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TEILDOKUMENT:
Ottmar Schreiner
Arbeitsmarktpolitisches Konzept für gering qualifizierte Arbeit
[Seitenzählung analog zur Druck-Ausgabe: Seite 13 ]
1. Ausgangslage, Problembeschreibung
Die Arbeitsmarktkrise liegt hauptsächlich in einem globalen Arbeitsplatzdefizit begründet. Das Wirtschaftswachstum konnte mit dem steigenden Arbeitskräfteangebot nicht mithalten, Arbeitszeitverkürzungen haben das Problem nur gemildert, ebenso wie der Einsatz der aktiven Arbeitsmarktpolitik vor allem in Ostdeutschland.
Angesichts des strukturellen Wandels und des hohen Rationalisierungstempos sind zusätzliche Industriearbeitsplätze allenfalls punktuell zu erreichen. Dagegen liegt im Dienstleistungssektor ein erhebliches Beschäftigungspotential. Allerdings ist der Dienstleistungssektor nicht homogen, Beschäftigungschancen in West- und Ostdeutschland bestehen vor allem bei solchen Dienstleistungen, die nicht dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind und für die zusätzlicher Bedarf besteht. Auslöser hierfür könnte der gesellschaftliche Wandel sein hin zu kleineren Haushalten, steigender Frauenerwerbstätigkeit, einer älter werdenden Bevölkerung, mehr Lebensqualität und höherer Mobilität.
Andere Länder hatten schon 1990 wesentlich mehr Beschäftigte in personen- und haushaltsbezogenen Dienstleistungen. In Westdeutschland waren nur 27% des Erwerbspersonenpotentials in solchen Dienstleistungen beschäftigt, in den USA dagegen 39%, in Japan immerhin noch 32% und in Schweden sogar knapp 43% (Analyse von F. Scharpf; Erwerbspersonenpotential als maximal erreichbare Bezugsgröße). Selbst der Wert von Japan würde übertragen auf Westdeutschland bereits 2,2 Mio. zusätzliche Dienstleistungsarbeitsplätze ausmachen. (Unterschiedliche Berechnungen zur stillen Reserve und unterschiedliche statistische Abgrenzungen überzeichnen die Problematik etwas.)
Ein charakteristisches Merkmal besteht in den geringen Rationalisierungsmöglichkeiten für bestimmte Dienstleistungsberufe, z.B. bei der Pflege, der Krankengymnastik und der Kinderbetreuung, aber auch bei einigen Hand
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werksdienstleistungen. Wenn die Einkommen in diesen Bereichen entsprechend dem gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt steigen, verteuern sich die Dienstleistungen kontinuierlich. Die Finanzierung, egal ob über den Preis am Markt oder durch die öffentliche Hand, wird also zum Problem, das der an sich notwendigen Ausweitung entgegensteht. Theoretisch ist genug Bedarf vorhanden, allein es fehlen die Kaufkraft bzw. die öffentlichen Finanzmittel. Man könnte also von einer Rationalisierungsfalle sprechen. Gerade weil bestimmte Tätigkeiten sich der Rationalisierung weitgehend entziehen, Apparatemedizin beispielsweise ist eher ein negatives Schlagwort, sind sie zugleich von Rationalisierung im Sinne von Nichtfinanzierung bzw. fehlender Kaufkraft bedroht.
In bestimmten gesellschaftlich anerkannten Bereichen sorgt zwar der Staat für die notwendigen Arbeitsplätze, dennoch ist dies keine Dauerlösung. Es kann leicht zu ineffizienten Strukturen kommen. Wie das Beispiel Schweden zeigt, kann eine Ausweitung des öffentlichen Dienstes außerdem an finanzpolitischen Schranken scheitern. Modelle über einen dritten Sektor, die an Erfahrungen aus dem Genossenschaftswesen und der Gemeinwirtschaft anknüpfen, stehen noch in den Anfängen.
Es geht hier nicht um ein generelles Konzept für mehr Dienstleistungsarbeitsplätze, auch nicht um hochqualifizierte soziale Dienste, sondern speziell um den Teilbereich der gering qualifizierten Arbeiten, die zwar überwiegend, aber nicht ausschließlich bei personen- und haushaltsbezogenen Dienstleistungen anfallen. Ausgangspunkt sind grundlegende gesellschaftliche Probleme, nämlich die soziale Deklassierung derjenigen, die im Leistungswettbewerb am Arbeitsmarkt nicht richtig mithalten können. Die Arbeitslosigkeit der Ungelernten war 1994 mit einer Quote von 19,3% (in Westdeutschland) dreimal so hoch wie die der beruflich Qualifizierten.
Außerdem nehmen die Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitskräfte im Zuge des Strukturwandels ständig zu. Obwohl der Anteil einfacher Tätigkeiten schon in der Vergangenheit zurückgegangen ist, ist die Entwicklung zur Höherqualifizierung noch längst nicht zu Ende. Langfristige Arbeitsmarktstudien (z.B. von Prognos) gehen davon aus, daß bis zum Jahr 2000 weitere zwei Millionen (oder 41%) Arbeitsplätze für Arbeitskräfte ohne Ausbildungsabschluß verlorengehen werden, hauptsächlich in der Industrie und den produktionsbezogenen Dienstleistungen (einschließlich Landwirtschaft).
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Die wichtigste Antwort auf die strukturellen Veränderungen des Arbeitsmarktes bildet eine umfassende Qualifizierungspolitik. Diese darf sich nicht nur auf die Erstausbildung beschränken, sie muß Weiterbildung und gegebenenfalls Umschulung während des Arbeitslebens und bei Arbeitslosigkeit einschließen. Hinzukommen könnten noch gezielte Unterbrechungen des Erwerbslebens zum Zwecke der Nach- bzw. Anpassungsqualifizierung. Neben fachlichen Qualifikationen geht es übrigens immer mehr um die Vermittlung von sog. Schlüsselqualifikationen, die fachliche Flexibilität, angepaßte Arbeitstechniken und soziale Qualifikationen umfassen.
Eine noch so gute Qualifizierungspolitik reicht alleine jedoch nicht aus. Wir brauchen neben hochwertigen auch zusätzliche Arbeitsplätze mit geringen Qualifikationsanforderungen. Bei der Analyse dieser Einfacharbeitsplätze spielen die Arbeitskosten eine besondere Rolle. Unabhängig von der Diskussion, ob Arbeit in Deutschland zu teuer ist und in welchem Ausmaß ein weiterer Ersatz von Arbeit durch Kapital bevorsteht, stehen Arbeitsplätze mit geringer Qualifikation unter besonderem Kostendruck. Hier ist einmal die Konkurrenz durch Schwarzarbeit, ausländische Saison- und Werkvertragsarbeitnehmer (Entsendeproblematik) oder Zuwanderer besonders groß. Wichtiger noch ist die Rationalisierungsmöglichkeit der Arbeitgeber. Sie können die im Verhältnis zur Leistung zu teuren Arbeitsplätze mit geringer Qualifikation durch weniger, aber qualifizierte Arbeitsplätze austauschen. Die oben genannte Produktivitätsfalle wirkt sich hier besonders deutlich aus. Bekannte Beispiele sind eine weitgehend automatisierte Lagerhaltung und die Überwachung per Videokamera.
Innerhalb des Produktionsfaktors Arbeit bereiten Substitutionen in der Regel weder große Schwierigkeiten noch sind sie mit einem großen Risiko verbunden. Deshalb müssen unter Marktbedingungen die Lohndifferenzen der Arbeitskräfte in etwa den Produktivitätsdifferenzen entsprechen. Dieses Ergebnis kollidiert jedoch mit dem grundsätzlichen Ziel der Lohnpolitik, wonach die unteren Tariflöhne zumindest für Vollzeitstellen ein Einkommen oberhalb der Sozialhilfe gewährleisten müssen. Löhne unterhalb des Existenzminimums sind ethisch nicht zu rechtfertigen, abgesehen davon, daß für sie unter den gegenwärtigen Bedingungen auch kein Anreiz besteht. Um diese Barrieren zu überwinden, müßte man also zunächst eine wesentlich rigidere Arbeitsverpflichtung für Sozialhilfe- und gegebenenfalls Arbeitslosenhilfeempfänger einführen. Dies ist aus SPD-Sicht grundsätzlich
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kein geeigneter Lösungsvorschlag. Er wäre auch arbeitsmarktpolitisch suboptimal, weil die Arbeitsleistung unter solchen Bedingungen absackt, der Betriebsfrieden in Gefahr gerät und die Tarifautonomie ausgehebelt werden kann. Dazu kommt dann ein Druck auf die Lohnersatzleistungen und die Sozialhilfe selber.
In Abweichung von den bisher angewandten Formen der Lohnkostenzuschüsse geht es bei einem Konzept für gering qualifizierte Arbeiten primär nicht um den vorübergehenden Ausgleich von Leistungsminderungen, sondern um eine dauerhafte Verbilligung der Arbeitskosten, um das Angebot der Arbeitgeber an solchen Arbeitsplätzen zu erhöhen. Folge wäre neben dem Abbau der Arbeitslosigkeit eine entsprechende Kostenentlastung in den öffentlichen Haushalten. Das generelle Prinzip, die Gelder zur Finanzierung von Arbeit statt zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit einzusetzen, kommt auch hier zum Tragen. Dieses Konzept zielt also nicht auf den gesamten Arbeitsmarkt, sondern auf den Teilbereich der einfachen Dienstleistungstätigkeiten (ein Teil ist formal dem produzierenden Gewerbe zugeordnet). Ein solches Konzept soll Teil einer Gesamtstrategie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sein.
Für die Förderung der Beschäftigung von gering qualifizierten Arbeitskräften stehen prinzipiell drei Wege offen, für die es wiederum jeweils mehrere Instrumente gibt:
- Der Staat kann die Arbeit verbilligen durch Arbeitgebersubvention.
- Der Staat kann die Löhne durch Einkommensbeihilfen aufstocken, so daß niedrige Löhne akzeptabel werden.
- Der Staat kann die Nachfrage stimulieren durch "Käufersubvention".
Alle drei Wege gehen von einer üblichen Marktreaktion von Anbietern und Nachfragern aus. Soweit der Arbeitgeber entweder niedrigere Lohnkosten zahlen muß oder durch staatliche Zuschüsse billiger anbieten kann, steigt der Absatz und damit die Beschäftigung. Das Ausmaß des Beschäftigungsanstieges hängt von der Nachfrageelastizität ab, d.h. wie stark die Nachfrage auf Preisänderungen reagiert. Nach bisherigen Erfahrungen auch aus anderen Ländern ist hier mit einer überdurchschnittlich hohen Nachfrageelastizität zu rechnen. Das gilt sowohl für den Endverbraucher, der personenbezogene Dienste wie zum Beispiel Haushaltshilfen, bestimmte Hand
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werksdienstleistungen nachfragt als möglicherweise auch für Einfacharbeitsplätze in den Unternehmen selber wie Pförtner, Lagerarbeiter, Erntehelfer und ähnliches. Die gleiche Reaktion am Arbeitsmarkt läßt sich auch durch den dritten Weg erzielen, in dem die Nachfrage durch eine Preissenkung stimuliert wird. Natürlich kommt es stets darauf an, daß die Preissenkung tatsächlich weitergegeben wird und nicht zu Sondergewinnen der Anbieter oder Abnehmer führt.
Entscheidend für die SPD-Beschäftigungspolitik ist eine Beibehaltung der Strategie, die primär auf hoch produktive und qualifizierte Arbeit setzt. Soweit dennoch ein Beschäftigungsdefizit für gering Qualifizierte bleibt, muß die SPD darüber hinaus nach Lösungen suchen, die gering bezahlte Arbeiten durch staatliche Förderung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer attraktiv machen. Ziel ist eine soziale Ausgestaltung einfacher Arbeiten, die das Entstehen einer Schicht von "working poor" verhindert, das Tarifsystem nicht beschädigt und einem generellen Lohndumping entgegenwirkt. Dies wäre vor allem durch drei zentrale Elemente zu erreichen:
2. Förderung der Beschäftigung in Privathaushalten durch Dienstleistungsgutscheine und Dienstleistungsagenturen
Hierfür hat die SPD-Bundestagsfraktion in Konkretisierung des Parteitagsbeschlusses von Mannheim 1995 einen Antrag eingebracht. Ziel des Antrages ist es, sozial abgesicherte Arbeitsplätze zu schaffen, ohne das Gebot der Verteilungsgerechtigkeit zu verletzen. Es bedarf daher klarer, sozial gerechtfertigter Förderkriterien.
Nur wenige private Haushalte können sich eine festangestellte Haushaltshilfe leisten. Es besteht aber ein großer Bedarf, regelmäßig oder kurzfristig einzelne Serviceleistungen in Anspruch zu nehmen, etwa Haushaltsarbeiten, Kinderbetreuung, einfache handwerksähnliche Dienstleistungen. Diese Bedarfe müssen in Dienstleistungsagenturen gebündelt werden. Die Rechnungen der Dienstleistungsagenturen können die geförderten Haushalte (nach Fraktionsantrag Haushalte mit mindestens einem Kind unter 14 Jahren oder einem hilfsbedürftigen alten Menschen ab 80 Jahren) teilweise mit Dienstleistungsgutscheinen bezahlen, so daß sich der Preis entsprechend ermäßigt. Abgesehen von den Gutscheinen unterscheidet sich die Beauftragung der Agenturen in nichts von den üblichen Handwerkstätigkeiten in
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Privathaushalten. Der Organisationsaufwand ist also gering, denn es besteht keine Arbeitgeberverpflichtung. Trotzdem kann jeder Haushalt sich seine "Mitarbeiter" aussuchen, selbstverständlich können die Agenturen auch ohne Dienstleistungsgutscheine in Anspruch genommen werden.
Die Arbeitsverwaltung soll die Dienstleistungsgutscheine ausgeben. Grundlage dafür soll ein Leistungsgesetz außerhalb des Steuerrechts sein. Die Förderung pro Haushalt fällt damit zwar geringer aus (bei Haushalten mit einem Kind bzw. Hilfsbedürftigen DM 1.200 pro Jahr, bei jeder weiteren Person DM 600), dafür können aber auch Haushalte mit geringen Einkommen die Komplementärmittel aufbringen. Wenn die Förderung voll ausgeschöpft wird, können gut 700.000 Vollzeitarbeitsplätze oder entsprechend mehr Teilzeitarbeitsplätze entstehen. In der SPD-Schwerpunktkommission Fortschritt 2000 herrschte allerdings die Meinung vor, auf die einschränkenden sozialpolitischen Förderkriterien zu verzichten und dadurch den arbeitsmarktpolitischen Effekt noch deutlich zu erhöhen und das Verfahren verwaltungsmäßig noch einfacher zu gestalten.
Die Expertenanhörung vor dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung hat das Konzept der Dienstleistungsagenturen voll bestätigt, allerdings schlug auch hier die Mehrheit der Sachverständigen vor, auf die Förderkriterien zu verzichten. Das breite Votum der Fachleute muß beachtet werden. Dieses Konzept wäre dann sofort umsetzbar und quasi eine Spezialvariante einer generellen Förderung von gering Qualifizierten über einen Zuschuß zu den Sozialversicherungsbeiträgen entsprechend dem Vorschlag im Abschnitt 4. Beide Vorschläge ließen sich zusammenfügen.
3. Leistungsfreundliche Anrechnung von Arbeitseinkommen bei der Gewährung von Sozialhilfe
Bei der Sozialhilfe ist Erwerbseinkommen im Regelfall bis zur Höhe von ca. 260 DM monatlich frei, darüber hinaus wird es voll angerechnet. Bei der ebenfalls aus Steuermitteln finanzierten Arbeitslosenhilfe (und beim Arbeitslosengeld) wird dagegen nach Abzug eines Freibetrages von 130 DM pro Monat (bzw. 30 DM pro Woche) 50% angerechnet, eine Kappungsgrenze besteht erst bei 80% des früheren Nettolohnes. Obwohl die Regelung bei der Arbeitslosenhilfe bei geringen Nebenverdiensten (zwischen 130 und 260 DM monatlich) ungünstiger ist, ist sie insgesamt systematischer
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und leicht zu vermitteln. Das Grundprinzip, wonach die Hälfte dem Arbeitslosen, die andere Hälfte dem Staat verbleibt, empfinden auch die Betroffenen als gerecht, zumal wegen des Anfangsfreibetrages sogar mehr als 50% ohne Anrechnung bleiben.
Das gleitende Anrechnungssystem sollte auf die Sozialhilfe an Arbeitsfähige übertragen werden. Für beide Leistungen entspräche dies dem Grundprinzip der negativen Einkommensteuer, ohne die sonstigen Nachteile dieses Systems gleich zu übernehmen. Außerdem würden die erheblichen Probleme entfallen, die wegen der unterschiedlichen Anrechnungsmethoden bei denjenigen entstehen, die zugleich Arbeitslosen- und Sozialhilfe erhalten. Voraussetzung müßte natürlich sein, daß sich auch die Sozialhilfeempfänger beim Arbeitsamt arbeitslos melden. Zu prüfen wäre noch eine Integration des Wohngeldes in dieses Anrechnungsverfahren. Ein großer Beschäftigungseffekt ist davon trotzdem nicht zu erwarten. Trotz der günstigen Anrechnungsregel gehen derzeit nur 2% der Arbeitslosenhilfeempfänger einer Nebentätigkeit nach. Es gibt einfach nicht so viele Arbeitsangebote.
Um auch geringer entlohnte Arbeiten attraktiv zu machen, könnte die Begrenzung des Anrechnungsmodells auf Nebentätigkeiten unter 18 Stunden/ Woche entfallen. Bedingung wäre allerdings eine Beibehaltung der Zumutbarkeitskriterien. Das heißt, nur diejenigen, denen diese einfachen Arbeiten und relativ niedrigen Löhne auch ohne besonderen Anrechnungsmodus zumutbar wären, müssen diese Arbeiten annehmen. Nur so lassen sich die negativen Effekte einer Einkommensbeihilfe auf die Qualifikationsstruktur vermeiden. Die systematisch anders gestrickte, neu eingeführte Saisonarbeitnehmerhilfe in der Landwirtschaft von pauschal 25 DM pro Tag, die ausschließlich Arbeitslosenhilfeempfänger erhalten sollen, hat dagegen das Ziel, auch solche Arbeitslose zu vermitteln, denen bisher diese Arbeitsplätze nicht zumutbar sind.
4. Verminderung der Sozialversicherungsbeiträge für gering bezahlte Arbeiten
Dieses in einigen EU-Staaten (Frankreich, Niederlande) praktizierte und von der EU-Kommission befürwortete Instrument zielt darauf ab, die Marktgängigkeit einfacher Arbeiten durch Kostenentlastung zu verbessern. Das
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kann einmal direkt durch Senkung oder sogar völligen Verzicht auf Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber erfolgen, zum anderen könnten niedrigere Löhne im unteren Segment durch Verzicht auf die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung attraktiver gemacht werden. Um die Finanzierung der Sozialversicherung zu gewährleisten, müßte der Staat die Beitragszahlung übernehmen. Der soziale Schutz im Alter und bei Arbeitslosigkeit soll dadurch allerdings nicht eingeschränkt werden. Insofern ist eine Beschränkung auf Arbeitslose und andere Sozialleistungsbezieher nicht möglich. Dieses Konzept entspricht voll dem Ziel, die Arbeitskosten für gering qualifizierte Arbeiten besser mit der Produktivität in Einklang zu bringen, ohne daß eine Gruppe der "working poor" wie in den USA entsteht. Wo die neuen Arbeitsplätze entstehen könnten, bleibt dem Markt überlassen, d.h. der Findigkeit der Unternehmen und auch von gemeinnützigen Organisationen ohne Erwerbszweck. Wegen der technischen Entwicklung und der ausgeteilten Arbeitsorganisation sind in der Industrie zwar kaum zusätzliche Arbeitsplätze zu erwarten, dafür aber in großem Umfang bei einfachen Dienstleistungen mit einem geringen Kapitaleinsatz. Beispiel sind Fahrgastbetreuer im ÖPNV, ökologischer Landbau, kleine handwerksähnliche Dienstleistungen, Bedienung an Tankstellen, Einpackhilfen im Supermarkt, Warenzustellung ins Haus, Fahrstuhlbegleitung im Kaufhaus, persönliche Unterhaltung für einsame Menschen, Pförtner, Hilfskellner oder Eingangsbetreuung im Restaurant.
Soweit die Förderung allein die Arbeitgeberbeiträge betrifft, besteht kein prinzipieller Unterschied zu dem umfassenden Modell der Lohnkostenzuschüsse. Die Zuschußhöhe wäre zwar auf 21%, aber nicht zeitlich beschränkt. Bei Einbeziehung der Arbeitnehmerbeiträge entstehen aber zusätzliche Probleme dadurch, daß die Gewerkschaften neuen, niedrigeren Lohngruppen zustimmen müßten, wenn auch der Zuschuß zum Arbeitnehmerbeitrag kostenwirksam werden soll. Die Tariflandschaft könnte in Unordnung kommen. Darüber hinaus wäre sogar ein Arbeitgeberzuschuß in voller Höhe der Sozialversicherungsbeiträge von 42% möglich, weil der Arbeitgeber ohnehin zum Beitragseinzug verpflichtet ist.
Am einfachsten umsetzbar wäre der Vorschlag, daß der Bund bis zu einem Lohn von 10 DM/Stunde die Sozialversicherungsbeiträge voll übernimmt, danach die eigene Beitragsleistung (zur Hälfte vom Arbeitgeber finanziert) in einem gleitenden System einsetzt und etwa ab 18 DM/Stunde der Über
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gang zur normalen Sozialversicherungspflicht für Arbeitnehmer und Arbeitgeber erfolgt. (Die genauen Schwellenwerte müßten nach sorgfältiger Prüfung festgelegt werden, 18 DM sind nur ein erster Vorschlag.) Bei 14 DM/Stunde beträgt der Zuschuß dann noch die Hälfte, bei 12 DM drei Viertel und bei 11 DM sieben Achtel. Für einen Arbeitnehmer mit 11 DM Brutto-Stundenlohn würde sich der Nettolohn von derzeit 8,69 DM auf 10,71 DM erhöhen, d.h. um 23%. Selbst ein Lohn von 9,50 DM pro Stunde mit brutto = netto wäre noch attraktiver als heute ein Lohn von 11 DM. Im gleichen Umfang würden auch die Arbeitgeber profitieren, so daß sich sehr viel mehr Arbeitsplätze "rechnen". Dieses Modell wäre daher für Ostdeutschland besonders attraktiv, weil es dazu beitragen könnte, die Schere zwischen Produktivität und Arbeitskosten zu verringern.
Dieses Modell stellt auf den Stundenlohn ab. Es bezieht Beschäftigungen in geringfügigem Umfang mit ein, für die dann eine volle Sozialversicherungspflicht besteht, die aber ggf. genauso wie Vollzeitarbeitsplätze von der Förderung gering qualifizierter und entsprechend gering bezahlter Arbeit profitieren könnten. Um eine zu starke Progression der Abgaben insgesamt im unteren Einkommensbereich zu vermeiden, müßte der Einkommensteuertarif so ausgestaltet werden, daß gerade Haushalte mit einem Stundenlohn von 14 bis etwa 20 DM steuerlich entlastet werden. Hier liegt Handlungsbedarf für eine Steuerreform, die mit einer Reform der Sozialabgaben abgestimmt ist. Eine solche übersichtliche, marktnahe Lösung ließe sich darüber hinaus gut mit einer sozialen Mindestsicherung und einer generellen Versicherungspflicht für Selbständige kombinieren. Neben der Festlegung der Schwellenwerte bleibt als gravierendes Problem, daß auch bereits bestehende Arbeitsverhältnisse subventioniert werden müßten (Mitnahmeeffekt!). Außerdem müßte das Modell noch eine Regelung bei Überstunden und Vorsorge gegen Mißbrauch erhalten, um beispielsweise Lohnsenkungen (mit entsprechend höherem Zuschuß zu den Sozialversicherungsbeiträgen) im Tausch gegen längere Arbeitszeit zu unterbinden.
Fazit
Die SPD betritt mit diesen Vorschlägen bewußt Neuland. Ein Änderung der Rahmenbedingungen ist notwendig, um den Strukturwandel aktiv zu gestalten. Die Schaffung von Arbeitsplätzen muß dabei Vorrang haben vor einer bloßen Zahlung von Sozialleistungen. Ohne ein solches Konzept wer
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den die Perspektiven von gering Qualifizierten immer aussichtsloser, selbst wenn sich die Lage am Arbeitsmarkt generell wieder bessert. Eine Ausgrenzung von Millionen von Menschen kann und darf die SPD aber nicht zulassen.
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fes-library | März 1999
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