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Der Sachstand

Rußland ist mit 17,1 Millionen km2 fast doppelt so groß wie China (9,5), die USA (9,4) oder Brasilien (8,5), liegt aber mit seinen 150 Millionen Einwohnern hinter China (1.200), Indien (960), den USA (270) und Brasilien (160) erst an fünfter Stelle. Dies hängt damit zusammen, daß große Teile seiner Landesfläche aus klimatischen und ökologischen Gründen nur eine geringe Bevölkerungsdichte erlauben.

Gemessen an seiner Bevölkerungszahl und am Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu Kaufkraftparitäten verzeichnet Rußland einen erheblichen Rückstand bei der gesamtwirtschaftlichen Leistung gegenüber anderen weltwirtschaftlichen Akteuren. 1996 stand es nach Berechnung der Weltbank mit einem BIP von 620 Milliarden US-Dollar an elfter Stelle der Weltrangliste hinter den USA (7.600), China (4.000), Japan (2.900), Deutschland (1.700), Indien (1.500), Frankreich (1.250), Großbritannien (1.200), Italien (1.100), Brasilien (1.000) sowie Mexiko (700) (Vgl Tabelle 1). Nach anderen Berechnungen der OECD, die China, Indien, Brasilien und Mexiko niedriger und Rußland höher einstufen, stand es an siebter Stelle (vgl. Grafik 1).

Tabelle 1


Bevölkerung 1997, Millionen

Bruttosozialprodukt 1996 zu Kaukraftkapazitäten



Pro Einwohner ($)

Insgesamt Mrd. $

USA = 100

USA

271

28.020

7.605

100

China

1.221

3.330

4.065

53

Japan

126

23.420

2.942

39

Deutschland

81

21.110

1.710

22

Indien

959

1.580

1.516

20

Frankreich

59

21.510

1.258

17

Großbritannien

59

19.960

1.174

15

Italien

57

19.890

1.138

15

Brasilien

163

6.340

1.033

14

Mexico

94

7.660

722

9

Rußland

148

4.190

618

8


Grafik 1

Undisplayed Graphic

Quelle: Götz (BIOst) 1999

Aufgrund dieser Daten kann Rußland nicht als ökonomische Großmacht angesehen werden; alles in allem gehört es in die Gruppe der wirtschaftlichen Mittelmächte. Das BIP Rußlands betrug im Jahre 1996 36 Prozent des deutschen. Die Verwendung des BIP entsprach ungefähr deutschen Relationen; der Verteidigungsaufwand allerdings lag prozentual doppelt so hoch und betrug 72 Prozent des deutschen Verteidigungsbudgets. Exportiert wurden 32 Prozent des deutschen Volumens, importiert dagegen nur 26 Prozent (Tabelle 2).

In der Berechnung pro Kopf ergeben sich (wegen der fast doppelt so großen Bevölkerungszahl) folgende Verhältnisse: Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner betrug 20 Prozent des deutschen Vergleichswerts, der private Konsum 17 Prozent. Die Anlageinvestitionen machten 19 Prozent aus, der Staatsverbrauch betrug 20 Prozent des deutschen Wertes. Vergleichsweise hoch war der Verteidigungsaufwand pro Kopf mit 40 Prozent der deutschen Relation. Bei Ein- und Ausfuhr ergaben sich 18 Prozent bzw. 14 des deutschen Wertes. Rußlands Verteidigungsaufwand pro Kopf entspricht dem einer Regionalmacht, jedoch längst nicht dem einer Weltmacht, und steht in einem politischen Spannungsverhältnis zu den ausgedehnten Grenzen.

Tabelle 2: Dynamik der russischen Wirtschaft 1992-1998

Veränderung ( Prozent)

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

Bruttoinlandsprodukt

-14,5

-8,7

-12,7

-4,2

-4,9

0,4

-4,6

Industrieproduktion

-18,0

-14,1

-20,9

-3,3

-4,0

1,9

-5,2

Agrarproduktion

-9,0

-4,0

-12,0

-8,0

-5,1

0,1

-9,0

Einzelhandelsumsatz

-3,0

1,9

0,1

-7,0

-2,4

4,7

-4,4

Investitionen

-40,0

-12,0

-24,0

-10,0

-18,1

-5,0

-6,5

1991 = 100

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

Bruttoinlandsprodukt

86

78

68

65

62

62

59

Industrieproduktion

82

70

56

54

52

53

50

Agrarproduktion

91

87

77

71

67

67

61

Einzelhandelsumsatz

97

99

99

92

90

94

90

Investitionen

60

53

40

36

30

28

26

Quelle: Götz (BIOst) 1999

Vorläufige Angaben über die wirtschaftliche Entwicklung des ersten Quartals 1999 deuten auf eine Fortsetzung des Niedergangs mit bis zu sieben Prozent des BIP hin. Mittlerweile ruht bei 57 Prozent aller Investitionsprojekte die Arbeit, die Höchstnutzungsdauer ist bei 40 Prozent der Baumaschinen überschritten. Die Zahl der offen und verdeckt Arbeitslosen erhöhte sich auf 12,1 Millionen, d.h. 16,5 Prozent der aktiven Bevölkerung.

Der anhaltende Produktionsrückgang ist das Ergebnis eines Zusammentreffens mehrerer Faktoren. Hier sind von besonderer Bedeutung die Besonderheiten der aus Sowjetzeiten geerbten und nicht erneuerten Wirtschaftsstruktur (hohe Anteile von Rüstungsproduktion und Rohstoffwirtschaft); kulturelle Traditionen und mentale Einstellungen sowie eine von der Praxis erfolgreicher Transformationsländer erheblich abweichende Reform- und Wirtschaftspolitik.

Das überproportionale Absacken der Investitionen ist ein wesentlicher Grund für den Rückgang des Wirtschaftswachstums. Investitionen können aus drei Quellen gespeist werden: aus Einkommen und Gewinnen, aus Krediten und aus direkten Kapitaltransfers ausländischer Partner. Voraussetzung der Mobilisierung dieser Quellen ist neben der Notwendigkeit eines funktionierenden Geldwesens vor allem Berechenbarkeit in der Wirtschaft. Trotz des anhaltend großen Interesses westlicher Unternehmen an einem Engagement in Rußland (Konsortien, strategische Partnerschaften und Joint Ventures) ist es bisher nicht gelungen, in großem Stil Kapital ins Land zu bringen. Dies liegt weniger an etwa unzureichender Vernetzung als vielmehr an mangelnder Planungssicherheit angesichts der wenig attraktiven rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen. Auch die nach dem Ende des Kalten Kriegs erwartete „Friedensdividende" blieb aus: Die Reduzierung der Rüstungslast und der außenpolitisch motivierten Leistungen an Drittländer führten nicht zu einer Zunahme der Inlandsinvestitionen. Es kam nur geringfügig zum Neuaufbau eines marktwirtschaftlich orientierten zivilen Produktionspotentials und der entsprechenden Infrastruktur.

Die ausgeprägte Bereicherungsmentalität und mangelndes Interesse der politischen Eliten an der Erneuerung des Landes schufen gleichzeitig die Grundlagen für eine sich verstärkende Kriminalisierung in Politik und Wirtschaft. Hieran hat sich, nicht zuletzt als Ergebnis der vom Präsidenten zu verantwortenden innenpolitischen Turbulenzen, auch 1999 nichts geändert.

Im Vergleich zur Sowjetzeit sind die Einnahmen des Gesamtstaates (d.h. der Föderation, der Regionen sowie der Sozialversicherung) massiv zurückgegangen: von über 50 Prozent des BIP 1991 auf unter 30 Prozent 1998. Allerdings bleibt die Steuer- und Abgabenquote mit knapp einem Drittel des BIP im internationalen Rahmen; Länder mit ähnlichem Entwicklungsstand weisen sogar niedrigere Werte auf. Unzulänglich ist - typisch für eine Reihe von Entwicklungs- und Schwellenländern - die Besteuerung der individuellen Einkommen. Zugleich lagen seit Transformationsbeginn die Ausgaben über den Einnahmen und sorgten für hohe Kassendefizite (im Durchschnitt der 90er Jahre um sieben Prozent des BIP).

Ursache ist das Mißverhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben aufgrund struktureller Verwerfungen in der Wirtschaft und einer verfehlten Steuerpolitik. Im konsolidierten Haushalt 1998 waren bis zu 18 Prozent der Ausgaben für Subventionen und Förderung vorgesehen, etwa sechs Prozent des BIP, im Durchschnitt der 90er Jahre sogar sieben Prozent und mehr. Rein rechnerisch folgt daraus, daß die Budgetdefizite gänzlich für die Finanzierung der Budgetsubventionen für marktwirtschaftlich nicht lebensfähige Produktions-strukturen eingesetzt wurden.

Vor dem Hintergrund einer Halbierung der gesamtwirtschaftlichen Produktion hat sich die externe Schuld seit 1990 mehr als verdoppelt. Nach der Abwertung des Rubels vom 17. August 1998 erhöhte sich die Schuldenquote des staatlichen Sektors im ersten Quartal 1999 (bei einem Wechselkurs von 21 Rubel je US-Dollar) auf mindestens 113 Prozent und maximal 130 Prozent (Tabelle 3).

Tabelle 3: Außenschuld des staatlichen und privaten Sektors
(Milliarden US-Dollar, Stand 1. Juli 1998)

Föderation 141,9
  • offizielle Kreditgeber
    (westliche Regierungen)
68,6
    davon Pariser Klub (restrukturierte Kredite
    an die frühere Sowjetunion)
40,0
  • private Kreditgeber
48,3
    davon Londoner Klub (restrukturierte
    Kredite an die frühere Sowjetunion)
32,0
    Eurobonds (nur Russische Föderation)
16,3
  • Internationale Finanzorganisationen
25,0
Regionale Körperschaften 3,0
    Privatsektor
32,0
    davon Bankensektor
17,0
    Unternehmenssektor
15,0
    Nachrichtlich: Schuldscheine der Föderation
    bei Ausländern (zum Wechselkurs vom 31. Juli 1998)
18,0
Hartwährungsschuld Rußlands 194,9

Quelle: Hishow (BIOst) 1999

Strategische Variable in den Bemühungen ist der Ausgleich des Staatshaushalts, der durch Steigerung der Staatseinahmen bei gleichzeitigen Einsparungen bei den Ausgaben erreicht werden muß. In beiden Aspekten besteht kaum Bewegungsspielraum: Die völlig chaotische, private Wirtschaftsaktivitäten lähmende Steuergesetzgebung konnte mangels Konzeption und wegen des Widerstands in der Staatsduma nicht reformiert werden, die Bemühungen um Erhöhung der Einnahmen blieben in administrativen (polizeistaatlichen) Bemühungen um Stärkung der Steuermoral stecken. Geldpolitisch begründete Ausgabenkürzungen auf der anderen Seite brachten den ausgezehrten öffentlichen Sektor an den Rand des Zusammenbruchs. Die Zahlungsrückstände in diesem Bereich gehören zu den Hauptursachen einer Liquiditätslücke, die das Volumen von Bartergeschäften auf mittlerweile über 50 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Transaktionen ansteigen ließen. Bis auf weiteres ist die Wirtschaft damit wirtschaftspolitischen Eingriffen über die Instrumente der Steuer- und Finanzpolitik weitgehend entzogen.

Rußland erzielt zwar Handelsüberschüsse, doch weist die Zahlungsbilanz eine Finanzierungslücke aus, die einen geregelten Schuldendienst ausschließt. Für das aktuelle Volumen der Verschuldung ergibt sich ein Mindestschuldendienst von rund 15 Milliarden US-Dollar (diese Summe berücksichtigt lediglich die Tilgung der IWF-Schuld, weil diese aus Statutengründen nicht gestundet werden darf). Der russische Banken- und Unternehmenssektor ist mit Forderungen in konvertibler Währung in Höhe von schätzungsweise 32 Milliarden US-Dollar belastet; ferner haben sich regionale Gebietskörperschaften Rußlands mit mindestens drei Milliarden US-Dollar im Ausland verschuldet. Der diesbezügliche Zinsendienst kann auf drei bis vier Milliarden US-Dollar geschätzt werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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