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TEILDOKUMENT:
Henry Cordes [Fn 1: Die Ausführungen geben ausschließlich die persönliche Meinung des Verfassers wieder.]:Ansatzpunkte für die Beschäftigung Geringqualifizierter aus wirtschaftspolitischer Sicht
[Seitenzählung analog zur Druck-Ausgabe: Seite 95]
Auf sozialdemokratischer Seite sind in der Diskussion um die Beschäftigungschancen Geringqualifizierter Akzentverschiebungen bemerkenswert, die sich - ohne Rekurs auf neoliberale Argumentationsmuster- auf den Preis des Faktors Arbeit beziehen. Die Internationalen Wirtschaftskonferenzen der SPD im August 1996 und im Juli 1997, die sich eingehend auch mit den arbeitsmarktpolitischen Potentialen einer negativen Einkommensteuer auseinandersetzten, stehen ebenso wie die Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung für eine Akzentverlagerung von sozialpolitischen Argumentationsmustern hin zu stärker wirtschaftspolitischen Argumentationslinien, von einer auf mehr oder weniger temporäre Ersatzarbeitsmärkte zielenden Politik hin zu einer stärkeren Ausrichtung auf die Reintegration in den "ersten" Arbeitsmarkt. Es wäre zweifellos nicht angebracht, von einem Paradigmawechsel zu sprechen oder ihn zu fordern, denn Arbeitsmarktpolitik wird auch künftig in erster Linie an anderen Parametern als dem Preis der Arbeitskraft ansetzen müssen, namentlich an der Qualifikation. Unübersehbar ist allerdings, daß weitgehend am industriellen Produktivitätswachstum orientierte Lohnpolitik und - stärker noch - die seit Jahren kontinuierlich steigende Belastung des Faktors Arbeit mit Lohnnebenkosten in hohem Maße zur Weg-Rationalisierung niedrig produktiver Arbeitsplätze beigetragen und die Beschäftigungsmisere Geringqualifizierter nachhaltig verschärft haben. Vor dem Hintergrund der absehbaren Entwicklungen auf dem Markt niedrig produktiver und damit in der Regel auch gering entlohnter Arbeit werden deshalb ergänzende Maßnahmen auch jenseits der Qualifizierungsstrategie notwendig. Folgen wir den Prognosen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit und der PROGNOS AG, so stehen wir in den kommenden 15 Jahren vor tiefgreifenden Strukturverschiebungen in der Arbeitskräftenachfrage (Die Angaben beziehen sich auf das alte Bundesgebiet.):
[Seitenzählung analog zur Druck-Ausgabe: Seite 96]
Tabelle:
Das heißt, daß sich bei Fortschreibung der bekannten Trends die Nachfrage nach nicht formal qualifizierter Arbeitskraft in den nächsten 10 Jahren gegenüber den frühen neunziger Jahren halbieren wird. Während
droht die Zahl der Arbeitsplätze für nicht formal Qualifizierte um 42-52% zurückzugehen. Was das angesichts eines Arbeitslosenbestandes, in dem Ungelernte schon heute fast 50% stellen, bedeutet, ist klar - die weitere Strukturalisierung, die Verhärtung der Arbeitslosigkeit in Gestalt steigender, persistenter Langzeitarbeitslosigkeit. Doch diese Entwicklungen sind nicht zwangsläufig, sondern unterliegen - zumindest teilweise - politischer Gestaltung. Die Beiträge auf der Veranstaltung haben Fingerzeige für die Strategieentwicklung für eine gesellschaftlich akzeptable Förderung von geringqualifizierten Arbeitskräften und niedrig produktiven Arbeitsplätzen gegeben. Ausgangspunkt hierbei muß allerdings eine Analyse des Arbeitsmarktes und der Arbeitslosigkeit in längerer Perspektive sein.
[Seitenzählung analog zur Druck-Ausgabe: Seite 97]
Die hohe Arbeitslosigkeit ist in (West-)Deutschland im wesentlichen auf zwei Faktoren zurückzuführen:
Der deutsche Arbeitsmarkt leidet also, ganz im Gegensatz zum amerikanischen Arbeitsmarkt, unter einer Integrationsschwäche: Die hohe Arbeitslosigkeit ist primär Produkt demographischer Faktoren und einer zu geringen Beschäftigungsintensität des wirtschaftlichen Wachstums. Rechnerisch ist es erst ab einem realen Wachstum von ca. 2,5% zu Mehreinstellungen gekommen; erst ab 3% realem Wachstum konnte eine Reduzierung der offenen Arbeitslosigkeit verzeichnet werden. Diese zu schwache Wachstums- und Beschäftigungsdynamik hat viele Gründe; ich nenne nur stichwortartig
[Seitenzählung analog zur Druck-Ausgabe: Seite 98
In der beschäftigungspolitischen Konsequenz heißt das - und die Beiträge von Anders Bäckström und Wiemer Salverda in der Broschüre bestätigen es -, daß eine qualifizierte makroökonomische Wachstumspolitik das A und O aller beschäftigungspolitischen Überlegungen darstellen muß. Auch für die Frage der Subventionierung gering qualifizierter Arbeitskräfte gilt, so habe ich den Beitrag von Wiemer Salverda verstanden, daß sie ohne Nachfragestimuli weitgehend wirkungslos bleiben bzw. in Mitnahme- und "Drehtüreffekten" ("one in, one out") zu verpuffen drohen. Ich ziehe daraus folgende Konsequenzen:
Die Verbesserung der allgemeinen und insbesondere der beruflichen Bildung wird künftig einen noch höheren Stellenwert für die Reintegration gering Qualifizierter einnehmen müssen. Denn auch die Beiträge der Tagung haben mit aller Deutlichkeit jene oftmals noch Unzutreffende Vorstellung ausgeräumt, daß die Massenarbeitslosigkeit gleichsam "automatisch" in der expandierenden Dienstleistungsökonomie verschwinden könne. Insbesondere die wachstumsträchtigen personenbezogenen Dienstleistungen in der Pflege, im Gesundheitswesen, in der Betreuung fordern aber über qualifiziertes Fachwissen hinaus hohe soziale Kompetenzen - Kommunikationsfähigkeit, Kooperationsgeist statt Individualismus, Flexibilität, Einfühlungsvermögen etc. -, die nicht auf Anhieb erlernbar sind. Gleichwohl führt an einer weiteren und rascheren Öffnung des Dienstleistungsbereichs für gering Qualifizierte kein Weg vorbei, auch wenn dies mit einer weiteren Spreizung der Bruttolöhne verbunden sein wird. Denn die bisherige "Lösung", gering qualifizierte Menschen immer weniger Perspektiven für einen Ausstieg aus der Arbeitslosigkeit aufzuzeigen und sie faktisch in "schwarze" Märkte abzudrängen, kombiniert nur die negativen
[Seitenzählung analog zur Druck-Ausgabe: Seite 101]
Seiten des amerikanischen und des deutschen Arbeitsmarktes: Einkommensunsicherheit und Integrationsschwierigkeiten. Die Senkung der Bruttolöhne für Geringqualifizierte z.B. durch Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge durch die öffentliche Hand bis zu einem bestimmten Stundenlohn - wie im SPD-Konzept von Ottmar Schreiner vorgeschlagen - wäre ein Element einer Strategie, um den Rationalisierungsdruck auf gering produktive Arbeitskraft abzufedern und den weiteren Abbau industrieller Arbeitsplätze zumindest zu verlangsamen. Entscheidend ist, daß die Entkopplung von Brutto- und Nettolöhnen durch ergänzende Transfers im unteren Lohnbereich gestützt werden muß, damit auch geringer bezahlte Arbeiten für Arbeitgeber und Arbeitnehmer wieder attraktiv werden. Hierzu gehören dann sowohl erweiterte Möglichkeiten, Sozialtransfers ohne Anrechnung von Erwerbseinkommen beziehen zu können als auch schärfere Kontrollen und Sanktionen hinsichtlich der realen Arbeitsbereitschaft. Anders wohl als der "große Wurf" einer negativen Einkommensteuer wäre das SPD-Konzept der Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge kurzfristig aber auch im Rahmen des föderativen Systems durchsetzbar; es verdient daher Unterstützung. Langfristig aber wird all dies nur "greifen", wenn es gelingt, die gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungsmöglichkeiten in Struktur und Dynamik wieder nachhaltig zu verbessern.
[Seitenzählung analog zur Druck-Ausgabe: Seite 102 = Leerseite
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