete "Gefährdung der eigenen kulturellen Identität und religiösen Glaubensgewißheiten" formiert, um mit allen Mitteln die Authentizität zu retten bzw. zu sichern. Inwieweit es gelingt, die Gefährdung zu erzeugen oder an solche anzuknüpfen. hängt von der Bedeutung und Qualität von Gewißheiten ab. Solche Gewißheiten sind charakterisiert

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durch die immerwährende, zeit- und raumunabhängige Gültigkeit, eine unhinterfragbare, nicht reformierbare göttliche Ordnung, die Einzigartigkeit der Religion gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften und die Rolle des eigenen Auserwähltseins.

Vor diesem Hintergrund interessieren uns vier Untersuchungsbereiche:

  • In einer säkularisierten, an der Freiheit des Individuums orientierten Gesellschaftsverfassung kann die Analyse der persönlichen Religiosität innerhalb der Glaubensgemeinschaft nur insofern von Interesse sein, daß danach gefragt wird, inwieweit die gleichberechtigte Ausübung gesichert ist. Die kritische Aufmerksamkeit muß sich also auf die Mehrheitsgesellschaft richten und danach fragen, inwieweit deren eigene Prinzipien tatsächlich gültig sind bzw. Defizite in der Verwirklichung dieser Prinzipien existieren, d.h., daß die Rechte zur Ausübung von Religion gewährleistet sind.
  • Der kritische Fokus verlagert sich auf der Ebene der kollektiv-kulturellen Formierung als religiöse Gemeinschaft bezüglich des Verhältnisses zu anderen Überzeugungen. Dort stellt sich die Frage nach Gleichheit und Gleichwertigkeit neu und ist dann kritisch zu betrachten, wenn u.a. Überlegenheitsansprüche artikuliert werden, weil damit auch wechselseitige Anerkennungs- und Integritätsprobleme (also Abwertungen im Sinne von gläubig/ungläubig) aufgeworfen werden können.
  • Eine weitere Zuspitzung der kritischen Sichtung muß dann die Analyse des militanten islamischen Fundamentalismus erfahren, d.h. die Verbindung von Religion und Politik. Damit sollen Zusammenhänge thematisiert werden, die auf die Durchsetzung religiös gespeister politischer Prinzipien zielen, zu deren Verwirklichung auch Gewaltbereitschaft bzw. Gewalt von Angehörigen der Glaubensgemeinschaft ins Kalkül gezogen werden.
  • Die Nähe zu solchen Orientierungsmustern und eine Hinwendung zu entsprechenden Organisationen und Gruppen können dann als Indizien einer Distanz zu demokratischen Prinzipien und einer Abwendung vom politischen System der Mehrheitsgesellschaft gewertet werden.

Eine Untersuchung mit dem bisher schon dargestellten Zuschnitt ist auf präzise Unterscheidungen angewiesen. Gleichzeitig muß auf den interaktiven Prozeßcharakter (analog zu politischen Abläufen) hingewiesen wer-

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den, in dem Eliten eine zentrale Bedeutung haben. So kann sich in den Gefühlen wie Überlegungen von einzelnen und Gruppen - analog zu anderen Religionsgemeinschaften auch - die individuelle Religiosität sehr schnell mit kulturellen Überlegenheitsansprüchen verbinden und die Gleichheits- und Gleichwertigkeitsgrundsätze unterhöhlen. Mitsamt den dazugehörigen Abwertungen können dann ideologische Voraussetzungen dafür gelegt werden, daß sie als Legitimationen verwendet werden, um gegebenenfalls diese "neue Weltsicht" auch mit Gewalt durchzusetzen.

Die Analyse ist nun so angelegt, daß die Ausmaße von Überlegenheitsansprüchen und religiös fundierter Gewalt auf Zusammenhänge untersucht werden. Herangezogen werden zum einen familiäre Traditionen, kulturelle Konflikte und ethnische Identifikationen, Statusprobleme, Diskriminierungen. Zum anderen sind es Modernisierungsfolgen in Gestalt von Ausgrenzungen, Reaktionen auf fremdenfeindliche Gewalt, die Ablehnung kollektiver Identifikationsangebote sowie geopolitische Ausdehnungsansprüche, die u.a. über türkische Medien "importiert" werden.

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4. Einige Ergebnisse

Die empirische Basis dieser Ergebnisse bildet eine Befragung von 1.221 türkischen Jugendlichen im Alter von 15 bis 21, die gleichermaßen männlichen und weiblichen Geschlechts waren und nach den üblichen sozialstatistischen Kriterien in 63 Schulklassen in Nordrhein-Westfalen, verteilt in Großstädten, Städten und ländlichen Gebieten ausgewählt wurden.

Entsprechend der kategorialen Unterscheidungen lassen sich nun einige Ergebnisse präsentieren:

Wenn man so differenziert vorgeht, ist zunächst die persönliche Religiosität in der muslimischen Gemeinschaft unabhängig von fundamentalistischen Positionen hervorzuheben. Es läßt sich feststellen, daß der Islam bei 68% der hier aufgewachsenen Jugendlichen eine große Bedeutung hat, so daß diese Anerkennung finden muß. Dabei wird klar, daß gemeinschaftliche Funktionen deutlichen Vorrang vor individuellen haben. Selbstvertrauen wird vor allem aus der Zugehörigkeit zur .,Umma", also der Gemeinschaft geschöpft. Damit geht auch eine mehrheitliche Position der Jugendlichen einher, die durch ihren pragmatischen Umgang mit religiö-

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sen Anforderungen keinen Widerspruch zwischen ihrem islamischen Glauben und dem Leben in einer modernen westlichen und dem Anspruch nach demokratischen Gesellschaft sehen. Wesentlicher Bestandteil des Glaubensverständnisses bleibt aber die Suche nach Gewißheiten. Gerade diese wird in einer modernen Gesellschaft immer prekärer. Die Frage ist nun, wie dieser Umstand verarbeitet wird. Arrangiert man sich mit den neuen Ungewißheiten oder sucht man sein Heil in anderen Sichtweisen, die gegen diese Bedrohung durch „westliche Sitten" und dafür verantwortliche politische Mächte gerichtet sind?

Die Suche nach Gewißheiten kann gerade dann ausgebeutet werden, wenn gleichzeitig Szenarien hinzukommen und subjektive Bedeutung erlangen, in denen das Verhältnis zu anderen Religionen durch Unverständnis, Verfolgung und Haß gekennzeichnet scheint und das Verhältnis zu anderen Kulturen und Ausmaße von politischen Mächten im Lichte von Bedrohungen gesehen wird. Die Ergebnisse verweisen auf erhebliche Abgrenzungen und Abwertungen gegenüber Angehörigen anderer Religionen sowie Bedrohungsgefühle. Daran wird deutlich. in welche kulturellen und politischen Kontexte die persönliche Religiosität in der muslimischen Gemeinschaft eingebunden ist.

Betrachtet man das Verhältnis von islamischen Positionen und die Rolle in der Gesellschaft, so betonen zwei Drittel der Jugendlichen, daß der Islam vorwiegend eine private Angelegenheit zwischen Gott und dem einzelnen sei, gleichwohl sind gleich viele der Ansicht. daß der Islam eine wichtige gesellschaftliche Stimme darstelle, die ebenso wie andere eine öffentliche Rolle spielen sollte. Dementsprechend lehnen auch 67,4% die Auffassung ab, daß eine Orientierung am islamischen Glauben zu einer undemokratischen Gesellschaft führe. Ähnlich hoch ist auch die Ablehnung der Position, daß die Religion die Politik bestimmen müsse. Gleichwohl bleiben 38,3%, die die Auffassung vertreten, daß die türkische Politik sich nach islamischem Recht ausrichten müsse, und jeder fünfte Jugendliche (22,3%) plädiert dafür, daß die Religion die Politik (auch im Sinn der Scharia) bestimmen müsse.

Dieser Komplex aus persönlicher Religiosität, Einbindung in die muslimische Gemeinschaft und der Rolle in der Gesellschaft stellt aufgrund der engen Verbindung von Religion und Politik ein schwieriges und aufklärungsbedürftiges Phänomen dar. Zumal dadurch. daß Gewißheiten in der

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Moderne durch Aufklärung, Enttraditionalisierung etc. in Zweifel gezogen werden oder der Zersetzung anheimfallen.

Die hohe Spannung aus Gewißheitssuche und Gewißheitsverlusten als Produkt der Moderne bildet u.E. eine zentrale Grundlage dafür, daß auf dem Hintergrund von politischen Bedrohungsszenarien und spezifischem mißtrauischen Abgrenzungsverhältnis gegenüber anderen Religionen die persönliche Religiosität politisch instrumentalisiert werden kann.

Abseits der persönlichen Religiosität interessieren nun vor allem drei Problemkreise, die wir zu den Voraussetzungen und "Eingangsbedingungen" dafür zählen, daß Jugendliche islamisch-fundamentalistische Sichtweisen akzeptieren oder übernehmen.

  • a) Als erstes muß ein Blick auf ein "Bindeglied" zum islamisch-fundamentalistischen Kern geworfen werden, das wir mit islamischem Überlegenheitsanspruch beschrieben haben. Er zeigt sich in einer monopolisierenden Weltdeutung und in der scharfen Abgrenzung zwischen Gläubigen und abgewerteten Ungläubigen. insgesamt stimmen 54% der befragten Jugendlichen solchen Positionen zu. Nun operieren mehrere Religionen mit solchen Überlegenheitspostulaten; die besondere Problematik liegt hier allerdings in der engen Verbindung von Religion und Politik.

    Betrachtet man Einzelergebnisse, so gibt es kaum Unterschiede bei den Zustimmungen zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen. Ganz anders das Ergebnis, wenn wir uns jene Jugendlichen ansehen, die niedrige oder größere Bildungs- und Berufsaspirationen und Chancen aufweisen. Je niedriger die Chancen, desto größer ist die Zustimmung.

  • b) Daraus resultiert zweitens die eigentliche Problemstellung, nämlich die Durchsetzung religiöser Prinzipien und die Ausdehnung des Machtbereiches. Wir nennen das religiös fundierte Gewaltbereitschaft. Diesen Postulaten stimmen 27% der Jugendlichen zu.

    Mit diesem Muster nähern wir uns dem Kern islamisch-fundamentalistischer Orientierungen, d.h. der politischen Instrumentalisierung des Religiösen, die auch Gewalt nicht ausschließt.

    Die untersuchte Gruppe differenziert sich nun anders aus. Die Zustimmung der männlichen Jugendlichen ist deutlich höher als die der weib-

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    lichen. den Jugendlichen mit höheren oder niedrigen Chancen der Integration über Schulbildung etc. wiederholt sich allerdings das Muster: Die Zustimmung ist um so höher, desto geringer die Chancen wahrgenommen werden.

    Die ermittelte Gewaltbereitschaft ist nicht Gewalttätigkeit, sondern eine Disposition, die dann eine erhöhte Möglichkeit der Umsetzung erfährt, wenn zusätzliche Bedingungen hinzukommen: Damit es zur Gewalttätigkeit wird, ist ein Interaktionskontext nötig; und es müssen Legitimationen bereitgestellt werden.

  • c) Zu den wichtigsten Elementen der Umwandlung von Gewaltbereitschaft - etwa von Jugendlichen - gehören daher die Nähe oder Einbindung in politische Organisationen und der damit gegebene Einfluß jeweiliger Meinungsführer, die Legitimationen für Handeln bieten. Wir haben nach der Interessenvertretung durch vier deutsche und sechs türkische Organisationen gefragt, deren Spektrum von streng säkularen bis nationalistischen oder islamisch-fundamentalistischen Positionen reichen.

    Mehr als ein Drittel fühlt sich in seinen Interessen sowohl durch 'Milli Görüs' als auch durch die 'Grauen Wölfe' gut oder sehr gut vertreten.

    Auch hier wieder dasselbe Bild. Je schlechter die Jugendlichen ihre Chancen sehen, desto größer ist die Nähe zu diesen Organisationen. Besondere Zustimmung findet bei 57% die 'islamisch-nationalistische' Synthese. „Das Türkentum ist unser Körper, unsere Seele ist der Islam. Ein seelenloser Körper ist ein Leichnam."



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5. Ursachenkomplexe

Warum lassen sich solche Orientierungen unter den türkischen Jugendlichen feststellen, die doch in dieser Gesellschaft aufgewachsen sind? Im Kern einer ersten Antwort, so unsere These, steht die Desintegration: Hinter einem als Selbstschutz konstruierten überwiegend positiven Selbstbild spielen massive Ängste vor Ausgrenzungen, vor unsicheren Lebensläufen sowie verletzte Identität durch emotionale und soziale Ablehnung eine Rolle.

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Tagtäglich bewegen sich die Jugendlichen neu in der Spannung, sich in "ihrer", aber dennoch fremden Mehrheitsgesellschaft einzugliedern und die ganz anderen Anforderungen der eigenen ethnischen Gruppe zu erfüllen. Je stärker die eigene Diskriminierung erfahren wird und je eindringlicher die traditionalen Erziehungs- und Wertvorstellungen in den türkischen Familien an nachfolgende Generationen weitergegeben werden, um so größer sind tendenziell der Anspruch islamischer Überlegenheit und die religiös begründete Gewaltbereitschaft. Dieses Problem ist aktueller denn je, weil sich immer mehr türkische Jugendliche aus der deutschen Gesellschaft zurückzuziehen scheinen. Dies gilt besonders für jene, die große Probleme mit der Realisierung von schulischen und öffentlichen Ansprüchen haben. Je mehr sie nun ihre Zeit in der eigenethnischen Gruppe verbringen, desto höher ist die Zustimmung zu islamisch-fundamentalistischen Orientierungen. Damit haben junge Türken nicht zuletzt auch auf fremdenfeindliche Gewalt reagiert.

Abgelehnt von der fremden deutschen Umgebung. wurzellos in der ähnlich fremden türkischen Gesellschaft klammert sich ein erheblicher Teil der Jugendlichen an die "Umma", die religiöse Gemeinschaft der Muslime, in der sie sich verstanden fühlen. Auch von daher ist zu erklären, daß mehr als die Hälfte der Jugendlichen ihre eigenen Kinder auf Koranschulen schicken würden und für mehr Koranschulen plädieren.

Dabei fällt auf, daß junge Männer sehr viel stärker an eine Überlegenheit des Islam glauben. Gerade für jene Jugendliche, denen immer noch Maßstäbe einer traditional patriarchalischen Gesellschaft in der Familie vermittelt werden, muß die von der deutschen Umgebung erzeugte Unterlegenheit mit eigenen Überlegenheitsphantasien „bekämpft" werden. In dieses Bild passen auch die unter türkischen Jugendlichen weit verbreiteten Law-and-Order-Positionen. So plädieren etwa 65% der Befragten für eine starke politische Hand, und für 54% ist hohe Kriminalität gleichbedeutend mit einer verweichlichten Demokratie.

Wesentliche Ursachen für die Hinwendung zu einer religiös fundierten Gewaltbereitschaft sind nach unserer Analyse demnach die Reaktionen auf fremdenfeindliche Gewalt und die Verweigerung der Anerkennung einer kollektiven Identität durch die Mehrheitsgesellschaft. aber auch konkrete Diskriminierungserfahrungen im privaten Bereich sowie die negativen Folgen der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse. Gleichzeitig

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sind die Rückzugstendenzen in die eigenethnische Wir-Gruppe, die Betonung einer auf Abgrenzung ausgerichteten national und religiös begründeten Identität sowie die Ablehnung >>moderner<< Erziehungswerte und ein innerfamiliales Konfliktpotential zentral für diese Orientierungsmuster. Insgesamt stellt sich ein emotional hoch aufgeladenes Ursachenbündel aus individualbiographischen, sozialen und politischen Aspekten heraus, das der religiös fundierten Gewaltbereitschaft zugrunde liegt.

Betrachtet man die Ergebnisse im Verhältnis zur Moderne, dann bieten sich drei Zugänge an:

Eine erste Sichtweise interpretiert die Ausmaße von islamischen Überlegenheitsansprüchen und religiös fundierter Gewaltbereitschaft als Ausdruck bloßer Rückwendungen in eine verklärte Vormoderne. Indiz dafür wäre dann der hohe Bedeutungsgrad von Traditionen, also von nicht hinterfragbaren Selbstverständlichkeiten, um Sicherheit zu gewinnen.

Die zweite Blickrichtung betont die "Modernisierungslücken". Danach wären Zunahme oder Abnahme der problematischen Orientierungen und Organisationsnähe von der vollständigen Durchsetzung der Modernisierung abhängig. Der gleiche Zugang zu den Funktionssystemen würde vorrangig zum entscheidenden Entwicklungsfaktor.

In einer dritten Perspektive werden die Ergebnisse als stützende Indizien für die These gesehen, daß die dominierenden gesellschaftlichen Entwicklungen vielfältige Identitäts- und Gemeinschaftsfragen auf dem Hintergrund zunehmender Komplexität wie Desintegrationsbedrohungen neu und verstärkt aufwerfen.

Dadurch wächst die Attraktivität jener Postulate, die über Entdifferenzierungen klare Orientierungen versprechen und die mittels religiöser Gewißheiten wie nationaler Aufheizungen eine ethnisch-kulturell ausgerichtete Integration in der eigenen, aber auch fremden deutschen Gesellschaft zu sichern scheinen. Zugleich geraten aber auch Gewißheiten ins Wanken; Religion wird verfügbar, der Heiligkeit entkleidet und funktional einsetzbar.

Die hier verzeichneten Entwicklungen werden damit als Produkt der Moderne verstanden. Das bedeutet auch, daß sich in der jüngeren Generation die Hinwendungen und Zuspitzungen nicht mehr nur durch die unreflektierte Übernahme unhinterfragbarer Selbstverständlichkeiten zu entwik-

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keln scheinen, sondern daß sie bewußt erfolgen. Gerade die bewußte Entscheidung, die sich u.a. auch gegen die "Verwestlichung" der Eltern richten kann, scheint uns ein besonders wichtiges Indiz.

Die drei Interpretationszugänge schließen sich nicht wechselseitig aus. Sie können auch nebeneinander bestehen und sich auf verschiedene Gruppen beziehen. Auch wenn wir den dritten Ansatz als besonders zukunftsträchtig ansehen, besteht ausgiebiger Analysebedarf.

Größere Klarheit ergibt sich in weiteren Problematiken. So wird bezüglich eines Großteiles der Jugendlichen mit den problematischen Orientierungen die Annahme nicht geteilt, daß es sich um jugendtypisch zugespitzte kulturelle Episoden handelt, die sich durch gelassenes Warten verflüchtigen wie bei jugendkulturellen Moden westlichen Stils. Dagegen spricht die Verankerung des Islams als »kulturelles Kapital« ebenso wie die Hinwendung zu Institutionen, die die Jugendlichen durch ihre vielfältigen Angebote binden, organisieren und mobilisieren, mithin den politischen Charakter manifestieren können. Dies hängt mit der gesellschaftlichen Entwicklung zusammen: je größer die freiwillige oder erzwungene Desintegration von türkischen Jugendlichen, desto intensiver ist die Nähe zu kollektiv–religiösen Überlegenheitsansprüchen und religiös fundierter Gewaltbereitschaft. Daher wird hier die These vertreten, daß es sich um ein dauerhaftes Problem handelt, dessen Brisanz sich aus unterschiedlichen individuellen und sozialen sowie gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen ergibt und dessen Schärfe in den nächsten Jahren noch deutlicher hervortreten wird.

Bisher ist noch unklar, welche "formierenden" Entwicklungen sich ergeben. Zumal vielfach zurecht darauf verwiesen worden ist, daß es auch "Integration durch Segregation" gebe, indem kulturell-religiöses "Eigenleben" jene Sicherheit und Geborgenheit vermittle, die dazu befähige, gesellschaftliche Anforderungen zu bewältigen und Diskriminierungen aushalten zu können. Dieses "Modell" ist aber nur so lange tragfähig, wie die Zugänge zum Arbeitsmarkt etc. weitgehend gesichert sind, die Hoffnungen auf politische Partizipation noch realistisch scheinen, die Angebote für Freizeitgestaltung oder die soziale Versorgung durch Kommunen nicht noch weiter abgebaut werden. Diese zentralen Bedingungen sind indes immer weniger gegeben. Die Chancen nur Jugendliche der dritten Generation werden u.E. nur theoretisch größer - faktisch reduzieren sich

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eher die Realisierungsmöglichkeiten ihrer Lebensplanungen und einer angemessenen Existenzsicherung.

Dagegen gibt es unübersehbare dafür, daß eher partikulare Wertvorstellungen und Rückzüge in eigenethnische Gruppen und (Sport-) Vereine zunehmen - mitsamt einer eigenethnischen Identitätspolitik. Es handelt sich dabei um eine Verstärkung solcher Bearbeitungsweisen, über die man selbst verfügen kann. Daß dieser Prozeß eher schleichend verläuft, wird ebenso häufig übersehen wie die Entwicklungen zu Protest und Widerstand in vielfältigen z.T. offenen, z.T. verdeckten Formen.

Zuspitzungen ethnisch-kultureller Gewalt lassen sich in einer Gesellschaft vermeiden, solange es gelingt, die Auseinandersetzungen im Zustand von "cross-cutting-conflicts" zu halten. Dieser ist dann gegeben, wenn die beteiligten Personen oder Gruppen in mehrere Statuslinien eingebunden sind und sich ihre Interessenpositionen vielfältig überlappen.

Verringert sich dieser Zustand, eskaliert nicht nur die Gefahr durch Teile der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch durch Teile der Minderheiten, wenn z.B. eine Reduzierung auf eine muslimische Identität erfolgt, die keine Verletzungen (mehr) erträgt.

Trotz aller Anstrengungen zur Analyse sozialer und politischer Ursachen kommt man wohl nicht daran vorbei: Die Suche nach Gewißheiten bleibt. Sie wird u.U. stärker, je bewußter es Menschen wird, daß Gewißheiten verlorengehen. Dies ist ein typisches Produkt der Moderne. Deshalb muß betont werden, daß Hinwendung zu islamisch-fundamentalistischen Sichtweisen nicht bloß Restbestände einer Rückwendung zu einer verklärten traditionsfixierten Vormoderne sind, sondern auch auf bewußten Entscheidungen beruhen. Daher sind solche Hinwendungen nicht bloß Ergebnisse von Verführungen, sondern eine Verbindung von bewußten Entscheidungen und verlockenden Angeboten kultureller Sicherheit in der Gemeinschaft. Zumal in jenen, die Stärke versprechen. Wenn diese Annahmen stimmen, dann steigt die Gefahr der politischen Instrumentalisierung der Religion in einer zunehmend desintegrierenden Gesellschaft.

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Tabelle: Aspekte von Gewißheiten (Angaben in Prozent)

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Tabelle: Verhältnis zu anderen Religionen

Tabelle: Bedrohungen


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Tabelle: Islamzentrierte Überlegenheitsansprüche

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Tabelle: Religiös fundierte Gewaltbereitschaft


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