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Ein ‘historischer Kompromiß’ und seine Erosion, 1991–1994

Die wichtigsten Faktoren der ukrainischen Nationalstaatsbildung lagen im Bereich der politischen Ökonomie. Der nationale Konsens, der beim 1991 abgehaltenen Referendum zum großen ‘historischen Kompromiß’ zwischen nationalistisch und nichtnationalistisch orientierten Bevölkerungskreisen führte, gründete auf – unrealistischen – wirtschaftlichen Erwartungen. Die politische Durchsetzung der Unabhängigkeit war den machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen eines Teils der ukrainischen nomenklatura geschuldet, die auch nach der Unabhängigkeit ihre Macht sichern konnte. Bald wurde offensichtlich, daß deren Ziele nicht mit den Transformationserfordernissen übereinstimmten. Die ökonomischen Erwartungen der Bevölkerung wurden deshalb bereits in den ersten beiden Jahren der Unabhängigkeit schwer enttäuscht. Der nationale Konsens zerbrach, und politische Kräfte mit konkurrierenden nationalen Orientierungen gewannen an Zulauf.

Der nationale Konsens – ein ‘historischer Kompromiß’

Am 24. August 1991 erklärte die Werchowna Rada, das Parlament der ukrainischen Sowjetrepublik, die Unabhängigkeit des Landes. Am 1. Dezember 1991 wurde diese Entscheidung von der großen Mehrheit der Bevölkerung in einem landesweiten Referendum bestätigt. Der hier zum Ausdruck gebrachte staatsnationale Konsens war Resultat eines ‘historischen Kompromisses’, an dem drei strategische gesellschaftliche Gruppen mit unterschiedlichen Erwartungen beteiligt waren:

  • die ukrainische Nationalbewegung Ruch,

  • die zunächst gesamtsowjetisch agierende Bergarbeiterbewegung,

  • der zu ‘Nationalkommunisten’ gewendete Teil der nomenklatura.

Die 1989 vornehmlich durch Intellektuelle erfolgte Gründung der Nationalbewegung Ruch (Volksbewegung zur Unterstützung der perestrojka), die schon bald Massenzulauf erhielt, wurde ermöglicht durch die Öffnungspolitik Michail Gorbatschows (glasnost). Die Forderungen von Ruch – zunächst nach einer größeren Autonomie der Ukraine innerhalb der Sowjetunion, später nach staatlicher Unabhängigkeit – entsprachen der historisch entstandenen Konzeption des ukrainischen Nationalgedankens, der kulturell und an die ukrainische Sprache gebunden war. Zwar waren mit der Unabhängigkeit diffuse Erwartungen auf Wohlstandsgewinne verbunden. Dennoch spielten ökonomische Aspekte hier eine untergeordnete Rolle.

Die Bergarbeiterbewegung entstand ungefähr zeitgleich zu Ruch in allen Bergbaugebieten der Sowjetunion. Hier war die allgemeine Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen das entscheidende Antriebsmoment. Seit den 1960er Jahren hatte die Moskauer Unionsregierung vor allem in die sibirischen Kohlereviere investiert. Der ostukrainische Donbass war davon besonders negativ betroffen. Eine Hinwendung zur nationalen Idee fand hier aus rein pragmatischen Motiven statt, nachdem die Hoffnung auf eine Veränderung der Moskauer Politik begraben werden mußte. Die kulturell-sprachlichen Aspekte einer ukrainischen Eigenständigkeit wurden weitgehend abgelehnt, ebenso wie wirtschaftliche Reformen, die zu Zechenschließungen und Massenentlassungen geführt hätten. Dies wird deutlich an den seit 1989 jährlich wiederkehrenden Bergarbeiterstreiks, die in der Regel mit Subventionsforderungen verbunden sind.

Entscheidend für die politische Durchsetzung der Unabhängigkeit war der politische Kurswechsel eines Teils der alten Eliten unter Führung des Parlamentssprechers Leonid Krawtschuk. Diese ‘Nationalkommunisten’ betrieben seit 1989 die Sicherung der politischen Macht und den Zugriff auf die Ressourcen der Republik. Das Scheitern des Putsches gegen den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow im August 1991 schuf eine Situation, in der durch die parlamentarische Unabhängigkeitserklärung eindeutige Fakten geschaffen wurden. Im Dezember 1991 konstituierte sich eine Mehrheit von 90,3 Prozent der Bevölkerung in einem Referendum als Staatsnation der Ukraine. In allen Verwaltungsgebieten (oblasty), auch in der mehrheitlich russischsprachigen Südostukraine, stieß die Unabhängigkeit auf über 80 Prozent Zustimmung; auf der Krim fand sie bei niedriger Wahlbeteiligung eine nur knappe Mehrheit.

Nach der Unabhängigkeit blieben die Nationalkommunisten politikbestimmend. Krawtschuk wurde im Dezember 1991 zum ersten Präsidenten der unabhängigen Ukraine gewählt, nachdem er die alten Parteistrukturen und jene Bevölkerungsteile für sich mobilisieren konnte, die in ihm weiterhin den Vertreter des alten Systems sahen und die Sicherung der bisherigen gesellschaftlichen Strukturen erwarteten. Die Vertreter der Nationalbewegung fanden sich dagegen größtenteils in der Opposition wieder. Ihre Schwäche war auch der Tatsache zu verdanken, daß Krawtschuk die meisten Positionen der Nationalbewegung übernahm, um seine Macht nach innen und die Unabhängigkeit nach außen ideologisch abzusichern.

Der staatsnationale Konsens basierte also nicht ausschließlich und nicht einmal wesentlich auf den von Ruch vertretenen kulturnationalen Vorstellungen. Eine zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit durchgeführte Meinungsumfrage ergab, daß 79 Prozent der Befragten den „Ausweg aus der wirtschaftlichen Krise" für die wichtigste Aufgabe des neuen Nationalstaats hielten, über 60 Prozent erwarteten die „Stabilisierung der Wirtschaft und einen höheren Lebensstandard". Die „kulturelle Wiedergeburt der Ukraine" und die „Sicherung der politischen Souveränität" lag dagegen nur jedem fünften Staatsbürger am Herzen, und in breiten Bevölkerungsteilen herrschte auch weiterhin Skepsis gegenüber den kulturellen Aspekten der Unabhängigkeit.

Schock ohne Therapie – Reformrethorik, rent-seeking und Simulationen

In der dreieinhalbjährigen Präsidentschaft Krawtschuks erfolgten die wichtigsten internen und externen Weichenstellungen, die den ukrainischen Transformationspfad bis heute prägen. Obwohl der Präsident wiederholt seinen Reformwillen betonte, war seine Amtszeit vom wirtschaftlichen Niedergang gekennzeichnet. Dafür waren im wesentlichen zwei Faktoren verantwortlich: Erstens gab es keinen Konsens über eine Transformationsstrategie und den Einsatz der begrenzten staatlichen Mittel. Fehleinschätzungen über das nun autonom zu nutzende wirtschaftliche Potential des Landes waren weit verbreitet. Allgemein wurde angenommen, die „Kornkammer" der Sowjetunion sei über Jahrzehnte hinweg vom Moskauer Zentrum ausgebeutet worden. Zweitens waren die staatlichen Institutionen schwach und blockierten sich angesichts der ungeklärten Verfassungslage gegenseitig. Aufgrund der mangelnden Gewaltenteilung kam es zu permanenten politischen Machtkämpfen zwischen bzw. innerhalb der Legislative und der Exekutive, die niemand dauerhaft zu seinen Gunsten entscheiden konnte.

Unter diesen Umständen nutzten die wirtschaftspolitischen Akteure ihren Einfluß, um dem Anpassungsdruck an marktwirtschaftliche Verhältnisse zu entgehen. Stattdessen richteten sie ihr Handeln vornehmlich darauf, staatlich geschützte Renteneinkommen zu gewinnen. Dafür boten sich vor allem vier Quellen: die politisch durchgesetzte Schöpfung subventionierter Kredite, der Zugang zu Export- und Importlizenzen, der Verkauf von preisgebundenen Gütern auf dem Schwarzmarkt und der Mißbrauch von Staatsgarantien.

Im Zuge des Verlusts politischer Steuerungsmöglichkeiten setzten sich verstärkt Simulationen – die moderne Form Potemkinscher Dörfer – durch. Im Bereich der Wirtschaft erstellte das neue Wirtschaftsministerium – das ehemalige Staatliche Plankomitee – weiterhin gesamtwirtschaftliche Produktionspläne, die auf den von vornherein nicht finanzierbaren Ressourcenanforderungen der Branchenministerien beruhten. Gleiches galt für die Budgetplanung des Finanzministeriums. In dem folgenden politischen Feilschen innerhalb der Administration und mit dem Parlament blieb von den ursprünglichen Prioritäten wenig übrig, und auch die gefundenen Kompromisse waren nicht bindend. Angesichts völlig utopischer Steuerschätzungen kam es zu einem täglichen cash management des Finanzministeriums, und der tatsächliche Haushalt beruhte auf der Möglichkeit, diese Ausgabenpolitik politisch zu beeinflussen. Die Bevölkerung hatte hier die schlechtesten Karten, so daß Lohn- und Rentenzahlungen über Monate verzögert wurden.

In der Folge erlebte die Ukraine einen Schock ohne Therapie (vgl. Tabelle 1). Insbesondere die unkontrollierte Kreditschöpfung führte Ende 1992 zur Hyperinflation, die – verstärkt durch den Zusammenbruch der Rubelzone – von wachsenden Leistungsbilanzdefiziten und vom Einbruch der Produktion begleitet wurde. Die Vorstellung, die Ukraine sei mit der ererbten Wirtschaftsstruktur ein reiches Land, stellte sich als Illusion heraus. Dabei fiel insbesondere die Abhängigkeit von Energieimporten ins Auge, die knapp 50Prozent der Gesamtimporte des Landes ausmachten. Nachdem die Hauptlieferländer, Rußland und Turkmenistan, ihre Öl- und Gaspreise innerhalb kürzester Zeit auf Weltmarktniveau anhoben, war die Ukraine mehrfach unfähig, die fälligen Devisenzahlungen zu leisten.

Tabelle 1: Ausgewählte Wirtschaftsdaten der Ukraine 1992 – 1994


1992

1993

1994

Reales BIP, Veränderung zum Vorjahr (%)

– 16,8

– 14,2

– 23,0

Monatliche Inflation, Konsumentenpreise (%)

33,5

47,1

14,4

Leistungsbilanz (Mrd. US-$)

– 0,6

– 0,7

– 1,4

Auslandsverschuldung (Mrd. US-$)

3,5

4,2

7,2

Quelle: European Centre for Macroeconomic Analysis of Ukraine; Deutsche Beratergruppe Wirtschaft

‘Doppelte Enttäuschung’ im Ostteil des Landes – die eigentliche Bedrohung der Unabhängigkeit

Im Ostteil der Ukraine erlebte die Bevölkerung eine ‘doppelte Enttäuschung’ ihrer an die Unabhängigkeit geknüpften Erwartungen. Zum einen blieb die erhoffte Wohlstandssteigerung aus, zum anderen wurde die zunehmende offizielle Propagierung von ukrainischer Kultur und Sprache als Bedrohung der eigenen Lebenspraxis wahrgenommen.

Der neue Staat war nicht annähernd in der Lage, seine Bürger vor den Folgen der wirtschaftlichen Krise zu schützen. Der Lebensstandard der meisten Ukrainer sank dramatisch, und die Inflation entwertete die Sparguthaben vollständig. Die offiziellen Statistiken – die nur begrenzten Aufschluß über die tatsächliche Situation geben konnten – verzeichneten von 1990 bis 1993 einen Rückgang der Reallöhne um 70 Prozent. Hinzu kamen die Simulationen in der sozialen Sphäre. So wurde offiziell an einem kostenlosen Gesundheits- und Bildungssystem festgehalten - unter der Oberfläche fand die totale Privatisierung statt. Angesichts ausbleibender Lohnzahlungen wurden für ärztliche Untersuchungen und Operationen individuelle „Gebühren" vereinbart. Medikamente und Verbandsmaterialien hatten die Patienten meist selbst zu beschaffen.

Die Bereitschaft, zugunsten der Unabhängigkeit wirtschaftliche Schwierigkeiten hinzunehmen, war aber aufgrund des Charakters des nationalen Konsenses begrenzt. Im November 1993 waren nur 19 Prozent der Bürger bereit, wirtschaftliche Opfer für die Unabhängigkeit zu erbringen, 44 Prozent lehnten dies durchweg ab. Weitere 31 Prozent gewährten dem neuen Nationalstaat immerhin eine ein- bis zweijährige Bewährungsfrist; doch auch diese verstrich ohne eine Verbesserung der Lage.

Hinzu kam die Entscheidung der politischen Führung, die kulturnationalen Vorstellungen der Unabhängigkeitsbewegung zu ihrem Programm zu machen und stärker auf die Durchsetzung der ukrainischen Sprache zu drängen. Damit entschärfte man zwar die Opposition des nationalen Spektrums, entfremdete aber den ohnehin skeptischen Teil der Staatsbürger, dessen Zustimmung zur Unabhängigkeit nicht an die ukrainische Sprache gebunden gewesen war. Auch wenn sich in der sprachlichen Alltagspraxis nur wenig änderte, wurde das öffentliche Klima durch die Nationalisierung des politischen Diskurses aufgeheizt.

Innerhalb von drei Jahren nach der Unabhängigkeit ließen sich die Auflösung des nationalen Konsenses und eine regionale Spaltung des Landes beobachten. Der Dnipro (Dnjepr) mit einer mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung – darunter auch ethnische Ukrainer – am linken (östlichen) Ufer und einer mehrheitlich ukrainischsprachigen am rechten (westlichen) schien hierbei die Grenze zu sein. Die ‘doppelte Enttäuschung’ drohte die Existenz des Nationalstaats genau ab dem Moment zu gefährden, als politische Eliten und Bewegungen der Regionen andere nationale Orientierungen anboten. Dies geschah vor allem im Donbass – der Hochburg der Bergarbeiterbewegung – und auf der mehrheitlich von ethnischen Russen besiedelten Krim.

Im schwerindustriell geprägten ostukrainischen Donbass führte die anhaltende Verschlechterung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen dazu, daß die Bergarbeiter auch weiterhin jährlich in den Streik traten und die Unabhängigkeit zunehmend negativ bewerteten. Als Intellektuelle und Regionalpolitiker mehrere politische Bewegungen ins Leben riefen, die eine Eigenstaatlichkeit der Ukraine ablehnten, stießen sie deshalb auf fruchtbaren Boden. Auch die Wiedergründung der Kommunistischen Partei (KPU) wurde ab Dezember 1992 im Donbass betrieben. Alle diese Organsisationen traten gegen den ukrainischen Nationalismus ein und befürworteten eine starke GUS als Grundlage einer neuen eurasischen oder slawischen Union. Die Donezker Parteiorganisation der KPU trat offen für die Restauration der Sowjetunion ein.

Dramatischer entwickelte sich die Lage auf der Krim, die von Anfang an eine Sonderrolle im ukrainischen Staat einnahm. Hier drohte sich das Zerfallsszenario der Sowjetunion auf der Republiksebene zu wiederholen. Die Krim-Eliten beriefen sich auf die Autonome Sowjetische Sozialistische Republik Krim, die zwischen Oktober 1921 und Juni 1945 (innerhalb der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik) existiert hatte. Am 20. Januar 1991, noch vor der ukrainischen Unabhängigkeit, ließ der Oberste Sowjet der Krim ein Referendum durchführen, bei dem sich über 93 Prozent der Krimbevölkerung für die Wiedererrichtung der Autonomie aussprachen. Nach der ukrainischen Unabhängigkeit, gegen die auf der Krim demonstriert wurde, erklärte der Krim-Sowjet am 5. Mai 1992 die Unabhängigkeit der Halbinsel. In die Krim-Verfassung wurde erst nach kontroverser Debatte ein Artikel über die staatliche Zugehörigkeit zur Ukraine aufgenommen.

Auch Politiker der Russischen Föderation begannen, die Legitimität der 1954 erfolgten Übertragung der Krim von Rußland an die Ukraine zu bezweifeln und die separatistischen Kräfte der Krim dadurch zu ermutigen. So erklärte das russische Parlament am 21. Mai 1992 alle Dokumente des Krim-Transfers für nichtig. In dieser Auseinandersetzung spielte der ungeklärte Status der größtenteils in Sewastopol stationierten sowjetischen Schwarzmeerflotte eine entscheidende Rolle. Obwohl im Juni 1992 grundsätzlich eine Aufteilung der Flotte zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation vereinbart worden war, kam es zu permanenten Auseinandersetzungen über die konkreten Modalitäten. Die Ukraine war bereit, Sewastopol als Sitz der russischen Schwarzmeerflotte zu akzeptieren, wollte sich aber das Recht auf Nutzung des Hafens durch die ukrainische Marine vorbehalten. Dagegen bestand die Russischen Föderation auf der exklusiven Nutzung Sewastopols und sprach sich zudem gegen jede ukrainische Marinebasis auf der Krim aus. Im Frühjahr 1993 ging das russische Parlament so weit, die Stadt zum territorialen Bestandteil der Föderation zu deklarieren. Dies verhärtete die Fronten weiter.

Eine weitere Position vertraten die Organisationen der Krimtataren. Die Tataren waren 1944 von Stalin der Kollaboration mit den deutschen Besatzern beschuldigt und wegen ‘Verrats am Sowjetvolk’ nach Zentralasien deportiert worden. Infolge der politischen Debatte über die stalinschen Verbrechen im Zuge der perestrojka begannen sie (bzw. ihre Nachkommen) zurückzuwandern. Zwischen 1990 und 1993 siedelten sich fast 240 000 Tataren auf der Krim an. Sie beanspruchten die alleinige politische Hoheit über das autonome Land ihrer Vorväter und lehnten die konkurrierenden Ansprüche der Ukraine, der Russischen Föderation und der im Obersten Sowjet vertretenen Eliten der Krim gleichermaßen ab.

Die Forderung nach Eigenständigkeit der Krim wurde von fast allen Politikern und Parteien der Halbinsel vertreten. Die Parteien vom ukrainischen ‘Festland’ spielten hier überhaupt keine Rolle. Zwei Parteien der alten wirtschaftlichen Eliten waren vor allem an den Zugriffsrechten auf das staatliche Eigentum, den Abbau von Regulierungen, die Errichtung einer Freihandelszone und an weiteren Subventionen aus Kiew interessiert. Dagegen propagierten andere Bewegungen und Parteien die eine oder andere Form der Vereinigung mit Rußland oder den anderen slawischen Staaten. Massenunterstützung gewann die von Jurij Meschkow geführte Republikanische Bewegung der Krim, aus der im Oktober 1992 die Republikanische Partei der Krim (RPK) hervorging. Meschkow konnte deshalb im Januar 1994 die erste Wahl zu einem „Präsidenten der Republik Krim" für sich entscheiden.

Unter Meschkows politischer Führung schritt der Separatismus weiter fort als jemals zuvor. Eine Woche nach der Wahl begann er, sich einen eigenen Herrschaftsapparat zu schaffen und warb in Moskau eine Regierungsmannschaft unter Leitung des ehemaligen russischen Wirtschaftsministers Jewgenij Saburow an. Eine hohe symbolische Bedeutung hatte das erste Dekret des Präsidenten, mit dem die Uhren der Krim um eine Stunde von Kiewer auf Moskauer Zeit vorgestellt wurden. Die Wahlen zum Krim-Sowjet im März 1994 und ein zeitgleiches Referendum verschafften der separatistischen Politik zusätzliche Legitimation. Das neue Krim-Parlament setzte im Mai die von Kiew abgelehnte Krim-Verfassung in Kraft und begann mit der parlamentarischen Beratung eines Gesetzes über eine eigene Staatsbürgerschaft. Die Ukraine schien vor der Alternative zu stehen, die Hoheit über die Halbinsel zu verlieren oder sie mit Gewaltmaßnahmen durchsetzen zu müssen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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