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TEILDOKUMENT:
Ruth Brandherm
[Seitenzählung analog zur Druck-Ausgabe: Seite 9 ]
Geringqualifizierte sind die Verlierer am Arbeitsmarkt. Ihre Beschäftigungsmöglichkeiten haben sich in Deutschland in den letzten Jahren drastisch verschlechtert: Jeder dritte Einfacharbeitsplatz wurde in der Zeit zwischen 1976 und 1989 gestrichen; der Anteil der Ungelernten an den Arbeitslosen ist überproportional hoch. Für die Zukunft wird ein weiterer drastischer Rückgang der Beschäftigungsmöglichkeiten prognostiziert, und bis zum Jahr 2010 wird mit einer Halbierung der bisherigen Zahl der Stellen gerechnet. Da es in anderen europäischen Ländern ähnliche Entwicklungen gibt, erscheint es sinnvoll, zu beobachten, welche Lösungsmöglichkeiten dort ergriffen und welche Erfahrungen damit gemacht werden. Mit einem Konzept für Geringqualifizierte betritt die SPD arbeitsmarktpolitisches Neuland. Ottmar Schreiner, MdB, stellt es als Teil einer Gesamtstrategie zur Überwindung der Arbeitslosigkeit vor. Im Zentrum steht der Vorschlag, mit staatlicher Förderung marktfähige und zugleich existenzsichernde Arbeitsplätze zu schaffen und Arbeitsarmut, die Aushöhlung des Tarifsystems und Sozialdumping zu verhindern. Auch in Zukunft zielt die SPD-Beschäftigungspolitik auf eine Strategie, die produktive und qualifizierte Arbeit fördert. Nur mit verstärkten Qualifizierungsanstrengungen ist der wirtschaftliche Strukturwandel zu bewältigen. Dieses zentrale Element einer Innovationsstrategie reicht jedoch nicht aus, um die Beschäftigung auch für Geringqualifizierte im notwendigen Umfang zu sichern. Das Konzept der SPD, das wesentliche Elemente des Weißbuchs der Europäischen Kommission zu Wachstum, Wettbewerb und Beschäftigung aufgreift, hat die Schwerpunkte: Förderung der Beschäftigung in Privathaushalten durch Dienstleistungsgutscheine und Dienstleistungsagenturen, leistungsfreundlichere Anrechnung von Arbeitseinkommen bei der Gewährung von Sozialhilfe und Verminderung der Sozialversicherungsbeiträge für geringbezahlte Arbeiten. Ausgehend von der Analyse der Ursachen der gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation - Persistenzphänomen, Strukturwandelprobleme und sogenannte Armutsfalle - beschäftigt sich der Beitrag von Werner Sesselmeier mit
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der Bedeutung von Einkommenstransfers zum Abbau der Arbeitslosigkeit. Können sie ein Weg sein, der zu mehr Beschäftigung im Niedriglohnbereich führt, ohne den amerikanischen oder den britischen Weg der Lohnspreizung nach unten zu beschreiten und den "working poor" Vorschub zu leisten? Zwei Modelle, die derzeit in der Diskussion sind, werden vorgestellt und in ihrer Wirkung beschrieben: Negative Einkommensteuer und Lohnsubventionen. Insgesamt scheint das Beschäftigungspotential einer negativen Einkommenssteuer das der Lohnsubvention zu übersteigen. Ihre Einführung würde allerdings eine wesentlich größere Reformbereitschaft voraussetzen, da sie Strukturen des Sozialstaates modifizieren und einen erheblichen Transferbedarf auslösen würde. Letztlich ist der beschäftigungspolitische Erfolg von Einkommenstransfers jedoch an flankierende Maßnahmen und eine aktive Arbeitsmarktpolitik geknüpft. Das vorrangige Ziel der Arbeitsmarktpolitik in Frankreich ist die Vermeidung und Bekämpfung der sozialen Ausschließung (exclusion social) und der Erhalt des sozialen Friedens. Hierin sind sich Regierungen und Parteien der unterschiedlichen Couleur nach Ansicht von Christian Dufour einig. Die Maßnahmen konzentrieren sich vor allem auf besondere Zielgruppen (jugendliche Arbeitslose, ältere Arbeitslose, Geringqualifizierte etc.). Eines der insgesamt vier Maßnahmebündel zielt darauf, durch die Verringerung der Arbeitskosten Beschäftigung zu fördern. Der Staat übernimmt einen Teil der Sozialversicherungsbeiträge für Arbeitnehmer im Niedriglohnbereich oder für die Verkürzung der Arbeitszeit. 1995 waren von diesen Maßnahmen 3,5 Millionen Arbeitnehmer betroffen. Die Kosten beliefen sich auf umgerechnet ca. 3,5 Milliarden DM. In der Öffentlichkeit und bei Experten ist der Erfolg der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen allerdings heftig umstritten. Im Unterschied zur steigenden Arbeitslosigkeit in den Industrieländern und den meisten Ländern der Europäischen Union ist es in den Niederlanden gelungen, die Arbeitslosenquote drastisch zu senken und die Beschäftigtenzahl zu erhöhen. Das niederländische "Beschäftigungswunder" ist sowohl auf den hohen Anteil an Teilzeitarbeitsplätzen sowie auf die allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit seit den fünfziger Jahren zurückzuführen. Gleichwohl konstatiert Wiemer Salverda bei den Geringqualifizierten und bei den Niedrigentlohnten erhebliche Probleme. 1996 lag in den Niederlanden die Arbeitslosigkeit bei ethnischen Minderheiten und bei Perso
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nen ohne Hauptschulabschluß um das Dreifache über dem Durchschnitt. Zwischen der Regierung und den Sozialpartnern wurde vereinbart, daß den lokalen Behörden bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eine stärkere Bedeutung zukommt und die sozialen Sicherungssysteme eine aktivierende Rolle erhalten. Neben einer breiten Palette von Maßnahmen zur direkten Arbeitsplatzbeschaffung werden Maßnahmen durchgeführt, die durch Senkung der Lohnkosten und durch Lohnsubvention die Schaffung neuer Arbeitsplätze anreizen sollen, sowie Maßnahmen, die auf die Beschäftigungsförderung ethnischer Minderheiten ausgerichtet sind. Maßnahmen zur Lohnsubventionierung nehmen inzwischen einen sehr großen Raum ein. Allerdings kann z.Zt. noch nicht belegt werden, ob die Zahl der Arbeitsplätze sich dadurch erhöht hat. Die Schaffung geringqualifizierter und geringvergüteter Arbeitsplätze könnte nach Ansicht von Wiemer Salverda ein falsches Signal geben, da sie den Druck für Besserqualifizierte, derartige Arbeitsangebote anzunehmen, erhöhen und zu einer Verschärfung des Verdrängungswettbewerbs führen können. In Schweden löste die wirtschaftliche Krise der neunziger Jahre eine Beschäftigungskrise aus, die zu einer starken Belastung der öffentlichen Haushalte führte und den skandinavischen Wohlfahrtsstaat vor große Probleme stellte. Bei steigenden Arbeitslosenzahlen standen geringere finanzielle Mittel für die Arbeitslosenversicherung und für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Verfügung. Anders Bäckström beschreibt in seinem Beitrag die Konsequenzen für die schwedische Arbeitsmarktpolitik. Heute nehmen das Beschäftigungsförderungsprogramm (ALO) und das Arbeitseinführungsprogramm (API) gegenüber Fort- und Umschulungsmaßnahmen den größeren Raum ein. Die dafür notwendigen Aufwendungen sind etwa gleich hoch wie die Kosten für die Arbeitslosenunterstützung. Im Vergleich mit den teureren, jedoch langfristig wirkungsvolleren Qualifizierungsmaßnahmen sind Beschäftigungsförderungsmaßnahmen ein Maßnahmetyp, der zwar preiswerter ist, jedoch langfristig keine guten Beschäftigungsaussichten eröffnet. Da Analysen belegen, daß Qualifikationsdefizite bei vielen Arbeitslosen vorliegen und ein Hemmnis für den Strukturwandel sind, tritt der schwedische Gewerkschaftsbund (LO) dafür ein, mehr Mittel für Qualifizierungsmaßnahmen bereitzustellen. Anknüpfend an die Erfahrungen in den USA stellt Axel Gerntke die Gefahren einer Ausweitung der Niedriglohnbeschäftigung ins Zentrum seines
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Beitrages. Die im Arbeitsförderungsreformgesetz und im Bundessozialhilfegesetz enthaltenen Möglichkeiten einer Subventionierung von Niedriglöhnen zielt darauf ab, in Deutschland einen Niedriglohnsektor zu etablieren und soziale und tarifliche Standards zu unterlaufen. Dem sozialpolitisch ungerechten und ökonomisch kontraproduktiven Weg, geringqualifizierte und schlechtbezahlte Dienstleistungstätigkeiten zu fördern und dadurch Druck auf den ersten Arbeitsmarkt und auf die Tariflandschaft heraufzubeschwören, stellt er das Leitbild einer "Vollbeschäftigung neuen Typs" gegenüber. Hierbei kommt einem öffentlich geforderten Beschäftigungssektor, der u.a. für Geringqualifizierte Beschäftigungsmöglichkeiten schafft, die am gesellschaftlichen Bedarf orientiert sind und den sozialen Standards entsprechen, eine große Bedeutung zu. Daneben bleiben Maßnahmen zur Arbeitszeitverkürzung bei bestimmten Zielgruppen ggf. mit Unterstützung der Bundesanstalt für Arbeit ein wichtiges Instrument zur Beseitigung der Arbeitsplatzlücke für Geringqualifizierte. In der Diskussion über Beschäftigungsmöglichkeiten für Geringqualifizierte stellt Henry Cordes eine Akzentverschiebung zu einer stärker wirtschaftspolitischen Sicht fest. Der deutsche Arbeitsmarkt leidet - im Unterschied zum amerikanischen - an einer Integrationsschwäche: Der wachsenden Nachfrage nach Beschäftigung steht kein entsprechendes Wachstum an Beschäftigungsmöglichkeiten gegenüber. Eine qualifizierte makroökonomische Wachstumspolitik ist der Schlüssel zur Überwindung der Beschäftigungsmisere. Dies bedeutet u.a., daß die Wirtschaftspolitik die private Investitionsneigung stärken und die öffentlichen Investitionen auf ein hohes Niveau zurückbringen muß. Darüber hinaus müssen Spielräume für Flexibilität und Mobilität im Beschäftigungssystem vergrößert werden und Flächentarifverträge, steuerrechtliche Regelungen und Transferleistungen angepaßt werden. Das Bildungssystem muß grundlegend reformiert und Qualifizierung stärker mit wirtschaftlichen Erfordernissen abgestimmt werden. An einer stärkeren und schnelleren Öffnung des Dienstleistungsbereichs für Geringqualifizierte - trotz möglicherweise damit einher gehender Lohnspreizung - führt kein Weg vorbei. Ergänzende Transfers im unteren Lohnbereich sind ein geeignetes Instrument, um gering qualifizierte Arbeit für Arbeitgeber und für Arbeitnehmer wieder attraktiv zu machen und den Rationalisierungsdruck auf gering produktive Arbeit im industriellen Bereich zu verringern.
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