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Langfristige kritische Faktoren

In langfristiger Perspektive als kritisch anzusehen sind die Struktur der Auslandsverschuldung, die Verfügbarkeit der natürlichen Ressourcen, die Rohstofflastigkeit der Exporte, die Bevölkerungsentwicklung, die Nutzung des intellektuellen Potentials und die Kapazität des politischen Systems, den erforderlichen Konsens zu fördern und durch die Verfassung legitimierte Entscheidungen zu realisieren. Spezifische Engpässe ergeben sich aus einem abnehmenden Bevölkerungspotential, aus Schäden an Infrastruktur und Umwelt, aus der Vernachlässigung der realwirtschaftlichen Erneuerung in Industrie, Landwirtschaft und Transportsystem (abzulesen an fehlenden bzw. fehlgeleiteten Investitionen) und einem konzeptionellen Defizit bei der Förderung von Forschung und Entwicklung.

Im Rückblick auf die ersten Jahre der Transformation Rußlands wird deutlich, daß insbesondere der Faktor der governance die entscheidende Begrenzung für die Entwicklung des Landes geworden ist. Kompetenz und Integrität der Akteure waren und sind vor allem im öffentlichen Sektor und in der Politik nicht garantiert, der generelle und deshalb auch schwer widerlegbare Korruptionsverdacht wirkt sich auf alle Bereiche der russischen Wirtschaft und Gesellschaft lähmend aus. In diesem Zusammenhang sind auch die aus sowjetischer und vorsowjetischer Zeit stammenden Leitbilder und Verhaltensweisen relevant:

Die auch nach der Bauernbefreiung von 1861 sanktionierte Kollektivität der „Obschtschina" mit ihrer Umverteilung des Bodens erleichterte Stalin die Kollektivierung, sie erklärt aber auch die bis heute ungelösten Probleme bei der Reform des Bodenrechts.

Ein traditioneller Paternalismus erklärt das verbreitete rent seeking, d.h. das Bestreben der Manager im heutigen Rußland, alles zu tun, um durch Subventionen im Zusammenspiel mit den Spitzen der regionalen Politik und Verwaltung die Schließung unrentabler Betriebe zu vermeiden. Die ebenfalls traditionelle Vorstellung vom unerschöpflichen Reichtum Rußlands wird nur bedingt durch die tatsächliche wirtschaftliche Nutzbarkeit der Bodenschätze gedeckt. Sie läßt sich aber in jedem Fall als Motiv für einerseits beispiellosen Raubbau im Umgang mit der Natur, andererseits systematische Unterschätzung der Bedeutung technologieintensiver Industrieexporte interpretieren.

Das Verständnis für wirtschaftliche Innovation als sozialen Prozeß, für die Bedeutung schöpferischer Zerstörung und die Rolle des Pionierunternehmers ist unterentwickelt (bezeichnenderweise fehlt in der russischen Wirtschaftsgeschichte die für die Industrialisierung Westeuropas und der USA entscheidende Figur des Erfinders/Unternehmers vom Typ eines Siemens, Krupp oder Edison).

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Gesamtwirtschaftliches Wachstum

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Rußlands im Zeitraum 2000 bis 2010 wird in hohem Maße von den dann existierenden reformpolitischen Rahmenbedingungen abhängen. Jedoch muß unter Berücksichtigung der 1999 bestehenden realwirtschaftlichen Ausgangslage und der oben beschriebenen Faktoren von einem begrenzten Spielraum für das künftige Wachstum ausgegangen werden. Realistischerweise kann als Maximum für den Zehnjahreszeitraum bis 2010 nicht mehr als eine durchschnittliche Zunahme des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Höhe von vier Prozent erwartet werden. Eine Nahezu-Stagnation mit einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von einem Prozent pro Jahr dürfte die Untergrenze der Entwicklung markieren (Grafik 2).

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Von ausschlaggebender Bedeutung für das langfristige Wachstum sind neben der innenpolitischen Konsolidierung die Schuldenregulierung und die möglichen Deviseneinnahmen auf den internationalen Energiemärkten. Hier kann angesichts der langfristig wachsenden Bedeutung alternativer Energien und energiesparender Technologien die (finanzpolitisch dringend notwendige) Steigerung der Energiepreise keineswegs als gesichert gelten. Die Außenwirtschaft bleibt damit auf absehbare Zeit verwundbar für weltwirtschaftliche Turbulenzen.

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Verschuldung

Eine Modellrechnung kann auch die langfristigen Aussichten im Bereich der Staatsfinanzen verdeutlichen: In der Zahlungsbilanz sind rund 19 Milliarden US-Dollar für den reibungslosen Schuldendienst (ohne sonstige Tilgung) anzusetzen. Um die Finanzierung zu sichern, müssen sich die Nettokapitalimporte in den Jahren 2002 bis 2010 auf einen Stand von ca. 15 Milliarden US-Dollar stabilisieren, wobei von einem anhaltend positiven Leistungsbilanzsaldo von etwa drei bis vier Milliarden US-Dollar ausgegangen wird. Unterstellt man eine fortgesetzte Kapitalflucht (einschließlich des weit verbreiteten Dollarhortens in bar) von ca. sechs Milliarden US-Dollar und konstante Devisenreserven, so sind stetig fließende ausländische Direkt- und Portfolioinvestitionen in Höhe von mindestens 22 Milliarden US-Dollar pro Jahr allein für die Finanzierung des Schuldendienstes erforderlich.

Im erfolgreichsten Jahr der bisherigen Transformationsbemühungen (1997) erreichten die Direkt- und Portfolioinvestitionen rund 12 Milliarden US-Dollar. Die Kapitalimporte liegen wegen der politischen Unsicherheit unter diesem Volumen, so daß mit einer Finanzierungslücke von etwa 10 Milliarden US-Dollar gerechnet werden muß - ein für Rußland enormer Betrag (zum Wechselkurs vom Januar 1999 sieben bis acht Prozent des BIP). Westlichen Gläubigern dürften angesichts ihrer Erfahrungen nach dem Rubelcrash nicht leicht zu bewegen sein, das Finanzierungspassivum in den kommenden Jahren zu verringern. Selbst im günstigsten Fall der Aussetzung von Tilgungszahlungen bis 2010 ist die faktische Zahlungsunfähigkeit Rußlands vorprogrammiert, wie die Darstellung der geschätzten Entwicklung zeigt (Grafik 3).

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Natürliche Ressourcen

Im Ressourcenreichtum Rußlands liegen nach wie vor Chancen für die nachholende gesamtwirtschaftliche Entwicklung des Landes, insbesondere bei Selbstversorgung und Export. Seit Auflösung der Sowjetunion wurde dieses Potential jedoch nur unzureichend genutzt. Seit 1992 wurde zwar ein beträchtlicher Exportüberschuß erwirtschaftet, wie bereits zu Zeiten der Sowjetunion stammten zwei Drittel der Einnahmen aus dem Export von Roh- und Grundstoffexporten. Ein großer Teil der auf rund 250 Milliarden US-Dollar geschätzten illegalen Kapitaltransfers kommt freilich aus diesem Sektor. Gleichzeitig wurden die Erhaltung und Modernisierung der Anlagen und die Erschließung neuer Vorkommen (auch über Auslandsinvestitionen) vernachlässigt.

Zwar verfügt Rußland unter Berücksichtigung noch unerschlossener Reserven über das größte Potential an Naturressourcen in der Welt, doch nimmt es beim Förderumfang außer bei Erdgas (570 Milliarden m3) keine Spitzenplätze ein. Bei Erdöl steht es mit 300 Millionen Tonnen an zweiter Stelle hinter den USA (370), bei Steinkohle mit 160 Millionen Tonnen hinter China (1400), den USA (880) sowie Indien (300) an vierter Stelle. Die Goldförderung beträgt 100 Tonnen und ist damit geringer als die der USA (300) sowie Chinas (150).

Innerhalb des Rohstoffsektors nimmt die Energieproduktion eine besondere Rolle ein. Mit Energieexporten wurden 1998 fast doppelt so viel Exporteinnahmen erzielt wie mit allen anderen Rohstoffen zusammen (im 1. Halbjahr 1998 erbrachten Energieexporte 13,7 Milliarden US-Dollar, andere Rohstoffe ca. 7,5 Milliarden US-Dollar). Unter den nichtenergetischen Roh- bzw. Grundstoffen sind Eisenmetalle, Aluminium, Diamanten und Gold die wichtigsten Exportprodukte, aber auch Kupfer, Nickel, Platin, Palladium brachten zusammen zwischen zwei und drei Milliarden US-Dollar pro Jahr ein. Schließlich trägt Holz mit knapp einer Milliarde US-Dollar zur Exportbilanz bei.

Bei fast allen Rohstoffen war in den 90er Jahren ein Produktionsrückgang zu verzeichnen. Dabei fiel der Rückgang der Investitionen seit Beginn der Dekade wesentlich höher aus als der der Gesamtwirtschaft Rußlands. Im Energiesektor wird eine Umkehr des Produktionsrückgangs entsprechend den „Richtlinien zur Energieversorgung bis zum Jahr 2010" (vgl. Tabelle 4) angestrebt. In den besonders investitionsintensiven Branchen wie der Rohstofferschließung ist jedoch auf lange Zeit nicht an eine Rückkehr zu hohen Wachstumsraten zu denken.

Tabelle 4: Energieproduktion Rußlands 1990 - 2010


1990

1997

1998

2010

Erdöl (Mio. t)

516

306

304

370-400

Erdgas (Mrd. m3)

641

544


700-900

Kohle (Mio. t)

395

225


350-380

Im Erdgassektor liegen über 90 Prozent der Produktion und des Transports und 100 Prozent des Exports in Händen des Energiegiganten Gazprom. Damit ist Gazprom das weltweit größte Erdgasunternehmen. Die Privatisierung beließ zunächst 40 Prozent der Anteile in staatlicher Hand. 51 Prozent wurden auf Privatpersonen, Mitarbeiter und regionale Energieunternehmen aufgeteilt. Maximal neun Prozent sollten ausgewählten ausländischen Investoren offenstehen. Inzwischen hat die Regierung angekündigt, sich von fünf Prozent ihrer Anteile zu trennen. Die Hälfte davon wurde im Dezember 1998 für 650 Millionen US-Dollar von Ruhrgas übernommen.

Anders als der Erdgassektor und der Öltransport ist die Ölproduktion weitergehend privatisiert, und es wurden wichtige Schritte in Richtung Demonopolisierung eingeleitet. Vorwiegend nach regionalen Gesichtspunkten wurde die Entflechtung des staatlichen Monopols vorgenommen. Dies führt zwar dazu, daß nach wie vor regional überwiegend Produktionsmonopole bestehen, doch baut sich bei Neuausschreibungen zunehmend ein Wettbewerb zwischen diesen ursprünglich auf Regionen fixierten Unternehmen auf.

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Landwirtschaft und Umwelt

Mit seinen 220 Millionen Hektar landwirtschaftlich nutzbarer Fläche (1,5 ha/Kopf) verfügt Rußland über Bodenressourcen, die eine extensive Nutzung begünstigen. Die fruchtbarsten Flächen liegen in der zentralen Schwarzerderegion, im Nordkaukasus, im Südural sowie in Südsibirien. In den anderen Gebieten ist die Fruchtbarkeit gering; durchschnittlich alle drei Jahre beeinträchtigen Dürrejahre die Erzeugung. Große Bodenflächen sind durch Wind- und Wassererosion verloren, die Konservierungs-maßnahmen reichen bei weitem nicht aus.

Die landwirtschaftliche Produktion ging bei den meisten Produkten seit Anfang der neunziger Jahre um ein Drittel zurück, dagegen verminderte sich die Beschäftigtenzahl in diesem Sektor nur von zehn Millionen auf neun Millionen Personen. Der Anteil der Landwirtschaft am BIP sank um mehr als die Hälfte von 15 Prozent (1990) auf 6,5 Prozent (1997), während der Anteil der landwirtschaftlichen Beschäftigten mit 13 Prozent bis 14 Prozent konstant blieb. [ Zahlenangaben werden in sinnvoller Weise gerundet angegeben, um jeden Eindruck einer durch die Datenlage nicht gerechtfertigten Exaktheit zu vermeiden. Bei internationalen Vergleichen müssen wegen der nur verzögerten Verfügbarkeit entsprechender Daten Werte aus den Jahren 1995/1996 angegeben werden.]
Dies impliziert eine starke Abnahme der Arbeitsproduktivität bzw. eine hohe Unterbeschäftigung, d.h. die Landwirtschaft wurde zu einem der Auffangbecken für eine hohe versteckte Arbeitslosigkeit.

Während die Produktion der landwirtschaftlichen Großbetriebe in den neunziger Jahren erheblich abnahm, konnten die aus der Sowjetzeit überkommenen privaten Nebenwirtschaften der Bevölkerung ihren Produktionsanteil auf die Hälfte der gesamten landwirtschaftlichen Produktion ausweiten, wobei auch Spezialisierung auf höherwertige Erzeugnisse zu Buche schlug. Der Produktionsanteil der neugegründeten Bauernhöfe verharrte dagegen bei zwei Prozent. Die ehemals staatlichen landwirtschaftlichen Großbetriebe (Kolchosen, Sowchosen) wurden zwar überwiegend privatrechtlich umregistriert, behielten aber zu 90 Prozent die gewohnten Formen der Arbeitsorganisation bei. Grund und Boden (zu 62 Prozent in privater Verfügung) sowie das sonstige Anlagevermögen gehören formal zwar den Anteilseignern der Gesellschaften, liegen aber praktisch in Händen der Betriebsleitungen. Gewinne werden nicht ausgeschüttet, die Bezahlung erfolgt nach der Arbeitsleistung.

Die Bilanz industriell bedingter Verunreinigungen der Umwelt in den neunziger Jahren erscheint nur auf den ersten Blick positiv: Das Volumen ungereinigter Abwässer ging zwischen 1992 und 1996 von 27,1 auf 22,4 Milliarden m3 und das Gewicht schädlicher Luftemissionen von 28,2 auf 20,2 Millionen Tonnen zurück. Dabei erhöhte sich jedoch die Schadstoffmenge pro Produktionseinheit, und die Zahl der Betriebe mit einem jährlichen Schadstoffausstoß von über 100 Tonnen ging nicht zurück. Daß sich die Betriebsleitungen kaum um die Umweltproblematik kümmern, spiegelt die allgemeinen finanziellen Engpässe, ist aber auch darauf zurückzuführen, daß es aus der Sicht der Unternehmensleitungen meist günstiger ist, Geldstrafen für die Nichteinhaltung ökologischer Vorschriften zu zahlen, als umweltentlastende Investitionen zu tätigen, die zudem besteuert werden.

Aus dieser Konstellation resultiert unter anderem, daß das von 70 Prozent der Bevölkerung genutzte Wasser nicht den jeweiligen sanitären Normen entspricht und daß die Luftbelastung in über 200 Städten (mit ca. 60 Millionen Einwohnern) die zulässigen Grenzwerte überschreitet. Von etwa 20 ausgewählten Komponenten der Luftverschmutzung sind jeweils mehrere Millionen Menschen betroffen, was sich für viele als nachhaltige Schädigung der Gesundheit auswirkt. Werden alle Wasser- und Luftverunreinigungen auf die Kopfzahl der Bevölkerung umgerechnet, so ergibt sich für die erste Hälfte der neunziger gegenüber der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ein doppelt so hoher Wert bei den Wasser- und ein halbierter Wert bei den Luftschadstoffen.

Überaus problematisch für bestimmte Gegenden Rußlands (und oft auch für angrenzende Staaten) sind Belastungen der Umwelt, die sich aus der Nutzung und Entsorgung von Anlagen für die Produktion nuklearer, bakteriologischer und chemischer Waffen ergeben. Nach einer Anfang der neunziger Jahre offensichtlich zunehmenden Diskussion des Problems und der Datenlage deuten erneute Fälle öffentlicher Einschüchterung von Umweltaktivisten (A. Nikitin und G. Pasko) und die neuerliche Abkapselung „geschlossener Städte" auf eine erhöhte Sensibilität industrieller und militärischer Interessengruppen hin. Im „zivilen Sektor" bemüht sich die Atom-Lobby, trotz Tschernobyl und weiterer schwerer Störfälle, seit Mitte der neunziger Jahre verstärkt um den Ausbau der Atomenergie. Rußland wird darüber hinaus als ein künftiger Hauptabnehmer für die Aufbereitung, Zwischen- und Endlagerung nuklearer Abfälle aus anderen Ländern präsentiert. In der für das Ausland bestimmten Argumentation der Befürworter dieser Konzeption wird auf den dadurch möglichen Beitrag Rußlands zur Verhinderung des Mißbrauchs von Nuklearmaterial durch dritte Staaten hingewiesen. Die Duma ist allerdings bisher nicht bereit, der erforderlichen Änderung des Gesetzes „Über den Umweltschutz" zuzustimmen. Nach dem „Programm der Entwicklung der Kernenergie Rußlands" vom 21. Juli 1998 sollen die Betriebsdauer der produzierenden Energieblöcke verlängert und 18 neue ans Netz gehen. Das unbedingte Festhalten an der Kernenergie wird auch damit begründet, daß es sich um eine der wenigen konkurrenzfähigen Technologien Rußlands im internationalen Wettbewerb handele, auf deren Basis besonders wichtige Außenwirtschaftsverträge abgeschlossen würden.

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Bevölkerungsentwicklung und Gesundheit

Für das humane Potential des Landes ist bezeichnend, daß die Lebenserwartung der russischen Männer rund 10 Jahre niedriger ist als die männlicher Mitteleuropäer. Mit 62 Jahren liegt sie auf dem Niveau von Brasilien und Indien. Letztmalig hatte sich 1991 für Rußland eine natürliche Bevölkerungszunahme ergeben. Der danach einsetzende Bevölkerungsrückgang erreichte 1994 seinen Maximalwert (870.000) und hat sich in den folgenden Jahren bei etwa 800.000 eingependelt. Inzwischen gehen russische Fachleute davon aus, daß die extrem ungünstigen demographischen Entwicklungen - insbesondere die niedrige Lebenserwartung - seit Mitte der neunziger Jahre durch positivere Trends aufgefangen wurden. Vom Rückgang der Lebenserwartung waren in erster Linie Männer im arbeitsfähigen Alter betroffen, bei denen eine starke Zunahme „externer Ursachen" (Mord, Selbstmord, Vergiftung, Unfall) verzeichnet wurde. Der Rückgang der Geburtenquoten ist im wesentlichen auf die geringere Zahl von Frauen im gebärfähigen Alter und das zunehmende Alter der Erstgebärenden zurückzuführen.

Spezifisch russische Probleme sind die unverändert hohe Zahl legaler und illegaler Abtreibungen sowie die hohe Müttersterblichkeit. Die offiziell registrierten Abtreibungen sind zwar zwischen 1991 und 1996 von 3,6 auf 2,6 Millionen zurückgegangen, doch kommen unverändert auf 100 Geburten mehr als 200 Abtreibungen. Die Müttersterblichkeit liegt fünf- bis zehnmal höher als in Industrieländern und steigt weiter an. Diese Konstellationen sind auf traditionelle Einstellungen in der Bevölkerung und eine völlig unterentwickelte Familienplanung zurückzuführen.

Aufgrund der Geburtenentwicklung der letzten Jahre gehen russische Experten von einer Zunahme der Zahl der Kinder im Vorschulalter sowie der Gruppen der Wehrpflichtigen und der Menschen im arbeitsfähigen Alter aus, während die Zahl der Schüler zurückgehen wird. Von russischer Seite und von internationalen Organisationen liegen zahlreiche - stark voneinander abweichende - Prognosen der in den nächsten Jahrzehnten zu erwartenden Bevölkerungsentwicklung vor. Auffallend ist, daß diese von Jahr zu Jahr bescheidener ausgefallen sind:

Die 1991 eingetretene und bis heute anhaltende „Gesundheitskrise" wird mitunter in die Reihe historischer Krisen in den Jahren 1914-1923, 1932-1934 und 1941-1947 gestellt. Insbesondere die Zunahme „sozialer Krankheiten" (Tuberkulose, Diphterie, Typhus, Syphilis) wird auf verschlechterte Lebensbedingungen zurückgeführt. Umweltfaktoren und die Effizienz des Gesundheitswesens spielen bei derartigen Trendänderungen nach allgemeiner Auffassung (WHO) eine eher untergeordnete Rolle. Tuberkulose ist bei den Einheimischen Sibiriens, bei Flüchtlingen und Gefängnisinsassen besonders stark verbreitet - die Erkrankungsquote der letzten Gruppe übertrifft den russischen Durchschnitt um das Vierzigfache. Ein ähnlich hohes Zuwachstempo liegt auch bei den an Syphilis Erkrankten vor. Bei den HIV-Infizierten, von denen vermutlich nur jeder Zehnte erfaßt wird, liegen die Zuwachsraten der letzten Jahre noch höher.

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Das intellektuelle Potential

Im Jahre 1997 betrugen die Ausgaben für F&E noch etwa 25 Prozent des Niveaus von 1989, und dies, obwohl die Ausgaben in den Jahren 1996 und 1997 wieder anstiegen. Damit ist der Prozentsatz der F&E-Ausgaben am Bruttosozialprodukt von 2,03 Prozent im Jahre 1990 auf 0,94 Prozent im Jahre 1997 gefallen (Grafik 4).

Grafik 4: F&E-Ausgaben, 1989-1997 (in Preisen von 1989)

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Da in der Vergangenheit etwa 70 Prozent des F&E Budgets für militärische Forschung aufgewendet wurden, ist der starke Rückgang vor allem auf die Kürzungen der militärischen F&E zurückzuführen. Diese Kürzungen haben bereits seit 1990 eingesetzt und erst in den Jahren 1996 und 1997 sind die Ausgaben wieder leicht angestiegen. Anscheinend sind im Jahre 1997 jedoch lediglich fünf Prozent der im Haushalt festgeschriebenen Ausgaben für militärische F&E auch tatsächlich ausgezahlt worden.

Angesichts leerer Kassen werden alternative Finanzierungsmethoden angedacht. So wurde z.B. im Februar 1998 von den Ministerien für Wirtschaft, Finanzen und Wissenschaft ein venture fund eingerichtet, der Forschungsprojekte fördern soll. Ausländischer Forschungsförderung kommt ein Anteil von etwa sieben bis neun Prozent (1997) der gesamten Finanzierung zu. Der Export von Waffen als Finanzierungsquelle reicht ebenfalls nicht aus. Im Jahr 1998 sanken die Einnahmen im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent, zudem werden Exporterlöse hier nicht immer in bar entrichtet, sondern im Tauschhandel oder zur Schuldenbegleichung verrechnet.

Rußland ist somit nicht in der Lage, umfassende Forschungsarbeiten zu finanzieren; eine fortgesetzte Förderung des militärischen Bereichs wäre unter solchen Umständen der wirtschaftlichen Entwicklung abträglich, da einmal mehr der zivile Sektor vernachlässigt würde. Der staatliche Rückzug aus der Forschungsförderung verlief ungeordnet, ohne Konzeption und ohne klare Prioritäten.

Zu Beginn der Reformen waren im Wissenschaftssektor etwa 1,7 Millionen Menschen beschäftigt. Diese Zahl schließt Forscher, Techniker, Hilfspersonal und andere mit ein. Die Zahl der Beschäftigten in der Militärforschung belief sich auf zwischen 1,1 und 1,3 Millionen Menschen. Diese Zahlen sind im Jahr 1997 auf etwa 930.000 (F&E insgesamt) und 500.000 (militärische F&E) gesunken (Grafik 5).

Grafik 5: Beschäftigte im F&E-Bereich, 1989-1997 (in Tsd.)

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Als besonders negativ ist der brain drain aus der Forschung und Entwicklung und hier die Abwanderung besonders der jüngeren Mitarbeiter zu bewerten. Rußland weist am Ende des 20. Jahrhunderts einen Forschungssektor auf, in welchem 40 Prozent keine Forscher und ausgewiesenen Wissenschaftler mit Hochschulausbildung sind, es überwiegen Techniker, Hilfspersonal und anderen Angestellte.

In relevanten Bereichen der technologischen Entwicklung besitzt Rußland grundsätzlich weiter die intellektuellen Kapazitäten, die internationale Forschung und Entwicklung maßgeblich mitzubestimmen. Allerdings sind diese Forschungsgebiete außerordentlich anwendungsorientiert und verlangen eine enge Kooperation mit den Nachfragern nach den Technologien. Dies ist noch immer die Achillesferse der russischen F&E: Die Notwendigkeit zur Technologiediffusion und die Abkehr vom linearen Modell der Innovation (d.h. die Trennung von Forschung und Produktion) wird nur langsam von den politischen Entscheidungsträgern erkannt. Dem Staat kommt bei der Entwicklung neuer Technologien nach wie vor eine entscheidene Rolle zu, die er aber mangels Finanzierungsmöglichkeiten nicht wahrnehmen kann.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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