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Überblick

„Yugo-lombia", „the most troubled country of the Western Hemisphere", „das Bosnien der Americas" heißt Kolumbien in US-amerikanischen Medien. Der Chef des Oberkommandos Süd der US-amerikanischen Streitkräfte, General Wilhelm, meint kurz und bündig: „Das größte Sicherheitsproblem der westlichen Hemisphäre, noch vor Kuba". Das (nach Brasilien, Mexico und Argentinien) territorial viertgrößte und mit ca. 41 Millionen von der Einwohnerzahl her (vor Argentinien) drittgrößte Land des Kontinents leidet unter vielfachen Plagen, die seine Entwicklung hemmen und sein internationales Image prägen: Guerilla, Paramilitärs, Drogenhandel, Menschenrechtsverletzungen, extrem hohe „Straflosigkeit" (99,5%), Korruption, Einkommens- bzw. Vermögenskonzentration und Verlust des Gewaltmonopols des Staates.

Mit zwischen 70 (IWF) und 100 (Weltbank) jährlichen Morden pro 100.000 Einwohnern (OECD: 3, USA: 10, Brasilien: 25), mit ca. 150 Massakern, 925 terroristischen Akten, über 2000 Entführungen und mehr als 26.000 Morden (Human Rights Watch) im Jahr 1998 ist Kolumbien das gewalttätigste Land der Welt. Die Anzahl der Mordopfer während zweier Jahre entspricht der Zahl der gefallenen amerikanischen Soldaten während des Vietnamkrieges, die jährlich annähernd 3.000 Opfer des politischen Konflikts der Gesamtopferzahl von 30 Jahren Nordirlandkonflikt.

Die Guerilla ist mit insgesamt 20.000 Männern und Frauen unter Waffen und einer Präsenz in annähernd der Hälfte des Landes stärker als je zuvor. Ihre Wurzeln reichen in die Zeit der violencia (Gewalt, 1948-58), die Zeit der ländlichen Stellvertreterkriege der beiden großen Parteien Kolumbiens. Sie existiert etwa so lange wie die Lebensdauer des Realsozialismus in Mitteleuropa, länger als die Diktatur Francos in Spanien.

Zwar gab es die beiden heute wichtigen Guerillagruppen schon vor Beginn des kolumbianischen Drogenhandels, Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre. Ihre finanzielle (600 Mio. bis 1 Mrd. US-$ Haushalt pro Jahr) und damit militärische Stärke wären aber ohne die „Besteuerung" (Schutzgelder) des Drogenhandels und ohne Verbindungen mit ihm undenkbar. Auch die von Großgrundbesitzern, Viehzüchtern, Händlern und Narcotráfico (Drogenhandel) ursprünglich gegen die Übergriffe der Guerilla mit Unterstützung des Militärs ins Leben gerufenen Paramilitärs, denen bis zu 75% der Menschenrechtsverletzungen zugeschrieben werden, stünden ohne die Drogenkartelle nicht in solcher Blüte (ca. 5000 Mann). Drogenhandel ist nicht die einzige Ursache der kolumbianischen Gewalt. Aber er ist ihr Katalysator, Motor und größter Nutznießer.

Die Ursachen und Motive des bewaffneten Konflikts sind mit der Zeit diffuser geworden. Ursprüngliche Motive des Kampfs um mehr soziale Gerechtigkeit verbinden sich heute mit militärischen und territorialen Ansprüchen der Guerilla, Wirkung von jahrzehntelangem Kampf in abgelegenen Regionen des Landes. Schwierigkeiten der Integration in die Moderne, zunehmende Unklarheit über die Grenzen zwischen Legalem und Illegalem in der kolumbianischen Bevölkerung als soziale Nebenfolge des Drogenhandels, gebrochene Legitimität der offiziellen politischen Repräsentanten und nur oberflächliches Wurzelwerk nationaler Identität verbinden sich zu einem heterogenen Kontext anachronistischer und „postmoderner" desinstitutionalisierter Konfliktursachen. Kolumbien bezahlt den Preis für die langjährige Weigerung seiner Eliten, den „peinlichen", schuldvollen Teil ihrer Geschichte anzunehmen und aufzuarbeiten.

Das vergangene Jahr 1998 war für Kolumbien ein Jahr der Kontraste: Verschärfung und Brutalisierung des bewaffneten Konflikts zwischen Guerilla, Paramilitärs und Militärs, Verschlechterung der Menschenrechts-Situation mit noch mehr durch Gewalt Vertriebenen (mit insgesamt ca. 1,3 Mio Vertriebenen liegt Kolumbien weltweit an zweiter Stelle nach dem Sudan), aber auch ein Präsidentschafts- und Regierungswechsel mit breiter Wählerunterstützung, der das politische Klima nach innen und außen veränderte und ein neues Panorama von Optionen eines beginnenden Friedensverhandlungsprozesses eröffnete.

Mehrere Faktoren scheinen ein derzeit größeres window of opportunity für den Friedensprozeß geöffnet zu haben als in Zeiten früherer Friedensversuche:

  • der Wechsel in der Präsidentschaft mit einer in der Geschichte Kolumbiens einmalig hohen Wahlbeteiligung, der in der US-Administration als ein Kolumbien nicht mehr zugetrauter Selbstreinigungsprozeß empfunden wurde; die Person des neuen Präsidenten Andrés Pastrana, konservativer Expräsidentensohn und Vertreter des Establishments, der als solcher von der Guerilla als Verhandlungspartner angenommen wird;

  • das Drängen auf Frieden der besser organisierten und artikulationsfähigeren „zivilen Gesellschaft", der Bürgerschaft Kolumbiens, der durch die Drogengeld-Verstrickungen des früheren Präsidenten Samper ein Spiegel ihrer bisherigen, politischen Apathie und stillen Komplizenschaft mit den finanziellen Wohltaten der Gelder des Drogenhandels, Korruption, Klientelismus und Gewalt vorgehalten worden war; ein Gefühl von „so kann es nicht weitergehen", auch von Teilen der bisherigen Nutznießer in den politischen und wirtschaftlichen Eliten;

  • die - zumindest offizielle - Unterstützung des durch Niederlagen seit 1996 gegenüber der Guerilla und durch die Offensichtlichkeit seiner Verbindungen zu Drogenhandel, Paramilitärs und Menschenrechtsverletzungen geschwächten kolumbianischen Militärs;

  • die Internationalisierung des Konflikts, besonders die Öffnung in der Haltung von Teilen der US-Administration, die inzwischen Verhandlungen mit der Guerilla als zusätzliche Option ihrer Drogenbekämpfungspolitik erkennen. Die USA haben eine Politik der „Zwei Gleise" gegenüber Kolumbien entwickelt: unter Federführung des State Departments werden die Friedensinitiativen der Regierung Pastrana unterstützt, unter Führung des Pentagon sollen Kolumbien bis zu 400 Mio US-$ an Militärhilfe (die drittgrößte nach Israel und Ägypten) zufließen.

Das stetige Wachstum von durchschnittlich über 4% seit den 50er Jahren, das Kolumbien - zusammen mit Chile - zum wirtschaftlich erfolgreichsten Land des Kontinents werden ließ, ist unterbrochen. Zu einem zunehmend größeren Leistungsbilanz- (1998 über 6,5% des BIP) und Haushaltsdefizit (1998: Zentralregierung 5% des BIP) führten die Baisse der internationalen Preise auf wichtige kolumbianische Exportgüter wie Öl, Kohle und Kaffee. Dazu kamen die asiatische und russische Krise mit dem ihr folgenden Druck auf die lateinamerikanischen Währungen und schließlich die geringeren Finanzierungsmöglichkeiten auf den internationalen Kapitalmärkten, wie auch die seit der Wirtschaftsliberalisierung Anfang der 90er Jahre steigenden Importe und Staatsausgaben. Bis 20% hohe Realzinsen, die mit 15,9% höchste Arbeitslosenrate seit 22 Jahren und aufgelegte Anpassungsprogramme zur Reduzierung des Haushaltsdefizits lassen für 1999 mit 0 - 1% Wachstum die Talsohle der 1998 begonnenen Rezession (1998: Wachstum 1,8%) erwarten. Je nach Klugheit und Erfolg der Anpassungspolitik soll allerdings, nach internen Prognosen und solchen der multilateralen Banken, ab 2000 eine erneute Aufschwungsphase einsetzen.

Die Wirtschaftskrise zu überwinden und zugleich „Friedensverhandlungen im Krieg" mit einer Mehrzahl von Akteuren zu führen, deren Friedensmotivationen nicht unbedingt eindeutig sind, stellt in den nächsten Jahren größte Herausforderungen an Logistik und Planungskapazitäten der Regierung. Anders als viele seiner Kritiker weiß Präsident Pastrana, daß diesmal nicht die Demobilisierung, Entwaffnung und Reintegration der Guerilla ins bürgerliche Leben anstehen werden. Im besten Fall ist eine noch zu bestimmende Fusion des geistig gespaltenen Kolumbiens mit Elementen starker regionaler Autonomie (Separatismus?) zu erreichen. Mögliche Vereinigungen in neu zu bildenden Streitkräften, Legalisierung der erheblichen Guerilla-Vermögen sowie ein neuer „Gesellschaftsvertrag" (Contrato Social) stehen erst am Ende eines Verhandlungsweges.

Nachhaltiger Frieden wird ohne Reduktion des Drogenanbaus und -handels und der sozialen Ungleichgewichte im Lande kaum gelingen. Andererseits erlaubt erst Frieden eine Entfaltung des kolumbianischen Wirtschaftspotentials, Wachstum und mehr Gleichheit. Aktive paciencia (Geduld) wird eine der notwendigen Tugenden aller Beteiligten sein müssen. Fidel Castro predigt sie - auch für Kolumbien. Da kann man ihm kaum widersprechen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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