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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 35 ]

Klimaschutz als Beschäftigungsprogramm

Michael Müller, MdB
Vorsitzender der Naturfreunde, Mitglied des Präsidiums des Deutschen Naturschutzringes (DNR), stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion


Liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine sehr geehrten Damen und Herren!

Zuerst sage ich – auch im Namen der Umwelt- und Naturschutzorganisationen – Dank dem DGB, daß wir ein wichtiges Thema der 80er Jahre – ich füge hinzu: endlich und auch gemeinsam – wieder aufgreifen, das Thema „Arbeit und Umwelt„. Dies ist auch richtig so, denn damit verbinden wir die beiden großen Herausforderungen am Ende unseres Jahrhunderts: das Krebsübel der Massenarbeitslosigkeit und die scheinbar unaufhaltsam fortschreitende Umweltzerstörung. Falsch wäre es, den Fehler zu wiederholen, Arbeit gegen Umwelt oder Umwelt gegen Arbeit zu stellen. Beide Probleme haben nämlich gemeinsame Wurzeln in gravierenden Fehlentwicklungen der industrie-kapitalistischen Entwicklung.

Wir waren schon mal sehr viel weiter. Das darf man ja anmerken in diesem Zusammenhang. Diese Gesamtsicht ist auch deshalb so wichtig, weil erst sie einen wirklicher Beitrag zur Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft leisten kann. Heute hat man bisweilen den Eindruck, daß alles, was nur Beschleunigung ist, schon modern sein soll. Qualität, Gemeinsinn und Verantwortung spielen scheinbar keine Rolle mehr.

Im Augenblick erinnert mich die öffentliche Debatte über Modernisierung eher an Veronas Welt im RTL, wo uns eine virtuelle Wirklichkeit – bunt, schillernd und schnell – vorgespielt wird, nicht aber die soziale Wirklichkeit. Die Orientierung ist verloren gegangen, die Such- und Sortiermaschinen müssen dringend in die Generalüberholung. Solange wird mit einem Schein gegaukelt, der viel mit handfesten Einzelinteressen, aber wenig mit den Anforderungen an den Fortgang verträglicher Sozial- und Wirtschaftsbeziehungen zu tun hat.

Der entscheidende Punkt ist: wir befinden uns mit der Globalisierung in einer tiefgreifenden Umbruchsituation, wo grundlegend veränderte Wirtschafts-, Sozial- und Technikentwicklungen uns vor die Frage stellen: Können wir uns diesem Prozeß nur noch anpassen, oder können wir ihn gestalten? Das ist die eigentliche Frage, bei der es um die Modernisierung geht. Ist die Politik und damit die Demokratie in der Lage von neuem ein Gleichgewicht zwischen der technischen und wirtschaftlichen Dynamik und den sozialen und ökologischen Anforderungen herzustellen?

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I.

So viel Ende und so viel Anfang waren in so kurzer Zeit noch nie. Wenn in dieser Situation Modernisierung auf ein Nachlaufen des Beschleunigungssyndroms – alles muß nur noch schneller gehen – reduziert wird, dann gibt sie ihren eigentlichen Zweck auf. Das ist für Zeitbeobachter zwar interessant, aber mit Modernisierung hat das nichts zu tun. Deshalb ist das Tagungsthema von strategischer Bedeutung. Es bezieht sich auf die reformpolitische Leitbotschaft seit dem Erdgipfel von Rio, die Erneuerung der Gesellschaft hin zu Nachhaltigkeit. Sie beinhaltet nämlich die drei wichtigsten Grundfragen für die Zukunft unserer Gesellschaft:

Erstens: Wie können auf Dauer eine menschenwürdige Existenz und sichere Arbeit für möglichst viele Menschen gesichert werden? Oder waren die Rahmenbedingungen in den letzten Jahrzehnten nur außergewöhnlich günstig? Zweitens: Wie können wir die soziale Sicherheit, die wichtigste Grundlage unseres demokratischen Gemeinwesens, bewahren? Ich kann mir ein demokratisches Gemeinwesen ohne soziale Grundlagen, ohne Gerechtigkeit, Teilhabe und Chancengleichheit nicht vorstellen. Das haben die schmerzlichen Erfahrungen unseres Jahrhundert in aller Schärfe gezeigt. Und drittens: Wie erhalten wir die natürlichen Lebensgrundlagen – aber auch die sozialen – für künftige Generationen?

Die Herausforderungen als Einheit zu sehen, das ist der Kern des Bündnisses für Arbeit und Umwelt. Also: endlich aufhören mit einer Debatte, die nur Teilwahrheiten und Teilinteressen kennt, aber das Ganze nicht mehr versteht, geschweige denn gestalten kann. Es scheint kennzeichnend zu sein, alles immer stärker voneinander zu isolieren und damit überhaupt kein Problem mehr lösen zu können, obwohl die Einzelfragen tatsächlich immer stärker miteinander verzahnt sind. Damit die zusammenwachsende Welt nicht zur zerbrechlichen Einheit wird, brauchen wir die ökologische Modernisierung. Das ist der Kern für das Bündnis von Arbeit und Umwelt.

Deshalb muß man zuerst die Ausgangssituation beschreiben. Diese Ausgangssituation heißt: Die Schönwetterzeit der Nachkriegszeit ist vorbei. Wir sind in einer Situation, wo sich die Rahmenbedingungen grundlegend ändern und wir deshalb auch grundlegend neue Antworten geben müssen. Das ist die Herausforderung.

Und sie setzt eine Analyse der Interessen, Kräfte und Dynamik der Veränderungen voraus. Dazu will ich ein wenig beitragen – allerdings nur in knappen Umrissen: Die bundesdeutsche Vergangenheit, die letzten Jahrzehnte waren geprägt, um einen Begriff von Roland Tichy aufzugreifen, von dem Modell „Villa Hügel„. Das heißt, die Sozial- und Industriekultur der Bundesrepublik war stark geprägt vom korporatistischen Milieu des Ruhrgebiets. Dieses war bestimmt vom engen Zusammenhang zwischen Betrieb und Arbeitnehmern, die bei allen Unterschieden in der Verteilung von Macht und Vermögen von ihrer wechselseitigen Abhängigkeit wußten. In diesen dichten Beziehungen war oben die Villa der Krupps, darunter die Margarethenhöhe für die qualifizierten Arbeiter und für das Industrieproletariat Altenessen, alles verbunden in einer festen räumlichen Ordnung, wo auch die Arbeiter gut leben konnten.

Dieses Modell „Villa Hügel„ ist durch den Entgrenzungs- und Beschleunigungsmechanismus der Globalisierung zerbrochen. Heute werden

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die Faktoren Beschäftigung, Management und Besitz immer stärker voneinander isoliert. Von daher werden auch die sozialen Verträge der Nachkriegszeit, der Sozialstaat, der Demokratie und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft ermöglicht hat, aufgekündigt.

Mit anderen Worten: Die Defensive, in der sich heute die Politik befindet, hat ihre Ursache darin, daß sich der Ordnungsrahmen auflöst, in dem die Entwicklung und der Fortschritt der Gesellschaft gestaltet werden kann. Das ist die Folge aus der Entgrenzung des Raums in der globalen Epoche. Richard Sennet sagt: Wir leben unter der Diktatur der schnellen Frist.

Das hat schwerwiegende Folgen: Während früher die Ökonomie interessiert war an langfristiger Wertschöpfung, an der Entwicklung neuer Märkte, an realen Investitionen und an der Schaffung von Arbeit, ist sie heute vor allem an Preisstabilität und schnellen Gewinnen interessiert. Die Lieblingsworte sind „Personalabbau und Rationalisierung„. Es vollzieht sich ein Wandel hin zu einer Arbitragewirtschaft, in der für den Handel mit Geld, Kapital und Waren die Unterschiede im entgrenzten Raum genutzt werden und mit den erwarteten Unterschieden in der Zeit spekuliert wird. Karl Marx hat das 1848 im Kommunistischen Manifest noch als Handelskapitalismus kritisiert, der heute in neuen, globalen Formen zu uns zurückkommt.

In der globalen Epoche kommt es zu einer völligen Veränderung in den Strukturen der Ökonomie, verbunden mit einerseits einer gewaltigen Monopolisierung ohne festen Ort und andererseits der Dominanz des Finanzsektors.

Vor dieser Ausgangssituation stellt sich die Frage: Wie erreichen wir neue politische Gestaltungskraft für eine soziale und ökologisch ausgerichtete Politik? Um diese Frage geht es bei dem Bündnis für Arbeit und Umwelt, denn im Kern bedeutet nachhaltige Politik Wiederherstellung von Gestaltungsfähigkeit. Ökologische Lösungen sind immer spezifische, das heißt kreative und problemnahe Lösungen, die auf der einen Seite auf die geistigen Fähigkeiten der Menschen setzen, auf der anderen Seite die örtlichen Bedingungen in die Lösung sehr stark einbeziehen.

Nachhaltigkeit ist der wichtigste Hebel zur Wiederherstellung einer dauerhaften Ordnung, von festen sozialen Beziehungen in einer globalen Welt. Diese Dimension beginnen wir erst langsam und erst in Ansätzen zu begreifen. Wie relevant die Fragen aber bereits sind, zeigt der Energiesektor, wo sich für mich bisher am signifikantesten die neue Arbitrage-Ökonomie zeigt. Sie nutzt im liberalisierten europäischen Verbund der Stromerzeugung die Unterschiede gnadenlos aus und führt zu neuen gigantischen Monopolisierungen. Das geht zu Lasten von Regionen, Beschäftigung und Umweltschutz.

Und mit der Installierung der Strombörse kommt die Spekulation noch dazu, die den Prozeß weiter verschärft. Mit dieser Arbitrage-Ökonomie findet ein Prozeß statt, bei dem Demokratie, Gemeinwohl und Lebensqualität herausfallen. Zu den Verlierern gehören auch der Mittelstand, das Handwerk und viele Dienstleister. Und wichtige Innovationen werden, wie sich bei den Effizienz- und Solartechnologien zeigt, blockiert.

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Zwar wurden die alten Gebietsmonopole durch die Liberalisierung der Strommärkte aufgebrochen. Aber das Ergebnis ist nicht mehr Wettbewerb, sondern die Herausbildung neuer Unternehmensmonopole auf der europäischen Verbundebene. Das ist die bittere und bedrohliche Konsequenz dieser Entwicklung.

Die ökologischen Ansätzen, die wir noch innerhalb der sicher problematischen Bedingungen hatten, sind weggebrochen durch eine europäische Entwicklung. Die ökologisch sehr wichtige und effiziente Kraft-Wärme-Kopplung beispielsweise hat bei RWE nur einen Anteil von 1,4 Prozent. Ich kenne kein kommunales, also dezentrales Energieerzeugungsunternehmen, das unter 10 Prozent Anteil an KWK hat.

Aber im Augenblick wird die KWK durch die hohen Überkapazitäten aus abgeschriebenen Atomkraftwerken so unter Druck gesetzt, daß industrielle und kommunale Anlagen stillgelegt oder aufgegeben werden. Dabei ist die Kraft-Wärme-Kopplung ungeheuer wichtig für den Schutz des Klimas. Die großen Stromerzeuger mit ihren gut gefüllten Kriegskassen verdrängen die ökologischen Alternativen. Das ist nicht Veronas Welt, sondern die Wirklichkeit der Arbitrage-Ökonomie, die langfristig, auch wenn sie kurzfristig zu Preissenkungen führt, großen Schaden an Umwelt, Arbeit und Gesellschaft anrichtet.

Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, welche Antworten wir heute auf diese Veränderung geben, also auf die Durchökonomisierung der Zeit, nachdem die bisherige Phase der industriellen Beziehungen in erster Linie von der Ökonomisierung des Raums geprägt war. Das war die Ordnung der sozialstaatlichen Verträge. Jetzt steht die Frage: Mit wem und auf welcher Grundlage können die Verträge im nächsten Jahrtausend gemacht werden?

Wer sind die Partner in den multinationalen Unternehmen, von denen heute immerhin 200 ein Viertel des Weltsozialproduktes umfassen, wo sind da die sozialen Gegengewichte? Ist nicht die Grundlage jeder demokratischen Gesellschaft, auch einer stabilen wirtschaftlichen Ordnung, ein Mindestmaß an Gleichgewicht zwischen Ökonomie, Ökologie und Sozialem?

Das heißt: Die Debatte über Arbeit und Umwelt, die wir hier führen, über die Erneuerung und Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft geht nicht nur um mehr Umweltschutz im engeren Sinne. Im Zentrum steht die Frage nach der Zukunft unserer Gesellschaft: Wie kann die Zukunft des europäischen Zivilisationsmodells aussehen? Das ist der Kernbereich der Auseinandersetzung.

Theodor Adorno sagte in seiner berühmten Rede zur Frage „Was ist heute der Spätkapitalismus?„ Ende der sechziger Jahre: „Ich sehe eine Entwicklung auf uns zukommen, in der man sich durch die Entfesselung von der Wirtschaft und Technik die Frage stellt, wer überhaupt noch der Nutznießer ist?„ Das läßt sich aktuell wiederholen mit Ralf Dahrendorf in seinem Beitrag zur Globalisierung: „Wir stehen an der Schwelle eines autoritären Jahrhunderts, wenn wir nicht zu einer Politik der Freiheit fähig werden.„

Deshalb muß man auch den Ernst der Lage richtig herausarbeiten: Wir sind in einer Situation, die vergleichbar ist mit dem Kampf um den Sozialstaat. Der New Deal zum Wohlfahrtsstaat

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wurde nur möglich, weil Franklin D. Roosevelt von der Leitidee ausging, große Herausforderungen erfordern auch grundlegend neue Antworten. Deshalb heraus aus dem Klein-Klein und rein in die großen, aber konkreten Visionen wie die Verbindung von Arbeit und Umwelt.

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II.

Die reale Gefahr einer globalen Klimakatastrophe macht besonders deutlich, wie notwendig einerseits die ökologische Modernisierung ist, aber auch, welche Chancen für Arbeit und Wirtschaft andererseits damit verbunden sind. Der neue UNEP-Bericht, also vom Umweltbüro der Vereinten Nationen, hat erneut folgende Entwicklung belegt: Seit etwa 1850, dem Beginn der Industrialisierung und damit der massenhaften Verbrennung von Öl, Kohle und Gas, steigt die vom Menschen verursachte Erwärmung der unteren Erdatmosphäre an. Die Freisetzung bestimmter wärmestauender Gase schließt die Atmosphärenfenster. Die von der Sonne eingestrahlte Energie wird bei der Rückstrahlung ins Weltall immer stärker zurückgehalten und in der unteren Luftschicht länger gebunden.

Die Folge dieses Prozesses ist, daß die mittlere Temperatur, die 1850 etwa bei 14,5 Grad Celsius lag, heute um etwa 0,7 Grad höher liegt. Das ist vom Menschen verursacht. Man muß zudem sehen, daß dieser Prozeß zeitverzögert abläuft. Das heißt, Klimaänderungen haben einen Vorlauf in der Anpassung an die veränderte Chemie und Dynamik von etwa vier bis fünf Jahrzehnten. Mit anderen Worten, die starken Emissionsentwicklungen der letzten Jahrzehnte sind in diesen klimatischen Veränderungen noch gar nicht enthalten.

Eine Erwärmung um mehr als 1 Grad Celsius ist von daher nicht mehr zu verhindern. Die Klimawissenschaft sagt, daß die kritische Grenze für Erwärmungsprozesse bei etwa bei 1,5 Grad pro Jahrhundert oder von insgesamt höchstens 2 Grad Celsius liegt.

Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem atmosphärischen Kohlenstoffgehalt und der Erdtemperatur. Wir haben, wenn man das an den Emissionen mißt, 1850 bei Kohlenstoff einen Wert gehabt von etwa 280 Teile auf 1 Mio. Teile. Heute haben wir einen Wert von etwa 355 Teile auf 1 Mio.. Wenn zudem die anderen Gase, die das Klima verändern, auf die Wertigkeit von Kohlenstoff um- und hinzugerechnet werden, sind wir schon bei rd. 460 Teile auf 1 Mio. Teile.

Wenn ein Wert von 560 erreicht wird, also der natürliche Wert von 280 verdoppelt ist, bedeutet das eine Erwärmung um 2 Grad. Diesen Wert werden wir im bisherigen Trend in etwa 40 bis 50 Jahren erreichen. Mit anderen Worten, wir sind bereits in einer gefährlichen Situation. Die Änderung des Klimas bedeutet nämlich nicht, daß wir schöne Temperaturen wie in Palermo bekommen, sondern fundamentale Veränderung in den Lebensbedingungen auf der Erde.

Den Vorgeschmack haben wir in vielen Bereichen schon erlebt: Der El-Niño-Effekt im letzten Jahr, die Zunahme von Orkanen in großen Teilen der Welt, die Verödung und Verwüstung großer Landstriche in Afrika. Oder auch in Europa das Abschmelzen der alpinen Gletscher um mehr als 50 Prozent in den letzten 100 Jahren. Heute sind 5 Prozent mehr Wasserdampf in der Atmosphäre als vor 100 Jahren.

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Alle diese Prozesse sind höchst problematisch. Im Trend hochgerechnet bedeutet das nach den Untersuchungen der Welt-Meteorologie-Organisation (WMO), daß wahrscheinlich bis Ende des nächsten Jahrhunderts, also um 2100, mit einer Erwärmung im Mittel um ca. 2,5 Grad in der unteren Luftschicht gerechnet werden muß. Um deutlich zu machen, was das heißt: Vom Ausgangspunkt 1850 bis zum Ende des nächsten Jahrhunderts, also in 250 Jahren, werden Klimaänderungen zusammengepreßt, die sonst über rund 12.000 Jahren ablaufen. Das kann ein Großteil der Ökosysteme nicht verkraften.

Und das hätte dramatische Folgen für Leben auf der Erde, für Anbauflächen, die Wasserversorgung, die Wirtschaft, die Beschäftigung. Durch die weiter wachsende Weltbevölkerung und die nachholende Industrialisierung werden sich die Klimagefahren beschleunigen und verschärfen. Deshalb ist schon aus Verantwortung für die Eine-Welt die Notwendigkeit des Handelns gegeben.

Wir haben zwei Möglichkeiten. Wir haben die Möglichkeit, zu warten, bis das Problem noch größer wird. Dann werden aber auch die Maßnahmen um so härter und um so einschneidender werden. Und ich weiß nicht, ob eine Demokratie solche tiefgreifenden Maßnahmen, die dann notwendig wären, verkraften kann. Deshalb ist es ein demokratisches Vorsorgeprinzip, die erkannten Gefahren frühzeitig aufzugreifen und soweit es geht abzumildern und abzuwenden. Diese Vorsorgestrategie kann die Chancen einer Klimaschutzpolitik für Innovationen und Beschäftigung nutzen.

Ich will an drei Punkten verdeutlichen, daß mit einer solchen Strategie viele Chancen verbunden sind. Wir haben in der Bundesrepublik ein nachgewiesenes Einsparpotential von mindestens 40 Prozent des heutigen Energieumsatzes. Theoretisch könnten wir ihn schon mit heutigen Technologien, wenn wir alles ausnutzen, um mindestens 40 Prozent verringern. Wir haben ungefähr 300 in der Bundesrepublik durchgeführte Energieeinsparmaßnahmen hochgerechnet für das Bundesgebiet, um die Effekte zu ermitteln. Ergebnis: Wir haben heute volkswirtschaftliche Energiekosten von ungefähr 320 Mrd. DM pro Jahr. Also 320 Mrd. DM für Energie – Wärme, Strom, Mineralöl etc. Wir könnten durch die Ausnutzung des Einsparpotentials die Kosten um etwa 80 bis 85 Mrd. DM verringern.

Eine solche Strategie würde an Investitionen rund 30 Mrd. DM erfordern. Der Widerspruch, daß die Gesellschaft insgesamt reicher wird, liegt auch an dem einfachen Tatbestand, daß diejenigen, die heute an dem hohen Energieeinsatz verdienen, in der Regel nicht diejenigen sind, die an Einsparen interessiert sind. In Wirtschaft und Gesellschaft geht es nämlich auch um Macht und Interessen. Das vergessen manche.

Eine intelligente Einsparstrategie, die Vorteile hätte für Verbraucher, für die Wirtschaft, für die Umwelt, sie wäre möglich. Und sie hätte auch erhebliche Vorteile für die Beschäftigung. Nach den bisherigen Effekten von Energieeinsparmaßnahmen würde eine solche Strategie mindestens 200.000, in der oberen Berechnung sogar 400.000 neue Arbeitsplätze schaffen.

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Und deshalb darf beim Energiegesetz keine Politik nach dem Motto gemacht werden „Was dient den Großen?„. Das Energiegesetz muß den Klimaschutz, eine intelligente, effiziente Energieverwendung, die Sicherung von Erzeugung in unserem Land sichern und Innovationen und Beschäftigung fördern. Das ist im richtig verstandenen Sinne ökologische Versorgungssicherheit. Deshalb geht es auch nicht darum, die Stadtwerke in ihrer alten Form zu sichern. Aber es geht darum, die dezentrale Energieversorgung zu sichern, weil die nämlich der Schlüssel ist für Energieeinsparungen und für effiziente Energieversorgung.

Eine zweite Säule ist der solare Bereich. Wir haben in der Bundesrepublik den bescheiden geringen Anteil von nur 2,3 Prozent regenerativer Energien an der Endenergie, nur 2,3 Prozent. Wir liegen im europäischen Bereich im unteren Drittel. Wir könnten durch eine offensive Solarstrategie nicht nur den Anteil sichern, sondern bis 2010 verdreifachen bis vervierfachen. Deshalb muß die Novellierung des Stromeinspeisungsgesetzes jetzt kommen, die glücklicherweise auf den Weg gebracht ist. Das ist auch im globalen Maßstab für den Export, den Umweltschutz, die Sicherung und den Ausbau von Beschäftigung wichtig. Wir können über den Ausbau des solaren Sektors ungefähr 100.000 Arbeitsplätze schaffen. Das sind hoch effiziente und zukunftsfähige Arbeitsplätze, ein wesentlicher Beitrag für mehr Arbeit und Umweltschutz.

Ein drittes Beispiel: Die Kienbaum-Unternehmensberatung hat eine Studie gemacht über ein mögliches besseres Umweltmanagement in 40 Industriebetrieben. Wenn dort nur das, was heute schon an Möglichkeiten der effizienteren Verwendung von Ressourcen und Energie bzw. an der Vermeidung von Abfällen gegeben ist, genutzt würde, brächte dies erhebliche betriebswirtschaftliche Vorteile.

Nach Kienbaum kann das Betriebsergebnis um ungefähr 10 Prozent verbessert werden. Das sind immerhin rund 200 Mrd. DM für die Bundesrepublik. Das nur im Industriebereich, wenn dafür die Rahmenbedingungen gesetzt würden – beispielsweise durch das Öko-Audit, das dann nicht mehr nur ein allgemeines Aushängeschild ist für Betriebe, sondern verbindlich wird. Warum nicht, wenn es der ökologischen Modernisierung dient? Ich bin sehr dafür, über eine Steigerung der Ressourcen und Energieproduktivität die Wettbewerbsbedingungen zu verbessern, Innovationen anzuregen und neue Märkte zu schaffen.

Also, meine Damen und Herren, der eigentliche Punkt der ökologischen Modernisierung ist, die Gestaltungsfähigkeit der Politik für die Zukunft der Gesellschaft und die Zukunft unserer Zivilisation zurückzugewinnen.

Wie am Anfang dieses Jahrhunderts bei der sozialen Frage, die eben nicht, wie das heute oft dargestellt wird, auf die Sozialhilfe reduziert werden kann, sondern das Prinzip für die soziale Gestaltung der Gesellschaft war – übrigens auch vor dem Hintergrund der schrecklichen Katastrophen dieses Jahrhunderts –, so geht es heute bei der ökologischen Frage erneut um die Zukunftsfähigkeit und die Fortschritts- und Integrationskraft unserer Gesellschaft. Deshalb ist die ökologische Frage letztlich die Erweiterung der sozialen Frage.

Gerade angesichts der Herausforderungen der Klimagefahren würde es unserem Land und Eu-

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ropa, denn ich glaube, diese Fragen können wir nur im europäischen Kontext noch lösen, nicht schlecht anstehen, wenn wir zu Vorreitern der ökologischen Modernisierung werden. Das wäre ein wirklicher Beitrag zur Modernisierung unserer Gesellschaft.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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