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Die Hoffnung auf Erholung - Hindernisse auf dem Weg zurück zu alter Stärke

Angesichts der fortdauernden Ungewißheit scheint es gerechtfertigt, auf die Aussagen einer Reihe privater Forschungsinstitute in der Region einzugehen, die vor einem "verfrühten Optimismus" der internationalen Organisationen und einzelner ostasiatischer Regierungen warnen. Nach Maßgabe dieser Fachleute könnten die vermeintlich positiven Tendenzansätze bloße "Scheinblüten" sein, die überdies das keineswegs geringe Risiko nach sich zögen, den politischen Reformschwung in den betroffenen Ländern verfrüht ausklingen zu lassen. In der Tat scheint es geboten, auf vier grundlegende Schwächen bzw. Hindernisse aufmerksam zu machen, die die zukünftigen Entwicklungsaussichten in Ostasien beeinträchtigen können.

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1. Japan

Man muß mit allem Nachdruck darauf verweisen, daß die seit Jahren anhaltende Stagnation der japanischen Wirtschaft, insbesondere die lähmende Schwäche des Finanzsektors, kein ausschließlich binnenwirtschaftliches, sondern definitiv auch ein gesamtregionales Problem ist. Japanologen, insbesondere diejenigen, die sich dem Motto "history and culture matter" verschrieben haben, neigen dazu, dem Land ihres Forschungsinteresses ein geschichtlich verstetigtes Grundverständnis zu attestieren, das im wesentlichen von "Reaktionsmustern" geistiger und institutioneller Art gegenüber der jeweils vorherrschenden internationalen Ordnung gekennzeichnet sei. In einer Zeit großer globaler Umbrüche wie der jetzigen sei Japan daher nahezu definitionsgemäß nicht hinreichend handlungsfähig, jedenfalls so lange nicht, wie die Konturen des neuen globalen Ordnungsgefüges nicht klar erkennbar seien. Indirekt spiegelt sich in solchen Thesen das alte Argument wider, in Japan fehle es an einem wirklich meinungsbildenden politischen Establishment. Die Bestimmung des nationalen Interesses sei statt dessen die Domäne der (heute offensichtlich nicht mehr ganz so) prestigereichen Ministerialbürokratie, und diese habe mit allen Bürokratien der Welt gemein, nicht zu kühnen Initiativen zu neigen.

Es geht hier nicht darum, diese Argumente im Grundsatz zu bestreiten, aber wie immer kommt es auf den Standpunkt an. Was aus Sicht des Westens als "Anpassungsreaktionen" bewertet werden kann, stellt sich im großen ostasiatischen Umfeld eindeutig als "Aktion" dar. Wenn Japan handelt und auch, wenn es nicht handelt, gestaltet es für die gesamte Region wegweisende Entwicklungsbedingungen. Während die Kosten des Handelns im allgemeinen durchaus registriert werden, werden die Folgen des Nichthandelns in der Regel übersehen. Warum Japan die gesamte ostasiatische Region heute so nachhaltig "überschattet", macht selbst ein nur kursorischer Blick auf die gängigen Statistiken klar. Das wirtschaftliche Leistungsvermögen der japanischen Volkswirtschaft ist - statistisch gesehen - doppelt so hoch wie das der gesamten asiatischen Großregion einschließlich Chinas und Indiens.

In Südostasien hatte man von der Weltwirtschaftsmacht Nummer zwei ein starkes Führungsprofil im großen regionalen Krisenmanagement erwartet. Noch im Spätherbst 1997 erhofften sich die südostasiatischen Staaten einen von Japan inspirierten und gestützten Abbau ihrer Problemlast, nichts anderes also als eine rein asiatische Eigenlösung ohne "erniedrigendes Diktat des Westens". Während einer großen Krisenkonferenz Mitte Dezember 1997 in Kuala Lumpur lösten sich die Illusionen in nichts auf. Um die häufig verwandte, wenngleich leicht irreführende Metapher von der ostasiatischen Wildgänseformation zu nutzen: Die Leitgans wollte nicht fliegen. Sie flatterte ein bißchen, aber dann blieb sie sitzen. Zwar machte die japanische Regierung einige substantielle Kreditangebote, aber was man in Ostasien von Japan nachdrücklich erwartet hatte, das war, die Rolle als market of last resort zu übernehmen und die Einfuhren ostasiatischer Fertigwaren massiv anzukurbeln, um so einen beschleunigten Zufluß an Exporterlösen sicherzustellen und zur Minderung der dringlichen Liquiditätsschwierigkeiten beizutragen. Japan trat diskret zur Seite, um dem Westen Platz zu machen.

Die kritische Ansicht, Japan habe zur Überwindung der Krise nur unzulängliche Beiträge geleistet, ist in der Zwischenzeit fast zu einem verbalen Gemeingut geworden, natürlich nur außerhalb Japans. Dort sieht man sich - wie immer, wenn sich kritische Stimmen melden - einer neuen Form des Japan bashing ausgesetzt. Was jedoch erstaunt, ist die Tatsache, daß bisher nur wenige Beobachter Licht auf Japans Rolle als maßgeblicher "Mitverursacher" der Krise zu werfen versucht haben. Japans Politik und Wirtschaft waren (und sind) in der Tat unter drei essentiellen Gesichtspunkten direkt oder indirekt an der Krisenentstehung in Ostasien beteiligt.

Zum einen dürften selbst diejenigen, die trotz der vielen unreflektierten Look East-Appelle in Südostasien die Existenz eines japanischen Modells für die Region (mit Berechtigung) in Abrede stellen, bereit sein, zuzugestehen, daß Japan das Bewußtsein der südostasiatischen Regierungen und Administrationen nachhaltig beeinflußt hat und daß von ihm eine erhebliche gesamtregionale "Inspiration" - in den Worten Arnold Toynbees: eine Stimulusdiffusion - ausgegangen ist, ähnliche Erfolgswege zu verfolgen. Das hat fast überall zu dem aus Japan bekannten Ungleichgewicht zwischen relativ hoher außenwirtschaftlicher Dynamik und verhältnismäßig schwacher binnenwirtschaftlicher Basis beigetragen. Japan ist mit weitem Abstand der größte Investor in Südostasien. Es hat die industriellen Produktionsordnungen der südostasiatischen Volkswirtschaften hinsichtlich der Stärken wie auch der Schwächen mitgeprägt. Die Hauptschwäche, das klingt in den gebetsmühlenhaften "SME"-Lamentos nahezu aller südostasiatischen Länder an, ist die Selbstbehauptungs- und Leistungsschwäche der small and medium-scale enterprises. Das ist die "endlose Geschichte" von der Suche nach einem im internationalen Vergleich kompetenten mittelständischen Unternehmertum als Gegengewicht zur Wirtschaft per Management, oft beklagt als Vorherrschaft von "Konzernbeamten".

Zum anderen hätte Japan grundsätzlich die Stärke, neben Amerika und Westeuropa als dritter großer Bestimmungsmarkt für Südostasien zu fungieren. Nach einigen vielversprechenden Ansätzen zu Beginn der neunziger Jahre hat es seine diesbezügliche Verantwortung seit Mitte 1995 nicht mehr wahrgenommen. Damals einigten sich die zuständigen Ministerien in Tokyo quasi im Doppelklang mit Washington auf einen politischen Stillhaltekonsens, der faktischen Abwertungsneigung des Yen gegenüber dem Dollar nichts entgegenzusetzen. Damit war praktisch vorprogrammiert, daß der japanische Markt (wegen der folgebedingten Verteuerung der auf Dollarbasis getätigten Exportgeschäfte südostasiatischer Fertigwarenhersteller) die erwartete Rolle als growth market nicht länger spielen konnte. In Singapur kommentierte man die neue Situation in sarkastischem Ton: "The Japanese want to join the White Man's Club!" Gleichzeitig jedoch steigerten die zahlreichen von japanischen Konzernen dirigierten "transnational-industriellen Netzwerke" in der gesamten südostasiatischen Region weiterhin ihre Produktion.

Zum dritten waren japanische Finanzinstitute (noch stärker als die deutschen) führend beim unermüdlichen Hineinpumpen von Kreditkapital in die Region, sowohl direkt als auch indirekt im Rahmen einer massiven Kreditvergabepraxis an Finanzinstitute anderer Länder, die das Geld ihrerseits nach Südostasien lenkten. Das gilt besonders für koreanische Banken, die das aufgenommene Kapital massiv nach Indonesien weiterführten und nach den Eruptionen in Jakarta aus berechtigter Sorge um ihr eigenes Schicksal alle Kredithähne in Asien und Korea selbst schlagartig zudrehten, wodurch die großen koreanischen Industriekonzerne ihrerseits ebenfalls in die Krise hineingezogen wurden. Unabhängig davon grenzt es an Ironie der Geschichte, im Nachhinein zu sehen, wie die japanische Bankwelt nach der Implosion der eigenen bubble economy am Ende des Heisei-Booms 1989 (unfreiwillig) mithalf, in den anderen Ländern der Region die beschleunigte Entstehung neuer bubbles zu finanzieren.

Wie auch immer man die Position Japans bewertet, entscheidend ist, daß auch 1999 nicht mit starken Nachfrageimpulsen aus der Region selbst zu rechnen ist. Die wesentlichen inputs zu einer kraftvollen Erholung Südostasiens müßten also - nolens volens - überwiegend von westlicher Seite kommen. Anders gesagt: Das Zeitmaß, in dem Südostasien seine krisenbedingten Engpässe ausräumen kann, wird - wie schon in der Vergangenheit - nicht zuletzt von der Absorptionsfähigkeit der amerikanischen und westeuropäischen Märkte abhängen. Diese Tatsache bietet die Gelegenheit, auf einen vor Krisenbeginn sowohl in Südostasien als auch in Westeuropa weit verbreiteten Irrtum aufmerksam zu machen, ein Aspekt, der für das beiderseitige Verhältnis nach der Krise nicht unbedeutend erscheint.

Mit großer Regelmäßigkeit und nicht ohne stille Lust am Negativen ist in der Vergangenheit gern verkündet worden, die Europäische Union spiele - gleich ob als Union oder über ihre Mitgliedstaaten - nur eine zweitrangige Rolle für das wirtschaftliche Wohlergehen Südostasiens, und das werde sich auch in absehbarer Zukunft nicht ändern. Vor allem deshalb nicht, weil der innerregionale Wirtschaftsverkehr im pazifisch-asiatischen Raum seit den späten achtziger Jahren nachweislich zur mit Abstand größten Kraftquelle der südostasiatischen Dynamik herangewachsen sei. In der Tat belief sich der statistisch ausgewiesene Anteil der EU am südostasiatischen Außenhandel auf nur rund fünfzehn Prozent. Dennoch beinhaltet eine solche formale Feststellung das Risiko, daß aus ihr unzulässige Schlußfolgerungen abgeleitet werden. Der Umdenkprozeß in der Krise bietet die Gelegenheit, dieses Risiko deutlich zu verringern.

Erstens läßt die Tatsache, daß der innerregionale Wirtschaftsverkehr im pazifisch-asiatischen Raum bis einschließlich 1996 erheblich anstieg, keineswegs den Umkehrschluß zu, Westeuropa habe an Bedeutung für die künftige Gestaltung der Region verloren. Das gilt selbst dann, wenn man akzeptiert, daß das Maß an westeuropäischen Direktinvestitionen eher bescheiden ausgefallen ist, obgleich auch hier über den "Maßstab" nachgedacht werden müßte.

Zweitens sollte man nicht übersehen, daß der Großteil der Investitionstätigkeit in Südostasien auf den forcierten Ausbau industrieller Exportkapazitäten ausgerichtet war und daß der Mehranteil dieser Produktion seinen Absatz auf den amerikanischen und westeuropäischen Märkten fand (und in der gegenwärtigen Krise existenziell noch notwendiger finden muß). Mit anderen Worten: Der Anstieg der industriellen Produktion in Südostasien beruht(e) zwar in unterschiedlich hohem Maß auf nichtwestlichem Kapitaleinsatz, aber der Großteil der letztendlichen Wertschöpfung wurde (und wird) nach wie vor in Amerika und Westeuropa realisiert. Was also die Statistiken bei genauerer Analyse widerspiegeln, war (und ist) nicht in erster Linie - wie man im Falle von Handelsstatistiken eigentlich vermuten sollte - der steigende inneregionale Umsatz von Fertigwaren, sondern die Ausdehnung transnational-industrieller Produktionsnetzwerke.

Das wird drittens durch einen genauen Blick auf die relevanten Statistiken bestätigt, wonach der innerregionale Handel im asiatisch-pazifischen Raum zu einem ständig wachsenden Teil aus Halbwarenhandel und aus sogenanntem "intra-company trade" bestanden hat, also unternehmensinternen Handelsaktivitäten der jeweiligen Netzwerkzentralen mit den unterschiedlichen nationalen Produktionsstandorten der Netzwerke einerseits sowie den "Handelstransfers" von Komponenten und Teilerzeugnissen zwischen verschiedenen nationalen transplants der Netzwerke andererseits. Solche unternehmensinternen Handelsvorgänge stellen in der modernen Wirtschaft zwar ein weltweites Phänomen dar, aber der qualitativ entscheidende Unterschied zu anderen Regionen der globalen Wirtschaft liegt in der Tatsache, daß die Enderzeugnisse, die in Südostasien hergestellt werden, weitgehend für den Absatz auf den großen westlichen Bestimmungsmärkten, also außerhalb der eigenen Region, produziert werden.

Das bedeutet viertens, daß Westeuropa einen deutlich größeren Teil der industriellen Anpassungskosten der südostasiatischen Entwicklung getragen hat (und in der Krise weiterhin trägt) als Japan. Es zeugt von falscher Bescheidenheit und einer unzureichenden Bewußtseinslage, daß dieser westeuropäische Beitrag zur Entwicklung des globalen Wirtschaftssystems allgemein und Südostasiens im besonderen keine hinreichende Betonung gefunden hat.

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2. Die internationale Kaufkraftschäche Südostasiens

Der zweite große Engpaß neben dem unzureichenden "Krisenbewältigungsprofil" Japans ergibt sich aus einer schweren internationalen Kaufkraftschwäche Südostasiens. Eine baldige Erholung der Krisenwirtschaften wird durch diesen allgemeinen krisenbedingten Kaufkraftverlust der südostasiatischen Gesellschaften nachhaltig erschwert. Der spektakuläre Sturzflug der verschiedenen nationalen Währungen gegenüber dem amerikanischen Dollar hat die internationale Kaufkraft der südostasiatischen Länder Ende 1997 auf die Hälfte des Wertes des Jahres 1996 oder noch tiefer sinken lassen, und bis heute ist keine wirkliche Tendenzwende zu erkennen. Mit anderen Worten: Zur Zeit entspricht die internationale Kaufkraft in großen Teilen der Region dem Stand von vor zehn Jahren, im Falle Indonesiens sogar fünfzehn Jahren. Das elementare Gefälle zwischen tatsächlichem Bedarf zur Wiederbelebung der Wirtschaft und den finanziellen Möglichkeiten, diesen Bedarf zu decken, ist zumindest kurzfristig nicht zu überbrücken. Das gilt um so mehr, als zur Zeit offensichtlich nur einige wenige OECD-Regierungen und die internationalen Organisationen bereit sind, Kreditkapital in nennenswertem Ausmaß zur Verfügung zu stellen. Im Gegensatz dazu legt die private Finanzwelt eine Zurückhaltung an den Tag, die im umgekehrten Verhältnis zu der Euphorie steht, mit der bis Mitte 1997 Kapital in die südostasiatische Region gepumpt wurde. Es ist also keineswegs Zufall, daß in allen Krisenländern die Lösung der sogenannten trade financing-Problematik als die dringlichste Frage bewertet wird.

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3. Die Importschwäche

Das dritte große Hindernis, das einer baldigen Erholung tendenziell entgegensteht, resultiert aus der allgemeinen gravierenden Importschwäche der südostasiatischen Länder mit Ausnahme Singapurs. Die äußerlich sehr positiven Veränderungen in den Handels- und Leistungsbilanzstatistiken 1998 (Ausnahme Indonesien) sind bei genauerem Hinsehen ausgesprochen zweischneidiger Natur. Diese Entwicklungen sind nicht bzw. nur in zweiter Linie das Resultat erhöhter Exportleistungen. Vielmehr drückt sich in ihnen die gegenwärtig extreme Importschwäche Südostasiens aus. Da die meisten südostasiatischen Länder jedoch einen erheblichen Importbedarf hinsichtlich ihrer Exportproduktion aufweisen, signalisieren die Überschüsse, daß die betroffenen Volkswirtschaften zur Zeit faktisch von der Substanz leben. Das gilt für Rohstoffe und Halbwaren, aber mehr noch für die Einfuhr entwicklungsstrategisch wichtiger industrieller Investitionsgüter. Eine solche Notsituation kann allenfalls noch 1999 durchgehalten werden. Danach würde die "arretierte Modernisierung" unweigerlich negative Auswirkungen auf die industrielle Produktivität und die internationale Wettbewerbsfähigkeit zeitigen. Es verwundert daher kaum, daß diese Befürchtungen in allen Ländern der Region eines der großen Diskussionsthemen darstellen.

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4. Der Zwang zum Hochwachstum

Der vierte neuralgische Aspekt hinsichtlich einer beschleunigten Erholung der südostasiatischen Volkswirtschaften leitet sich aus dem existentiellen Zwang zum anhaltenden Hochwachstum her. Südostasien ist zum Hochwachstum verurteilt. Dieser ebenso einfache wie grundlegende Tatbestand wurde in der Vergangenheit bei aller Bewunderung für die große Dynamik der südostasiatischen Volkswirtschaften zumeist übersehen. "Asia Just Shudders at 'Normal Growth', Region's Economies Must Run Much Faster to Lift Citizens Out of Poverty", hatte es im Asian Wall Street Journal vom 8. Dezember 1995 geheißen, und es läßt sich in der Tat nicht leugnen, daß die Krise zu einem Rückfall großer Bevölkerungsgruppen unter die absolute Armutslinie geführt hat. In Indonesien z.B. ist der Anteil der Armutsbevölkerung (weniger als ein US-Dollar pro Tag) von Anfang 1997 fünfzehn Prozent wieder auf mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung gestiegen. Parallel dazu - und mit Blick auf die wirtschaftliche Zukunft vielleicht noch entscheidender - sind große Segmente der neuen Mittelklasse materiell und psychologisch wieder aus ihrem mühsam gewonnenen Status herausgefallen. Was also 1995 nur eine theoretische Befürchtung zu sein schien, ist in der Zwischenzeit harte Realität:

"Most Asian economies continue to grow at speeds that, by the rest of the world's standards, are remarkable. The problem is, the rest of the world's standards may not be high enough for Asia. The region's rapid development over the past few decades has left Asia not only accustomed to high growth but dependent upon it to build new infrastructure, repay big debts and employ the huge number of young people entering the workforce... It's what some academics call a ‘bicycle economy’, because it has to pedal furiously to avoid toppling over... That's why many in Asia worry about the consequences should the slowdown last more than a year or two." (Asian Wall Street Journal, 8. Dezember 1995)

Mit Ausnahme Japans benötigen die nordost- und südostasiatischen Länder in der Tat ein kontinuierliches Mindestwachstum von fünf bis sechs Prozent, um ihre nationalen Entwicklungsherausforderungen mit bleibendem Erfolg bewältigen zu können. In China gehen die meisten Wirtschaftsfachleute sogar von sieben Prozent als Untergrenze aus. Dafür sind mehrere Gründe ausschlaggebend.

Zum einen besteht der Zwang, ein Bevölkerungswachstum, das in den meisten dieser Staaten immer noch bei zwei Prozent liegt, auszugleichen. Zum anderen ist selbst in den Ländern, in denen der Bevölkerungsanstieg während des letzten Jahrzehnts deutlich gesunken ist, immer noch ein starker Anstieg der Erwerbsbevölkerung - mit der entsprechenden beschäftigungspolitischen Brisanz - zu verzeichnen. Das gilt, drittens, insbesondere deshalb, weil diese Länder aufgrund ihrer weltwirtschaftlichen Grundorientierung die kontinuierlich zu registrierenden globalen Produktivitätsfortschritte ausgleichen müssen, bevor irgendwelche nennenswerten beschäftigungspolitischen Effekte erzielt werden können. Viertens reicht die nationale "Substanz" der betroffenen Länder nicht aus, um das extrem hohe Wachstum ausschließlich mit Hilfe eigener Spar- und Investitionsleistungen aufrechtzuerhalten. Die massiven Schuldendienstverpflichtungen, die sich aus der fortgesetzten Inanspruchnahme internationaler Kapitalbeiträge zwangsläufig ergeben haben, sind nur auf der Grundlage außerordentlich dynamischer Exportleistungen zu erfüllen.

Als bloßer Tatbestand war das schon immer bekannt, gleichsam eine Binsenweisheit. Jetzt jedoch haben die Krisenturbulenzen diese Binsenweisheit in einer zerstörerischen Schärfe zur Realität werden lassen, wie es keiner der Betroffenen - weder im Westen noch im östlichen Asien - zuvor auch nur für denkbar gehalten hätte. Um den Vergleich der bicycle economy aufzunehmen: Der "Sturz" in der Krise hat gezeigt, daß die meisten südostasiatischen Volkswirtschaften aus Sorge, zu langsam zu pedalieren, erheblich zu schnell gefahren sind. Post festum wissen wir: Es wäre nicht darauf angekommen, ständig neue Höchstgeschwindigkeiten zu erzielen, sondern sich mit "angepaßt" hohem Tempo fortzubewegen.

Diese lehrreiche Erkenntnis hat in Südostasien in der Zwischenzeit - das ist ein positiver Lichtblick in der negativen Gesamtsituation - eine starke Resonanz gefunden. Im Rahmen der Reformbemühungen haben zahlreiche Verantwortliche aus Politik und Wirtschaft wiederholt betont, internationales Kapitalengagement in Zukunft wesentlich kritischer auf seinen langfristigen Nutzen hin bewerten zu wollen. Ein klarer Vorrang soll vor allem den produktiven Direktinvestitionen und solchen Kapitalangeboten zukommen, die technologie- und beschäftigungspolitische Wirkungen nach sich ziehen. Ferner scheint als Ergebnis der Krise insgesamt das Bewußtsein für den Wert einer new architecture im Gefüge des internationalen Kapitalverkehrs geweckt worden zu sein. So stand z.B. während der zweiten Konferenz der ASEM-Finanzminister im Januar 1999 in Köln "der Wunsch nach einer verbesserten Transparenz und möglicherweise auch engeren Kontrolle der kurzfristigen internationalen Kapitalströme" im Mittelpunkt der Tagesordnung (bfai info Asien, Nr. 2, 25.1.1999). Die 25 Finanzminister aus den 15 EU-Staaten und zehn ostasiatischen Ländern hätten, so heißt es, weitgehend darin übereingestimmt, "daß an der wünschenswerten Transparenz und an internationalen Übereinkünften zur künftig 'durchsichtigeren' Tätigkeit der großen Anleger wie z.B. Hedge Fonds und Investmentbanken kein Weg vorbeiführt". Die meisten südostasiatischen Staaten haben zudem in jüngster Zeit neue gesetzliche Bestimmungen erlassen, die den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr zumindest registrieren (monitoring) sollen, eine Lösung, die von den Betroffenen im Vergleich zu einer internationalen Übereinkunft jedoch nur als second best solution eingestuft wird.

Diese Ansätze zu einem neuen Handlungsbewußtsein sind ohne Zweifel zu begrüßen, aber ihre eigentliche Bedeutung liegt in der Zukunft nach der Krise. Gegenwärtig ist die Ausgangssituation eine andere. Falls die Krisenländer das notwendige Hochwachstum über mehrere Jahre hinweg nicht zu erzielen vermögen, könnte letztlich eine verhängnisvolle Konstellation eintreten, die in der Entwicklungsforschung als "Wachstumsfallenrisiko ("growth trap risk") bekannt ist. Mit anderen Worten: Wenn in den einzelnen Ländern die Einleitung einer klaren volkswirtschaftlichen Trendwende in naher Zukunft nicht gelingt, wächst das Risiko eines langfristigen Entwicklungsrückfalls. Dieses Risiko ist in den einzelnen Ländern unterschiedlich hoch. Im Falle Indonesiens scheint es überdurchschnittlich groß, was beweist, wie wichtig angemessenes politisches Krisenmanagement nach Ausbruch der Krise war, unabhängig von der Frage, welche Ursachen ausschlaggebend für den Ausbruch selbst gewesen sind. Aus welchen interessenpolitischen Gründen auch immer: In Indonesien fand bis zum erzwungenen Rücktritt Präsident Suhartos nahezu ein Jahr lang keine krisendämpfende Politik statt, ein wahrscheinlich folgenschwerer Unterschied zu Ländern wie Korea, Thailand oder den Philippinen.

Es ist also durchaus vorstellbar, daß sich die Krise für die Länder mit konsequentem politischen Reformmanagement im Nachhinein als Glück im Unglück erweist. Wenn das so sein sollte, dann stellt sich im Umkehrschluß mit besonderer Dringlichkeit die Frage nach der Entwicklungszukunft der Länder, die gegen die Krise bisher nicht konstruktiv vorgegangen sind. Das sind vor allem Vietnam und Malaysia, die mit unterschiedlichen ordnungs-, geld- und währungspolitischen Kontrollen den akuten Krisenausbruch verhindert haben und dafür den Preis einer schleichenden Krise zahlen. Noch einmal: Beide Länder sind zu Beginn der großen Krisenverwerfungen in der Region nicht unter einen unkontrollierbaren direkten Druck geraten. Die internationalen Schuldendienstverpflichtungen waren maßvoll und der Anteil riskanten kurzfristigen Kapitals an den Gesamtzuflüssen relativ klein. Außerdem war (und ist) die nationale Währung im Falle Vietnams nicht den Unwägbarkeiten eines freien internationalen Währungsverkehrs ausgesetzt, was spekulative Bewegungen weitgehend verhindert hat.

Dennoch hat sich eine selbst für Außenstehende erkennbare Krisenbesorgnis in beiden Ländern verbreitet, und das ist alles andere als überraschend. Die grundlegenden Ordnungsschwächen der Industriewirtschaften (Stichwort: Verlust produzierende Staats- bzw. Quasistaatsbetriebe) und mehr noch die Schieflage im Bankwesen beider Länder, das unter Bedingungen einer regulären Marktwirtschaft insolvent wäre, veranschaulichen nachdrücklich, daß die grundlegenden wirtschaftlich-strukturellen Verwerfungen mindestens genauso tiefgreifend sind wie in den Ländern, in denen die Krise zum offenen Ausbruch kam. Malaysia und Vietnam sind insofern in einer privilegierten Position (gewesen), als sie Zeit zur reformpolitischen Anpassung gewonnen haben, aber sie hat diese Zeit bisher nicht wirklich genutzt. Es besteht also durchaus Anlaß zur Sorge, daß beide noch von einer spezifischen Version der Asienkrise eingeholt werden. Die klare Abschwächung der außen- und binnenwirtschaftlichen Dynamik im Verlaufe des Jahres 1998 hat solche Ängste innerhalb der politischen und wirtschaftlichen Führungsgremien mit Sicherheit nicht geringer werden lassen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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