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Erneuerung des ‘historischen Kompromisses’, 1994–1998

Trotz der 1994 bestehenden Ausgangslage konnte sich die Ukraine bis 1997 als Nationalstaat friedlich konsolidieren. Dies lag nicht an der Befriedigung der bisher enttäuschten Erwartungen in der Bevölkerung, denn an deren Unzufriedenheit hat sich bis heute wenig geändert. Entscheidend war, daß sich in den politischen Machtkämpfen auf nationaler und regionaler Ebene diejenigen Eliten politisch durchsetzten, die ein pragmatisches, dauerhaftes Interesse am Bestand des Nationalstaats entwickelten und den ‘historischen Kompromiß’ deshalb erneuerten. Der Verlauf der Konflikte machte deutlich, daß das hauptsächliche Interesse der Eliten im Zugriff auf die Eigentumstitel und im politischen Schutz der privaten Aneignung – oftmals verbunden mit rent-seeking und Simulationen – lag. Reformpolitiken hatten nur dann eine Chance, wenn die Einzelinteressen der politisch einflußreichen Eliten mit den Erfordernissen der Transformation übereinstimmten.

Erste Reformen, fortgesetztes rent-seeking und neue Simulationen

Im März bzw. Juli 1994 fanden Parlaments- und Präsidentenwahlen statt, die zu einem umfassenden personellen Wechsel in den nationalen politischen Eliten führten. Der neue Präsident, Leonid Kutschma, konnte wichtige politische und wirtschaftliche Reformen einleiten. Obwohl 1996 mit neuer Verfassung und neuer Währung wichtige institutionelle Hindernisse einer konsequenten Weiterführung der Reformpolitik beseitigt waren, ließ die tatsächliche Dynamik nach. Dafür sind vor allem zwei Aspekte verantwortlich. Zum einen waren die wichtigsten Intentionen der bisher reformorientierten Eliten weitgehend erreicht worden, z.B. der Zugang zu den militärischen und zivilen Märkten der ukrainischen Rüstungsindustrie. Zum anderen hatten sich die Möglichkeiten politischen Koalitionen erschöpft, nachdem Kutschma mit dem ehemaligen Geheimdienstchef Jewhen Martschuk und dem Unternehmer Pawlo Lasarenko zwei einflußreiche Premierminister entlassen hatte. Diese begannen mit Blick auf die 1999 geplanten Präsidentschaftswahlen, eine kraftvolle Opposition gegen die Präsidentenmannschaft zu formen.

Nach den Märzwahlen 1994 wurde die Werchowna Rada zunächst vom Lager der rückwärtsgewandten Kräfte (Kommunisten, Sozialisten, Agrarier) dominiert. Dies schienen besonders schlechte Ausgangsbedingungen für Kutschma zu sein, der nach seiner Wahl ankündigte, radikale Wirtschaftsreformen einzuleiten. Zünglein an der Waage wurde aber die Mehrheit der parteilosen, unabhängigen Abgeordneten, und durch eine geschickte Machtpolitik konnte Kutschma in vielen Fragen eine knappe Zustimmung des Parlaments erringen. Durch einen vorläufigen Kompromiß zur Gewaltenteilung – der dann nach einem zähen Ringen in der Verfassung vom 28. Juni 1996 im wesentlichen bestätigt wurde – konnte er sich die Regierung unterstellen und somit politische Handlungsfähigkeit gewinnen. Auch das vorgelegte Reformprogramm fand zunächst die Zustimmung der Werchowna Rada.

Für ukrainische Verhältnisse waren die Reformen tatsächlich radikal. Ihre Bilanz fiel dennoch zwiespältig aus. Innerhalb zweier Jahre fanden umfassende Preisliberalisierungen statt, und die erfolgreiche monetäre Stabilisierung führte im Juni 1996 zur Einführung der neuen, an den US-Dollar gebundenen Währung Hrywnja. Die Produktionseinbrüche gingen jedoch nur langsam zurück, und der Inflationsrückgang war von einem Anstieg der Außenschuld begleitet – nicht zuletzt wegen unverändert hoher Energieimporte (vgl. Tabelle 2).

Tabelle 2: Ausgewählte Wirtschaftsdaten der Ukraine 1995 – 1997


1995

1996

1997

Reales BIP, Veränderung zum Vorjahr (%)

–11,8

–10,0

–1,9

Monatliche Inflation, Konsumentenpreise (%)

9,0

2,8

0,8

Leistungsbilanz (Mrd. US-$)

–1,2

–1,1

–1,5

Auslandsverschuldung (Mrd. US-$)

8,1

9,2

11,1

Quelle: Ukrainian-European Policy and Legal Advice Centre; Deutsche Morgan Grenfell

Die Achillesferse der Reformen war der nur schleppend verlaufende wirtschaftliche Strukturwandel. Eine institutionelle Liberalisierung der Märkte blieb aus. Die umfangreichen Regulationen erschwerten den Marktzugang für neue und ausländische Unternehmen, und das Wachstum beschränkte sich weitgehend auf die Schattenwirtschaft. Zudem wurde an einer umfassenden staatlichen Planung des Strukturwandels festgehalten, die von völlig unrealistischen Absatz- und Finanzierungsmöglichkeiten ausging und deshalb nicht annähernd umgesetzt werden konnte. Konkurse wurden nicht durchgesetzt, so daß die Unternehmen weiterhin auf staatliche Rettungsversuche hofften.

Auch in den Politikbereichen, die nicht dem Anspruch staatlicher Planung unterworfen waren, konnten weiterhin Simulationen beobachtet werden. Diese zielten darauf, die zweifelsohne vorhandenen Kosten für Reformen zu verbergen und unpopuläre Maßnahmen zu vermeiden. So wurde beispielsweise an der Simulation von Vollbeschäftigung festgehalten. Im März 1995 schätzte eine Untersuchung der Weltbank im März die verdeckte Arbeitslosigkeit auf 35 Prozent, während die offizielle Statistik die Arbeitslosenquote mit 0,4 Prozent angab. Auch 1997 befand sich die Quote – nach einem Gesamtrückgang des BIP von rund 60 Prozent seit 1992 – noch unter 3 Prozent. Die offiziell aufrecht erhaltenen ‘Beschäftigungsverhältnissen’ waren allerdings nur noch selten mit Lohnzahlungen verbunden. Die staatlichen Zahlungsrückstände für Löhne und Renten stiegen beständig an. Bis Juni 1998 erreichten sie die stattliche Summe von 7,3 Milliarden Hrywnja (damals ca. 3,65 Milliarden US-$). Auch die geld- und fiskalpolitische Stabilität erwies sich unter diesen Umständen als simuliert.

Ausmaß und Grenzen der Reformen wurden durch die Intentionen der wichtigsten strategischen Gruppen bestimmt. Kutschma, ehemals Direktor des größten sowjetischen Raumfahrtunternehmenes Jushmasch, und wichtige Köpfe der Präsidentenmannschaft wollten den wirtschaftlichen Sturzflug beenden, um dem Verfall der besonders stark betroffenen Rüstungsindustrie Einhalt zu gebieten und ihr neue Tätigkeitsfelder zu erschließen. Andere einflußreiche Interessengruppen befürworteten lediglich jene Reformschritte, die neue Möglichkeiten des rent-seeking schufen – z.B. die Kommerzialisierung oder Privatisierung alter staatlicher Monopolbetriebe. Die personell und geschäftlich weiterhin eng mit den Unternehmen verflochtenen Branchenministerien schützten deren Geschäftsbereiche durch ihre Regulierungsmöglichkeiten. Die Kämpfe um die oligopolistische Aufteilung von Märkten gewannen an Bedeutung, und die Klagen über Korruption nahmen zu.

Wirtschaftliche Interessen waren auch ein wichtiger Faktor für die außenpolitische Orientierung der Ukraine. Für das Vordringen auf die lukrativen Weltmärkte für Rüstungsgüter und kommerzielle Raketenstarts war es wichtig, die politische Unterstützung westlicher Länder – vor allem der USA – zu gewinnen. Neben der Entscheidung, die Atomwaffen der Ukraine abzubauen, war die Reformpolitik hier die wichtigste Voraussetzung. Umgekehrt führte die offensichtlich gewordene ökonomische Abhängigkeit von der Russischen Föderation zu einer Entideologisierung der ukrainischen ‘Ostpolitik’. Die aufgelaufenen Forderungen für Energieimporte konnten umgeschuldet werden, wobei der russische Energieriese Gasprom teilweise mit Beteiligungsscheinen für die ukrainische Privatisierung entschädigt wurde. Im stark verflochtenen Rüstungsbereich wurden die Kooperationsbeziehungen trotz gleichzeitiger Konkurrenzen auf dem Weltmarkt gestärkt. Nach verschiedenen Rückschlägen unterzeichneten beide Staaten dann 1997 einen Freundschaftsvertrag, der auch die endgültige Aufteilung der Schwarzmeerflotte ermöglichte. Dabei erreichte die Ukraine einen Teilerlaß ihrer Energieschulden sowie die Verrechnung der russischen Pachtsumme für die Buchten in Sewastopol mit künftigen Energielieferungen.

Pragmatische Umorientierung der Regionaleliten

An der ‘doppelten Enttäuschung’ im Ostteil des Landes änderte sich nur wenig, da Wohlstandssteigerungen auf kleine Gruppen beschränkt blieben. Auch die versprochene Aufwertung der russischen Sprache blieb aus. Bereits ein Jahr nach den Wahlen mußte Kutschma erhebliche Popularitätsverluste in seinen ehemaligen Hochburgen hinnehmen. Die ohnehin schon geringe Unterstützung der Bevölkerung für Reformen sank schon Mitte 1995 auf unter 30 Prozent. Die geringste Zustimmung war auf der Krim und im Osten zu verzeichnen. Das politische Schisma in der Ukraine bestand fort.

Dennoch orientierten sich die wichtigsten Regionaleliten zunehmend auf die nationale Ebene. Die Eliten aus dem ostukrainischen Dnipropetrowsk konnten schon frühzeitig erheblichen Einfluß auf die wichtigsten Weichenstellungen in Personal- und Regulierungsfragen gewinnen. Zunächst ist hier das Team von Präsident Kutschma zu nennen, der die politische Macht vor allem zur industriepolitischen Förderung des Rüstungs- und Raumfahrtsektors nutzte. Im Juni 1996 berief dieser dann Pawlo Lasarenko zum Premierminister, der seine Position offensichtlich nutzte, um dem Dnipropetrowsker Unternehmen Jedyni Energetytschni Systemy Ukraijiny (Vereinigte Energiesysteme der Ukraine) Starthilfe auf dem gewinnträchtigen und stark regulierten Gasimportmarkt zu leisten. Innerhalb weniger Jahre wuchs so einer der fünf größten Konzerne der Ukraine heran, der rund 25 Banken und Industrieunternehmen vereinigte. In den beiden Gebieten mit starken separatistischen Tendenzen nahm die weitere Entwicklung unterschiedliche Formen an. Die Regionaleliten im Donbass versuchten schon bald, im Machtspiel auf nationaler Ebene gleichzuziehen. Dagegen spitzte sich die Lage auf der Krim zunächst zu. Entscheidend waren der jeweilige Ausgang der Regionalwahlen und die daran anschließenden Auseinandersetzungen um die Sicherung und Mehrung des Eigentums.

Im Donbass konnten die nostalgischen Kräfte, allen voran die Kommunisten, nur relativ wenig Kapital aus der ‘doppelten Enttäuschung’ schlagen. Bei den parallel zum Präsidentenwahlgang 1994 stattfindenden Wahlen der oblast-Räte setzten sich vor allem unabhängige Kandidaten durch. Auch bei der Direktwahl der Vorsitzenden dieser Räte – inoffiziell auch Gouverneure genannt – konnte sich in der größeren und politisch einflußreicheren Donezker oblast ein Vertreter der Neuen Ökonomischen Eliten (NÖE), Wladimir Schtscherban, durchsetzen. Sein Aufstieg in die politische Regionalelite war begleitet von beträchtlichen wirtschaftlichen Erfolgen des von ihm gegründeten Privatunternehmens Delo wsech (Sache aller). Im Januar 1996 ließ er sich dann zum Vorsitzenden der Liberalen Partei (LPU) wählen, deren Gründer Igor Makulow sein Liberalismusverständnis sehr einleuchtend dargelegt hatte: „Nun, und es ist gefährlich, hier zwischen den Armen ein Reicher zu werden. Einfach lebensgefährlich. Deswegen muß man andere auch reich machen, so daß sie keine Feinde werden." Der Schutz und die Mehrung des neuen privaten Eigentums blieb auch unter Schtscherban das wichtigste politische Ziel der NÖE: seine Administration begann, stärker in die regionale Wirtschaft einzugreifen, z.B. im Bereich der Privatisierung.

Für die Nationalstaatsbildung war in diesem Prozeß entscheidend, daß sich die Strategien der politischen Absicherung zunehmend nach Kiew orientierten und der Nationalstaat als oberste politische Entscheidungsinstanz gestärkt wurde. Erstens lag es im Interesse der NÖE, den Einfluß derjenigen Kräfte einzudämmen, die das Privateigentum aus ideologischen Gründen ablehnten. Und dies waren auch die stärksten Opponenten des ukrainischen Nationalstaats – allen voran die Kommunisten. Nach den Erfolgen bei den Regionalwahlen stellten die Vertreter der NÖE dieses Spektrum politisch kalt. Auch die Bergarbeiter kehrten angesichts der geänderten politischen Rahmenbedingungen von separatistischen Forderungen ab und konzentrierten sich wieder auf die ökonomische Dimension ihres Unmuts. Zweitens wurde es immer wichtiger, die macht- und eigentumspolitischen Weichenstellungen auf nationaler Ebene zu beeinflussen. So ließ sich Schtscherban auch in die Werchowna Rada wählen, wo er zum Vorsitzenden der einflußreichen Kommission für Budgetfragen aufstieg. Die LPU mit ihren wenigen Abgeordneten betrieb zudem erfolgreich die Gründung einer eigenen Fraktion.

Auf der Krim schuf die zunehmende Herausbildung einer eigenen politischen Struktur und einer eigenen politischen Öffentlichkeit institutionelle Bedingungen, die das Entstehen einer eigenen staatlichen Struktur begünstigten. Daß es dann nicht zum Äußersten kam, hatte weniger mit den politischen Interventionen aus Kiew, sondern mit einer Spaltung der Krim-Eliten zu tun, der vornehmlich ökonomische Interessen zugrundelagen. Der Auslöser war die eingeschlagene Wirtschaftspolitik des aus Moskau angeworbenen Vizepremiers Saburow. Ihr Kern war ein radikales Privatisierungsprogramm, nach dem viele Staatsbetriebe möglichst schnell verkauft oder übertragen werden sollten. Ziel war nach Saburows Angaben die Anwerbung auswärtigen – vor allem russischen – Kapitals.

Ein Großteil der Krim-Eliten schien die Vision des Vizepremiers nicht zu teilen. Die offensichtliche Bevorzugung russischer Unternehmen durch die Regierung führte dazu, daß das angeblich so prorussische Krim-Parlament die Politik Saburows als Ausverkauf an Moskau attackierte. Im August verhängte es ein Moratorium über die weitere Privatisierung, sprach der Regierung Saburow das Mißtrauen aus und forderte den Rücktritt Meschkows. Die ukrainische Regierung gab dem Konflikt neue Nahrung, als sie am 6. September die Übertragung der nationalstaatlichen Eigentumsansprüche an die Krim-Behörden bekanntgab. Den folgenden Machtkampf konnte der Krim-Sowjet zu seinen Gunsten entscheiden.

Der Nachfolger Saburows, Anatolij Frantschuk, war ein Vertreter jener Kräfte, die bereit waren, die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine zu akzeptieren, soweit sie mit einer weitgehenden Autonomie und dem Zugriffsrecht auf das zu privatisierende Eigentum verknüpft war. Als Sieger des Machtkampfs erhielten sie die Möglichkeit, die „Krim-Pirogge" ungestört unter sich aufzuteilen. Tatsächlich wurde der neue Premier schon kurz nach dem Abklingen der Krise beschuldigt, die Lizenzvergabe für die anlaufende Öl- und Gasförderung auf dem Schwarzmeerschelf der Krim zugunsten seines Sohnes manipuliert zu haben.

Auf der Krim wurde besonders deutlich, was sich auch schon bei den Regionaleliten aus Dnipropetrowsk und Donetsk beobachten ließ: In der konkreten Politik setzten sich die ökonomischen Interessen als die eigentlichen Determinanten der Politik durch, auch wenn diese den vorherrschenden ideologischen und kulturellen Orientierungen – der Ablehnung des ukrainischen Nationalstaats und dem Zugehörigkeitsgefühl zum russischen Sprachraum – widersprachen. In allen drei Regionen setzten sich Elitengruppen durch, die ein mehr oder weniger starkes pragmatisches Interesse am ukrainischen Nationalstaat entwickelten und den zerstörten historischen Kompromiß deshalb erneuerten bzw. – im Fall der Krim – wenigstens tolerierten und für sich zu nutzen wußten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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