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Die Abkoppelung des Politischen

Unabhängig davon, ob man die Konstitution der Rußländischen Föderation 1991 mit der Auflösung der UdSSR oder mit der Annahme der Verfassung im Dezember 1993 beginnen läßt, scheint heute unbestritten, daß die Finanzkrise vom August 1998 den Schlußpunkt eines mehrjährigen Transformationsvorganges markiert, der das Land zwar gesellschaftspolitisch, wirtschaftlich und normativ fundamental veränderte, aber auch in eine Sackgasse führte.

Die vor allem in Moskau, aber auch in anderen urbanen Zentren überbordende Aufbruchsstimmung und Zukunftszuversicht konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die rasante Veränderung auf Kosten der russischen Bevölkerung ging. Trickling down Effekte hatten erstmalig zum Entstehen einer russischen Mittelklasse geführt. Vor dem 17.August 1998, so belegt eine in der Rußländischen Föderation durchgeführte Befragung, zählten sich annähernd 35% der Bevölkerung zur neuen Mittelklasse. Die Gesellschaft begann sich in Gruppen und in schroff voneinander abgegrenzte Lebenswelten zu differenzierten. Die Kehrseite der zügigen, aber punktuellen Integration von regional-urbanen Zentren, vor allem des europäischen Teils Rußlands, in die Weltwirtschaft waren jedoch massenhafte soziale Verelendung und die sozialökonomische Zerrissenheit des Landes. Die makro-ökonomischen Stabilisierungserfolge in diesen Jahren wurden offenbar nur dadurch erreicht, daß Löhne in der größtenteils noch brachliegenden Industrie, aber auch im öffentlichen Sektor (Gesundheits- und Bildungswesen, Forschung und Militär) sowie staatliche Transferleistungen an Rentner und andere Hilfsbedürftige entweder gar nicht oder nur mit Verspätung von mehreren Monaten ausgezahlt wurden.

Bereits Anfang 1998 war deutlich, daß die Dynamik der freigesetzten Wirtschaftskräfte, die den fundamentalen Wandel seit Beginn der zweiten Phase der Privatisierung ab Sommer 1994 in Gang setzte, erlahmte. Die monetär-liberale Wachtumsstrategie war an ihre Grenzen gestoßen und hatte soziale und wirtschaftliche Folgen, die sich nunmehr gegen die Fortführung der Reform selbst wandten.

Auf der politischen Ebene fand diese Entwicklung ihren Ausdruck in der vom Präsidenten losgetretenen politischen Führungskrise, die bis heute andauert. Die aus welchen Gründen auch immer motivierte Entlassung des damaligen Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin (März 1998) zerstörte die politische Basis der neuen Machtelite und leitete ihren Niedergang ein. Die "Partei der Macht", Unser Haus Rußland, begann sich aufzulösen. Damit verlor die Machtelite ihre einzige politische Institution, über die bis dahin Konflikte zwischen den Herrschaftsgruppen mediatisiert werden konnten. An der doppelten Herausforderung, die politische Führungs- und die heraufziehende Finanzkrise des Staates zu lösen, scheiterten alle darauffolgenden Regierungen, von Sergeij Kirienko (April bis August 1998), Ewgenij Primakow (September 1998 bis Mai 1999) bis zu Sergeij Stepaschin (Mai bis August 1999). Sein Nachfolger im Amt, Wladimir Putin, dessen Vita wie die von Primakow und Stepaschin eng mit dem früheren KGB und dem jetzigen FSB verwoben ist, wird eher als Sachwalter und Abwickler der laufenden Regierungsgeschäfte bis zu den Dumawahlen fungieren, als daß er die ihm vom Kreml aufgebürdete Rolle der Nachfolge im Präsidentenamt wird erfüllen können.

Ab August 1998 wurde die Führungskrise noch um die Dimension des faktischen Staatsbankrottes erhöht und führte zur massiven Abwertung des Rubels, zu Inflationsschüben, zum Zusammenbruch der russischen Privatbanken und zum Autoritätsverlust von Präsidentschaft und Regierung.

Nicht nur das liberal-monetaristische Wirtschaftsmodell steht inzwischen auf dem Prüfstand. Konzeptionen, die auf Mobilisierung von endogenen Wachstumskräften setzen und dabei die bislang sträflich vernachlässigte Frage angehen, welche Rolle der Staat im neuen Abschnitt der Transformation spielen soll, haben seither Aufwind. Mit der Formierung einer politisch moderaten, zentristisch-pragmatischen Kraft um den Moskauer Oberbürgermeister Jurij Luschkow kann die Kritik an der bisherigen Wirtschaftspolitik nicht mehr so einfach diffamiert werden. Im Gegenteil. Es scheint evident, daß die Träger der bisherigen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ihre Legitimation verloren haben und in den kommenden Wahlen politisch ins Abseits zu gleiten drohen.

Die bisherige Machtelite befindet sich in Auflösung, ist heillos zerstritten und konnte sich bislang nicht auf die Unterstützung eines Programmes, geschweige gar eines aussichtsreichen Kandidaten für die Präsidentschaft einigen. Zwar hat sie den Zugang zur Regierung, der ihr unter Primakow zu entgleiten drohte, wieder herstellen können, aber ob ihr die Umgruppierung der eigenen Kräfte gelingt, und ob sie sich in entstehende Bündnisse einbringen kann, ist zweifelhaft.

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Die neue politische Mitte

Stigmatisiert durch Korruption, illegitime Bereicherung im Zuge der Privatisierung und verantwortlich für die soziale und materielle Not der Bevölkerung, scheut die neue politischen Mitte davor zurück, mit den alten Reformkräften irgendwelche Bündnisse einzugehen. Deren strategisches Ziel, Unterschlupf in einer breiten Koalition der demokratischen Kräfte von der Rechten bis zur neuen Mitte finden und die Wahlkampagne als zwei-Lager-Wahlkampf gegen die KPRF zu führen, ist gescheitert.

Denn erstens werden Kontakte zu den Repräsentanten der ersten Generation von Reformern eher als Belastung interpretiert. Zweitens wird die Gefahr eines kommunistischen Durchmarsches bei den Wahlen zur Duma als gering eingeschätzt. Und drittens hat die neue Mitte, d.h. jene sich um den Moskauer Bürgermeister Jurij Luschkow und um den ehemaligen Ministerpräsidenten Ewgenij Primakow gruppierenden Kräfte der allrussischen, gesellschaftspolitischen Bewegung „Vaterland, Otetschestwo„, inzwischen ein eigenes Profil und Selbstbewußtsein entwickeln können. Sie brauchen weder die KPRF zu fürchten, noch benötigen sie die Rechte für ein Wahlbündnis. Programmatisch weichen ihre Vorstellungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ohnehin von denen der alten Reformkräfte ab. Sie fordern einen radikaleren Kurswechsel hin auf industrie- und strukturpolitische Ziele und dringen darauf, den Aufbau eines effizienten Staates endlich in Angriff zu nehmen. Auch die zwischen liberalen und sozialreformerischen Zielen hin und her schwankende Bewegung von Grigorij Jawlinskijs, „Jabloko„, hält auf Distanz zu den ehemaligen Reformkräften um Anatolij Tschubais, Sergeij Kirienko, Boris Nemtzow oder Jegor Gaidar, sucht aber einzelne Reformer für die Bewegung zu gewinnen, wie den vorigen Ministerpräsidenten Sergeij Stepaschin.

Bislang scheiterte aber die Formierung und der Durchbruch von Kräften, die andere Akzente in der Wirtschafts-, Finanz- und Innenpolitik setzen könnten, noch am Beharrungsvermögen der alten Machteliten, wie die Entlassung des damaligen Ministerpräsidenten Ewgenij Primakow im Mai 1999 belegt. Von der nahezu unantastbaren Festung präsidentieller Macht verblieben Teilen der politisierten Oligarchie und einigen wirtschaftlichen Gruppen aus der Präsidialverwaltung sowie ehemaligen Führungspersönlichkeiten aus der alten "Partei der Macht" noch genügend Einfluß und Möglichkeiten, die Formierung einer anderen Politik zu behindern. Seitdem taumelt das Land von einer inszenierten politischen Führungskrise in die andere. Nur, die destabilisierenden oder polarisierenden Auswirkungen sind erstaunlich gering. Die Bevölkerung hat sich offenbar nicht nur auf abgesenktem wirtschaftlichem Niveau und in Zurückstellung eigener Erwartungen an die gegebenen Bedingungen angepaßt. Allem Anschein nach akzeptiert sie die politische Krise als Dauerzustand und hat sich längst damit abgefunden, daß von Staat und Politik nichts zu erwarten sei. Angesichts der häufigen Regierungsumbildungen seit März 1998 und wegen der chronischen Finanznot des Staates eine durchaus verständliche Einsicht.

Auch die bevorstehenden Weichenstellungen, die sich bereits in der kurzen Zeit unter Ministerpräsident Primakow andeuteten und die mit den kommenden Wahlen zur Staatsduma im Dezember 1999 und zur Präsidentschaft im Sommer 2000 zum Durchbruch kommen könnten, erzeugen noch keine Aufbruchsstimmung. Mit dem sich anbahnenden politischen Machtwechsel deutet sich aber eine Veränderung in der Kräftekonstellation der bisherigen Herrschaftsstruktur an. Gelingt der Machtwechsel, so können wir davon ausgehen, daß die gesellschaftlich und politisch unkontrollierte Macht wirtschaftlicher Gruppen zurückgedrängt und Staat und Politik an Durchsetzungsvermögen gewinnen werden.

Paradoxerweise haben gerade jene Kräfte, die auf eine Änderung der bisherigen Politik abstellten, sich aber in der kurzen Episode der Regierung Primakow nicht haben durchsetzen und halten können, einiges dazu beigetragen, die schwere Glaubwürdigkeitskrise von Regierung und Wirtschaft zu entschärfen. Die Systemkrise wurde abgewendet. Weil es aber nicht zum Austausch oder wenigstens zur Auffrischung und Umgruppierung der Machteliten kam, ist die gegenwärtige Situation von diesem für die russische Geschichte so typischen "Stillstand" gezeichnet.

Gewiß kann die Phase der politischen Ruhe bis zu den Wahlen halten. Aber es ist die Ruhe des "Immobilismus", jene Erstarrung, in die traditionell die politische Klasse des Landes verfällt, wenn die Führungsfrage im Staat gestellt wird, sich aber die herrschenden Clans nicht über die Nachfolge einig sind. Das war bei Breschnews Abbleben so und ist am Ende der Ära Jelzin auch nicht anders.

Zweifellos größtes Interesse an der Bewahrung des politischen Status quo hat die Duma. Eine vorzeitige Auflösung würde den gefestigten politischen Parteien des Parlamentes die politische Bühne entziehen und sich nachteilig für sie im Wahlkampf auswirken. Betroffen wären in erster Linie jene politischen Gruppierungen, die nicht auf die Unterstützung von kapitalkräftigen Kräften hoffen oder sich Zugang zu den Medien erkaufen können. Daß gilt auch für die KPRF.

Erfolgreich wehrte die Duma selbst um den Preis der Selbstverleugnung mehrmals die drohende Gefahr ihrer Auflösung ab. Erstmals bei der Ernennung von Ministerpräsident Kirienko im Frühjahr 1998. Ihren Gesichtsverlust angesichts der präsidentiellen Drohung, sie aufzulösen, falls sie Kirienko nicht bestätigen sollte, kompensierte die Duma fünf Monate später. Sie wagte im Nachklang der Augustkrise den Konflikt mit dem Präsidenten und lehnte dessen Kandidaten Viktor Tschernomyrdin, der sein politisches Come back versuchte, ab. Gegen den Widerstand der Präsidialadministration wurde im September 1998 der damalige Außenminister Ewgenij Primakow von den beiden Mehrheitsfraktionen des Parlamentes, der Kommunistischen Partei der RF und der radikaldemokratischen Bewegung „Jabloko„, als Ministerpräsident durchgesetzt. Erstmals in der jungen und kurzen Geschichte des russischen Parlamentarismus konnte sich eine Regierung auf eine Mehrheit in der Duma stützen. Seither hat sich die Diskussion über eine Verfassungsreform belebt: auch für die Rußländische Föderation wird das Entstehen einer parlamentarischen Demokratie nicht mehr ausgeschlossen.

Bewegung schuf auch jene kaltblütige Aktion nicht, mit der die Entlassung Primakows im Mai 1999 eingefädelt wurde. Gewiß, mit diesem Schachzug schienen die Aussichten von Ewgenij Primakow auf die Präsidentschaft faktisch gegen Null zu sinken. Die Ablösung von Primakow entsprang engen Machtinteressen einiger Gruppen im Umfeld des Präsidenten, nämlich jener ominösen Kreise um die „Familie„ des Präsidenten, die die Führungsfrage mit der Sicherung ihrer wirtschaftlichen Belange verknüpft haben. Zum engeren Machtzirkel um den Präsidenten zählen dessen Tochter Tatjana Djatschjenko, Alexander Woloschin (Chef des Präsidialamtes), Valentin Umaschew (Berater), Boris Bereswoskij und Roman Abramowitsch (Unternehmer).

Primakows Nachfolger, Sergeij Stepaschin, blieb nur wenige Monate im Amt, weil er das Unmögliche nicht hat erbringen können, nämlich die Formierung einer politischen Gegenmacht (die Allianz zwischen Primakow und Luschkow /Otetschestwo) zu verhindern, die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung von der "Familie" abzuwenden und ihr Garantien für die Zeit nach dem Präsidentschaftswechsel zu verschaffen.

Das geschickte Abstimmungsverhalten der Duma, nämlich Sergeij Stepaschin, aber auch seinen Nachfolger Wladimir Putin bereits in der ersten Anhörung mit jeweils einer klaren Mehrheit im Amt des Ministerpräsidenten zu bestätigten, belegen das Interesse der Parlamentarier, den politischen Status quo um jeden Preis zu retten. So spielte und gewann das Parlament Zeit und konnte eventuelle Pläne jener Machtgruppen des „inneren Zirkels„ durchkreuzen, die die Duma vorzeitig aufzulösen oder eine Staatskrise vom Zaun brechen wollten.

Inzwischen werden noch andere Politiker als "black horses" im beginnenden Machtpoker um die Präsidentschaft genannt, wie der Gouverneur Titow aus Samara oder der bislang nahezu unbekannte frühere Minister für die russischen Eisenbahnen, Nikolai Aksuonenko, der nunmehr das Amt eines Vizepremierminister bekleidet und für die wichtigsten wirtschaftlichen Ressorts verantwortlich zeichnet. Denn bereits jetzt wird deutlich, daß der alten Machtelite, die auf eine verschworene, in die Enge getriebene Gruppe im unmittelbaren Umkreis des Präsidenten zusammen geschmolzen ist, sowohl die Ideen ausgehen als auch potentielle Führungspersönlichkeiten nicht mehr zur Verfügung stehen, die noch einmal die Machtfrage für sie entscheiden könnten.

Obwohl es noch an einem zukunftsweisenden Projekt, an dessen Träger und eben am politischen Willen fehlt, die Modernisierung und Erneuerung von Politik und Wirtschaft mit den gesellschaftlichen Bedürfnissen der Bevölkerung in Einklang zu bringen, läßt sich behaupten, daß die objektiven Bedingungen für einen gesellschaftspolitischen Kurswechsel, der das Land näher an Europa heranführen und durchaus in demokratische Bahnen verlaufen könnte, sich verbessert haben. Folgende Indikatoren lassen sich benennen:

  • die Schwäche der Oligarchie

  • die Aufwertung der Duma als Stabilitätsfaktor der russischen Politik

  • die Formierung einer starken politischen Mitte, deren pragmatische Politikorientierung den Einfluß irrationaler, populistischer und radikal - ideologischer Strömungen eindämmt

  • der Autoritätsverlust der Präsidialmacht und die wachsende Einsicht, daß Korrekturen an der Verfassung hinsichtlich der Machtbefugnisse des Präsidenten vorgenommen werden müßten

  • die Stärkung der Regionen und der Bedeutungszuwachs des Föderationsrates im Regierungssystem. Dieser Prozeß darf allerdings nicht mit Stärkung der demokratischen Potentiale in der russischen Gesellschaft gleichgesetzt werden. Allenfalls schuf die Regionalisierung im Rahmen des sich entwickelnden russischen Föderalismus Gegengewichte zum Zentralstaat. In anderer Form und teilweise noch ausgeprägter haben sich auf allen Ebenen der russischen Föderation korporatistische Tendenzen durchgesetzt. Die Verfilzung von Staat und Politik ist somit nicht nur ein Phänomen der nationalen Politik. Auf der regionalen Ebene werden im kleineren Maßstab jene Prozesse nachgeahmt, die auf der nationalen Ebene bereits vorexerziert wurden. Gouverneure schaffen sich ihre politischen Maschinen, die von Wirtschaftsgruppen finanziell unterstützt und parlamentarisch kaum kontrolliert werden.

  • die normative Abwendung der Eliten von externen Entwicklungsmodellen und ihre Besinnung auf Mobilisierung der eigenen Innovationspotentiale zur Modernisierung des Landes (erstmals tauchten im Dezember 1998 Plakate in Moskau und anderswo auf: „Niemand wird Rußland unterstützen, wenn die Russen es nicht selbst tun„).

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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