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Die Experten und ihr Streit der "Schulen"

Im Herbst 1993 stellte die Weltbank der westlichen wie asiatischen Öffentlichkeit ihre aufsehenerregende Standardstudie zum sogenannten "East Asian Miracle" vor, eine Untersuchung zum "wundersam neuen Wohlstand" im pazifisch-asiatischen Raum. Die Botschaft war klar und konnte nach der demonstrativen Überzeugung der beteiligten Experten nur von Unwissenden angezweifelt werden: Acht ostasiatische Länder - darunter mit Singapur, Malaysia, Thailand und Indonesien vier südostasiatische Gemeinwesen - seien im Verlaufe einer historisch beispiellosen Erfolgsgeschichte ins Zentrum des globalen Wirtschaftsgeschehens vorgestoßen und hätten in Ostasien die dynamischste Schlüsselregion der Weltwirtschaft nahezu wortwörtlich aus dem Boden gestampft. John Page, der Leiter des Forschungsteams, überraschte mit der plakativen Aussage, eigentlich gebe es gar kein Wunder oder Erfolgsgeheimnis. Es sei vielmehr so, daß die Menschen in diesen Wirtschaftsgesellschaften stärker gelernt, härter gearbeitet und mehr gespart hätten als die Menschen in anderen Teilen der Welt. So viel zur suggestiven Kraft des Euphorischen, wie wir im Nachhinein wissen!

Mitte 1997 ereignete sich dann der große Umschwung. Nach zehn langen Boom-Jahren erlebten die meisten der "Wunderwirtschaften" eine ebenso unerwartete wie harte Landung. Die allgemeine "Asienbegeisterung" schlug in ihr Gegenteil um, in ein Klima zunehmend ungehemmter Polemik und Kritik. Mit leichtem Sarkasmus: Seither boomt an den vormals "goldenen Gestaden des Pazifik" im Bewußtsein der Welt und in der Realität der betroffenen Länder vornehmlich die Krise. Die berühmte Dynamik der Region hat sich in fataler Weise als "richtungsoffen" erwiesen. Wichtiger jedoch mit Blick auf die Zukunft: Im Verlaufe dieser letzten beiden Jahre - seit Beginn der ebenso plötzlichen wie unerwarteten finanz- und industriewirtschaftlichen Eruptionen - haben sich Betroffene und außenstehende Beobachter immer wieder - mehr oder weniger ratlos - gefragt, wie es ausgerechnet in der Weltwirtschaftsregion, deren hohe Dynamik (Hochwachstum plus Strukturwandel) ebenso bewundert wie gefürchtet wurde, zu einem derartig katastrophalen Erdrutsch kommen konnte. Wie konnten so überlegene Volkswirtschaften in eine solche Zwangslage geraten? Es dauerte einige Zeit, bis die ersten Kritiker einen Ausweg fanden und die Frage umformulierten: Wenn diese Volkswirtschaften in eine solche Misere geraten konnten, steht es dann nicht zu vermuten, daß sie gar nicht so überlegen waren, wie immer wieder und geradezu stereotyp verkündet wurde?

Die Frage ist bis heute nicht beantwortet, jedenfalls nicht in einer Weise, die allgemein überzeugend wirkt. Eine stattliche Anzahl von Beobachtern macht in erster Linie ein eklatantes Versagen der Ordnungspolitik in den betroffenen Ländern für den Ausbruch der Krise(n) verantwortlich. Stichwort: Bad governance! Eine ebenso stattliche Riege anderer Beobachter hat sich darauf verlegt, ein Versagen der Finanzmärkte, teilweise sogar deren prinzipielle Störanfälligkeit zu beklagen. Dem theoretischen neoliberalen Einwand, Märkte könnten per Definition nicht versagen, begegnen diese Beobachter mit dem angesichts der internationalen Finanzturbulenzen einleuchtenden Argument, die Märkte seien zumindest in der globalen Praxis so unübersichtlich, daß selbst die kompetentesten Akteure augenscheinlich nicht immer in der Lage sind, die notwendigen Signale erfolgversprechend zu entschlüsseln. Wiederum andere gehen noch weiter und bestreiten dem neoliberalen Theorem jegliche Plausibilität. Zur Überraschung des Autors war der weltweit bekannte Hedge-Fond-Manager George Soros einer der ersten, der sich dieser Sichtweise verschrieb. Ende 1998 schließlich übte er scharfe Kritik an der "Ordnungslosigkeit" der internationalen Finanzwelt, deren vorherrschende Anschauungen er als realitätsfremden market fundamentalism einstufte:

"We tend to idealize the market as something that can take care of everything. And just as Marx claimed communism was based on a scientific theory. Market fundamentalism relies on an allegedly scientific economic theory. Basically, I think it was Ronald Reagan and Margaret Thatcher who were the main movers in adopting a vulgarized version of laisser-faire economics, turning it into a kind of fundamentalist position... But financial markets deal with quantities that are not only largely unknown but unknowable. They discount a future which is contingent on how the financial markets assess it at present. The appropriate concept, in my view, is reflexivity, not equilibrium. Reflexive processes are not just unpredictable, they are genuinely indeterminate because the outcomes depend on the predictions that investors have made." (George Soros: The International Crisis: An Interview, 14. Januar 1999)

Welcher der unterschiedlichen Erklärungsrichtungen man im eigenen Urteil auch folgen will: Die Asienkrise(n) in der Einzahl oder Mehrzahl, beide Sichtweisen sind je nach Bezugsebene gerechtfertigt, hält (halten) bereits wesentlich länger an, als die meisten Beobachter an ihrem Beginn im Juli 1997 prognostiziert hatten - genauer: nach ihrem offenen Ausbruch, denn die verborgenen Anfänge reichen, wie wir heute wissen, mindestens bis 1994 zurück. Damals sprachen die "Optimisten" von drei bis sechs Monaten, die "Pessimisten" von ein bis zwei Jahren. In der Zwischenzeit gibt es skeptische Fachleute, die sogar ein "verlorenes Jahrzehnt" à la Lateinamerika nicht mehr grundsätzlich ausschließen wollen. Auf jeden Fall sollte das mögliche Ende der akuten Krise(n) nicht mit den Bedingungen der nachfolgenden volkswirtschaftlichen Erholungsphase gleichgesetzt werden.

Selbst diejenigen, die - wie der Autor - weiterhin davon ausgehen, daß die meisten südostasiatischen Entwicklungsordnungen in ihrer Leistungsfähigkeit zwar erheblich beeinträchtigt, aber bei weitem nicht endgültig kollabiert sind, haben sich darauf eingerichtet, daß sich die notwendigen "Reparatur- und Sanierungsphasen" durchaus über die Jahrhundertwende hinaus hinziehen können und erst danach eine wirkliche Erholung einsetzt.

Mit anderen Worten: Die destruktiven Dimensionen der Krise(n) sind nicht nur von der Legion der Bewunderer des East Asian Miracle, sondern selbst von langjährigen Asienkennern eindeutig unterschätzt worden. Mehr noch: Warum das so war, läßt sich immer noch nicht wirklich und allgemein überzeugend erklären. Handelt es sich in Ostasien vielleicht gar nicht mehr um eine Krisenphase im Sinne eines Ausnahmezustandes, sondern um eine "neue Normalität" nach der Krise? Nicht sehr wahrscheinlich, aber nicht kategorisch zu verneinen! Wir wissen es nicht. Niemand hat das so klar und offen eingestanden wie der urteilsfreudige amerikanische Ökonom Paul Krugman, der Ende 1994 mit einem seiner brillanten Zeitschriftenbeiträge "The Myth of Asia's Miracle" (Foreign Affairs, November/December 1994) weltweites Aufsehen erregt hatte: "One thing I did not do, however, was predict the current crisis. In fact, I went out of my way to avoidpreicting any imminent crisis... what I thought I saw coming was nothing like the catastrophe that materialized... So what is going to happen to Asia now? Let me let you in on a secret: I don’t really know... But what isn’t a secret, of course, is that nobody really knows what comes next.... Anyone who claims to fully understand the economic disaster that has overtaken Asia proves, by that very certainty, that he doesn’t know what he is talking about... The truth is that we have never seen anything quite like this." (Paul Krugman: Will Asia bounce back?, Internetpage: http://web.mit.edu/krugman/www.suisse.html)

Diese allgemeine Ungewißheit, um nicht zu sagen Ratlosigkeit, ist nicht eben befriedigend, aber letzten Endes wohl nicht zu vermeiden. Sie zeigt die Grenzen jeglicher Prognostik auf, eine Tatsache, die schon den amerikanischen Schriftsteller Mark Twain zu dem Bonmot veranlaßt hatte, Prognosen seien immer schwierig, insbesondere jene zur Zukunft. Es scheint in der Tat das komplexe Zusammenwirken und das ebenso unentwirrbare Gegeneinander zahlreicher Faktoren unterschiedlicher Dimensionen gewesen zu sein, die diesen gewaltigen Störfall in der jüngsten Entwicklungsgeschichte ausgelöst haben - in der Terminologie der Nuklearfachleute einen GAU, der sich letzten Endes jenseits des prognostisch-analytischen Vermögens aller Beteiligten und Beobachter vollzog. Denn läßt man die internationale Krisenberichterstattung der letzten zwei Jahre - unter Einschluß der zahlreichen wissenschaftlichen Beiträge - Revue passieren, herrscht der bedauerliche Eindruck eines fieberhaften "Diagnose- und Rezeptechaos" vor. In gewisser Weise erinnern alle diese Analysen an eine bekannte déformation professionelle von Generälen, die es danach verlangt, immer wieder den letzten Krieg durchzuspielen, obgleich sie doch wissen (müßten), daß sich die typischen Konstellationen dieses Krieges im nächsten Krieg, so er denn kommen sollte, mit Sicherheit nicht wiederholen werden. Wenden wir uns deshalb zuerst der "Zukunft", d.h. der Welt der Prognosen, zu.

Ende 1998 spiegelten die gesamtwirtschaftlichen Wachstumsprognosen (bezogen auf das BIP) verschiedener internationaler Organisationen (z.B. Asiatische Entwicklungsbank, Weltbank, Internationaler Währungsfonds) und führender westlicher wie japanischer Finanzinstitute für das Jahr 1999 die nach und nach gewachsene Ernüchterung der beteiligten Analysten wider. Mit anderen Worten: Die Prognosen folgten den realen Abwärtstendenzen in der ostasiatischen Großregion. Für Japan lagen die geschätzten Größenangaben bei -0,3% bis -2,5%, und für Südostasien divergierten die Schätzungen ähnlich stark: Vietnam 3,0% bis 6,5%, Thailand -2,4 bis 5,2%, Singapur -2,0% bis 1,0%, Malaysia -2,9% bis 1,0%, Indonesien -3,0% bis -6,0%, Philippinen 0,3% bis 1,0%. (Asia Bridge. Das Informationsforum für das deutsche Asiengeschäft , 12. Januar 1999) Nur kurze Zeit später entdeckten die Analysten des Internationalen Währungsfonds (IWF) und einzelner ostasiatischer Zentralbanken wieder ihren Hang zum Optimismus, wenn auch aus Gründen, die dem Autor verborgen geblieben sind. So heißt es, Thailand befinde sich wieder im "Aufwind der Prognosen". Uneins sind sich die Beobachter weiterhin hinsichtlich der Entwicklungen in Malaysia und Vietnam, während sie in Indonesien mehrheitlich noch kein Licht am Ende des Krisentunnels sehen.

Undank ist der Welt Lohn! Der Autor möchte ganz ungeniert daran erinnern, daß alle diese Autoritäten, seien es Standard and Poor's, Moody's oder irgendeine andere Institution, bis einen Tag nach Ausbruch der Krise vor der Öffentlichkeit geschickt jeglichen Zweifel an den miracle economies verborgen hatten. Danach verfielen sie - gleichsam im Pendelschlag - in Panikreaktionen und stuften die Krisenländer eilends auf den sogenannten "junk status" herab, was die Financial Times zu dem resignativen Kommentar veranlaßte, es sei ja nicht das erste Mal, daß diese "meinungsmachenden" Institute half-baked judgments produziert hätten. Auch die großen internationalen Börsen-Gurus bewegten sich noch Tage vor Ausbruch der Krise(n) im Reich der Ahnungslosigkeit.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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