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2. Bus Stop: Vier Erklärungen der Japankrise

Die Wirtschaftspolitik der LDP erschöpft sich in der Wiederholung immer derselben Schritte – der Verabschiedung immer neuer Konjunkturpakete. Das einzige Element politischer Initiative liegt darin, daß das Volumen dieser Pakete wächst. Die Ausnahme war die Regierung Hashimoto, die das Expansionsprogramm stoppte und die nun – wahrscheinlich zu Recht – die Verantwortung für die Verschlechterung der Lage zu tragen hat. Die Wachstumsprogramme in ihrer bisherigen Form ebenso wie alle bisherigen Ansätze zur Sanierung des Bankensystems setzten voraus, daß der Aufschwung an der nächsten Ecke steht und nur die kurze Frist bis zu seiner Ankunft zu überbrücken ist. Japanische Politiker erinnern an Wartende an einer Bushaltestelle. Eine gewisse Zeit lang könnten sie ihr Ziel auch mit einem beschwerlichen Fußmarsch erreichen, in der Sicherheit, daß der bequemere Bus kommen wird, ziehen sie jedoch das Warten vor. Je länger sie warten, desto unrealistischer wird es, das Ziel zu Fuß zu erreichen, desto abhängiger werden sie davon, daß der Bus auch wirklich kommt. Mittlerweile scheint klar zu sein, daß der Bus keine der üblichen kleinen Verspätungen hat. Die Frage ist: Warum kommt er nicht? Hat er eine unüblich schwere Verspätung – oder wurde die Linie eingestellt?

Der Aufschwung steht nicht an der nächsten Straßenecke. Die japanische Wirtschaft droht von der Stagnation, von der sie seit Anfang der 90er Jahre heimgesucht wird, in die Depression abzugleiten. Die OECD schätzt das Wirtschaftswachstum 1998 auf –2,6%. Die japanische Wirtschaft vernichtete damit im Jahre 1998 wirtschaftliche Werte in einem Umfang, der den des thailändischen Sozialprodukts übersteigt (das BSP Thailands macht den 53. Teil des japanischen BSP aus). Eine schnelle Erholung ist trotz des nun neunten Konjunkturprogramms mit einem Rekordvolumen von 24 Billionen Yen (das staatliche Haushaltsdefizit hat mittlerweile 11% des BSP erreicht) nicht in Sicht, jedenfalls glaubt niemand daran. Was erklärt die Dauer und die Intensität der Krise?

Wachstumsraten 1997/1998

Quartal

BSP

Investition

I/1997

2,0

1,2

II

–2,8

–1,8

III

0,8

1,0

IV

–0,4

0

I/1998

–1,2

–5,3

II

–0,8

–5,5

III

–0,4


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a) Modellerschöpfung

Eine erste Interpretation sieht die japanische Krise als Symptom für die Erschöpfung des „japanischen Wirtschaftsmodells". Ein in der Vergangenheit erfolgreiches Wirtschaftsmodell – so das Argument – ist nicht in der Lage, dem wachsenden Wettbewerbsdruck einer zunehmend globalisierten Wirtschaft standzuhalten. Das „japanische Wirtschaftsmodell" der Vergangenheit läßt sich unterschiedlich definieren, am häufigsten jedoch werden Charakteristika hervorgehoben, die auf die Schwäche der anonymen Regelsysteme Markt und Recht und deren Substitution durch informelle persönliche Netzwerke verweisen:

  • Die schwache Ausbildung des Arbeitsmarktes zwingt die Unternehmen, die Funktionen eines Arbeitsmarktes zu hohen Kosten intern zu generieren. Sie stellen Arbeitnehmer „auf Lebenszeit" ein, bilden sie intern aus, schaffen durch die Lohnfestlegung nach Seniorität einen Anreiz zum Verbleib in der Firma und setzen ihre Arbeitskräfte wechselnden Erfordernissen entsprechend flexibel ein. Sie sind aber nicht in der Lage, ihre Arbeitskosten zu senken und ihre Beschäftigung den Marktbedingungen anzupassen.

  • Unzureichend entwickelte Gütermärkte zwingen die großen Unternehmen, Beziehungsnetzwerke zu ihren Zulieferern und Abnehmern aufzubauen. In einem System wechselseitiger Verpflichtungen gegenüber Zulieferern und Abnehmern sind sie gehindert, die jeweils kostengünstigsten Anbieter bzw. meistbietenden Abnehmer auszuwählen.

  • Ein wenig ausgebildeter Kapitalmarkt wird ersetzt durch enge Beziehungen zu den Banken, die der eigenen Unternehmensgruppe angehören, bzw. zu anderen Unternehmen derselben Gruppe, die in der Regel den größten Anteil der Beteiligungen halten. Das Verhältnis zwischen Management und Eignern ist in der Form eines Netzwerks wechselseitiger Beteiligungen organisiert, die gehalten werden, um Transaktionen zu flankieren, nicht, um Erträge zu erwirtschaften. Damit fehlt der disziplinierende Druck der shareholder auf Management und Belegschaften.

  • Die schwache Ausbildung des Rechtssystems hat zur Folge, daß auch die Beziehungen zwischen privaten Unternehmen und der staatlichen Verwaltung in der Form informeller, persönlicher Netzwerke organisiert sind. Die Vergabe staatlicher Leistungen folgt nicht klaren rechtlichen Regeln, sondern wird gemäß persönlicher wechselseitiger Verpflichtungen vorgenommen.

Die Besonderheiten der japanischen Wirtschaft galten noch vor wenigen Jahren als Wettbewerbsvorteil – im Vergleich zu den auf kurzfristige Kostensenkung und Gewinnsteigerung fixierten und in starre Rechtssysteme eingebundenen westlichen Wirtschaften schien die japanische Wirtschaft flexibler zu sein. Heute jedoch, so wird argumentiert, werden die Defizite des Systems sichtbar. Trotz hoher operativer Effizienz in der Fertigung können die Unternehmen ihre Aktivitäten nicht durch Anpassung ihrer Beschäftigung, Zusammenschlüsse, Auslagerungen usw. auf den Kernbereich ihrer Kompetenz zurückzuführen: Sie haben hohe Kosten zu tragen; ohne die Signale eines effizienten Kapitalmarkts erwirtschaften sie unzureichende Gewinne und drohen gegenüber ihren westlichen Konkurrenten an Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Wettbewerbsfähig bleiben sie nur, wenn sie den Standort Japan verlassen.

Einen Hinweis auf den relativen Bedeutungsverlust japanischer Unternehmen gibt deren Rang im Hinblick auf den Börsenwert. 1990 hatten japanische Firmen am weltweiten Gesamtwert börsennotierter Unternehmen einen Anteil von über 40%. 1998 ist dieser Anteil auf 10% gesunken. 1990 stammten in der Liste der 10 am höchsten notierten Unternehmen der Welt 6 aus Japan, 1998 war unter den ersten Zehn kein japanisches Unternehmen mehr vertreten. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die japanischen Unternehmen – insbesondere die Banken – 1990 aufgrund der bubble überbewertet waren. Gleichwohl illustriert der Vergleich einen grundlegenden Wechsel in der Bewertung von Unternehmen: Das Volumen der von einem Unternehmen kontrollierten assets hat als Determinante des Börsenwerts – im Vergleich zu den intellektuellen Ressourcen und der vermuteten Innovationskraft – an Bedeutung verloren. Die japanischen Giganten haben sich – so die naheliegende Schlußfolgerung – in einem Umfeld, in dem es immer weniger auf Größe und immer mehr auf Innovation ankommt, nicht bewähren können.

Rangliste der 10 größten Unternehmen nach Börsenwert (Mrd. US-$)

1990

1998

1. NTT

119

1. Microsoft

318

2. IBM

69

2. General Electric

295

3. Industrial Bank of Japan

68

3. Intel

194

4. Shell

67

4. Merck

188

5. Exxon

60

5. Exxon

174

6. General Electric

63

6. Coca Cola

170

7. Sumitomo Bank

56

7. Wal Mart

165

8. Fuji Bank

53

8. IBM

152

9. Toyota

50

9. Shell

148

10 Mitsui Tayo Kobe Bank

50

10 Pfizer

146

Nationale Anteile am weltweiten Börsenwert der Unternehmen

1990

1998

Japan

41,5

USA

53,2

USA

31

Japan

10,4

UK

8,8

UK

9,9

Deutschland

3,7

Deutschland

4,3

Frankreich

2,9

Frankreich

3,7



Die vom System erzwungene „Kollusion" zwischen staatlicher Verwaltung und privaten Unternehmen führt zur Überregulierung der Wirtschaft. Regulierungen und andere Einschränkungen zum Schutz spezieller Interessengruppen verhindern, daß neue Unternehmen in die Märkte eintreten und neue Produkte und Dienstleistungen anbieten. Zweitens wohnt dem japanischen Wirtschaftssystem eine Tendenz zur Herausbildung dualistischer Strukturen inne. Da die Großunternehmen ihre Beschäftigung nicht den Marktbedingungen anpassen können, müssen sie ihren internen Arbeitsmarkt so klein wie möglich halten; sie delegieren einen Großteil der Aktivitäten an abhängige und weit weniger produktive kleinere Unternehmen, die durch privilegierte Transaktionsbeziehungen zu den Großunternehmen geschützt sind. Unternehmen schließlich, die nicht auf den internationalen Märkten konkurrieren, haben dank der hohen Regulierungsdichte wenig Anreize, ihre Produktivität zu steigern. Dem Segment der effizienten großen Exportunternehmen steht daher ein wachsendes Segment von Firmen gegenüber, die international nicht wettbewerbsfähig sind und die die Kosten der gesamten Volkswirtschaft erhöhen.

Angesichts des sich intensivierenden internationalen Wettbewerbs ist das System nicht mehr in der Lage, Wachstum hervorzubringen. Der japanische Kapitalismus ist, so ließe sich folgern, eine asiatische Version überregulierter europäischer Sozialstaaten (anstatt „sozialer Marktwirtschaft" könnte er das Etikett „Marktwirtschaft mit Beschäftigungsgarantie" tragen), die der angelsächsischen „freien Marktwirtschaft" nicht gewachsen ist. Notwendig ist daher eine radikale Reform auf allen Ebenen, insbesondere die Deregulierung der Wirtschaft, die – wenn auch um den Preis höherer Arbeitslosigkeit und/oder sinkender Lohneinkommen – verkrustete Strukturen durchbricht, den Wettbewerbsdruck durch die Öffnung der Märkte für neue Akteure steigert und die etablierten Unternehmen zu Effizienz- und Ertragssteigerungen zwingt.

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b) Credit Crunch

Eine zweite Interpretation begrenzt die These der „Modellerschöpfung" auf einen Wirtschaftssektor: das Finanzsystem. Das Argument: Die Besonderheiten des „japanischen Modells" haben nicht verhindert, daß die großen Industrieunternehmen international exzellente Wettbewerber wurden und auch bleiben werden. Auch wenn sie ihre Standorte diversifizieren und Aktivitäten ins Ausland verlagern, tun sie dies weniger (zumindest nicht mehr) als westliche Firmen. Sie behalten ihre Basis in Japan, von wo aus dank ihrer hohen operativen Effizienz auch weiterhin die Weltmärkte mit Hochtechnologiegütern der jeweils neuesten Generation beliefern. Doch was für die Industrieunternehmen gilt, gilt nicht für den Finanzsektor. Die Banken, Wertpapierhäuser und Versicherungen waren der internationalen Konkurrenz nie ausgesetzt, und die Konkurrenz auf dem heimischen Markt wurde in der Vergangenheit durch staatliche Regulierung (etwa die Festlegung der Einlagenzinsen) eingeschränkt. Die systemimmanente Kollusion zwischen privaten Banken und Finanzverwaltung enthält eine implizite Garantie für die Privaten, deren Risiko zu einem hohen Anteil vom Staat (d.h. vom Steuerzahler) gedeckt wird. Banken, Wertpapierhäuser und Versicherungen konnten und mußten unter diesen Bedingungen keine Kompetenz im Risikomanagement – die Kernkompetenz dieses Wirtschaftssektors – entwickeln. So lange hohe durchschnittliche Wachstumsraten vorherrschten, blieben Risiken ohnehin begrenzt. Die stetig steigende Flut hob auch schwach gebaute Boote über die Klippen. In Zeiten niedrigerer oder normaler Wachstumsraten dagegen wurde der Umgang mit Risiken zum Problem: Das Finanzsystem als „Gehirn" der Volkswirtschaft ist die Instanz, die auswählt, welche wirtschaftlichen Aktivitäten/ Unternehmen zu fördern, beizubehalten oder einzustellen sind. Wenn Banken, Wertpapierhäuser und Versicherungen aber unterschiedslos und unabhängig vom je individuellen Anlagerisiko Kapital allozieren (und dabei vor der Pleite durch den Staat geschützt sind), werden sie entweder zur Verzerrung der Wirtschaftsstrukturen beitragen, oder sie werden – wenn sie scheitern – zu einer exzessiven Belastung für die staatlichen Finanzen.

In den Jahrzehnten der japanischen Wirtschaftswunders war die Aufgabe der privaten Banken denkbar einfach: Sie mußten die Ersparnisse der Haushalte sammeln (da die Einlagenzinsen vom Staat festgelegt wurden, entfiel der Wettbewerb um Einleger) und den Industrieunternehmen zur Verfügung stellen. Die staatliche Industriepolitik gab die Signale, welche Unternehmen und Branchen besonders zu fördern waren. Probleme traten erst auf, als der Staat das Finanzsystem (wie immer halbherzig) zu deregulieren begann und – dies vor allem – die sichersten Kunden der Banken, die blue-chip-Unternehmen der Großindustrie, sich unabhängig von den Banken auf den internationalen Kapitalmärkten zu finanzieren begannen. Um ihren Umsatz zu halten, mußten sich die Banken nun weitaus riskanteren Kunden – Immobilien- und Baufirmen, Finanzierungsgesellschaften, Kleinunternehmen usw. – zuwenden. Unfähig, die höheren Risiken zu managen, bestärkt durch die Politik des billigen Geldes in den Jahren der bubble und durch Netzwerkbeziehungen zu den Kreditnehmern an „harten" Entscheidungen gehindert, häuften sie faule Kredite in astronomischen Dimensionen an.

Der Kern jedes Bankengeschäfts liegt in der langfristigen Anlage kurzfristig (d.h. jederzeit abrufbarer) eingelegter Mittel. Wenn in einer Ausnahmesituation alle Einleger ihre Konten gleichzeitig auflösen wollen, gerät die Bank in eine Liquiditätskrise. Sie geht pleite, wenn ihr nicht der Staat als lender of last resort vorübergehend Liquidität zur Verfügung stellt. Dies ist in Japan wie in den meisten westlichen Industrieländern der Fall. Wenn die Bank jedoch ihre Einlagen so angelegt hat, daß die entsprechenden Kredite nicht mehr eingebracht werden können, gerät sie in eine Insolvenzkrise. Die Problematik der japanischen Banken und der staatlichen Bankenpolitik liegt darin, daß die Grenze zwischen Liquiditäts- und Insolvenzkrise nicht genau gezogen wurde. Man tat so, als ob Akkumulation fauler Kredite ein vorübergehendes Liquiditätsproblem sei, daß durch den erwarteten Aufschwung aus der Welt gebracht werde. Erst als der Aufschwung Jahr für Jahr ausblieb, wurde deutlich, daß die Banken insolvent waren oder zu werden drohten.

Die Frage war nun, wie es um die staatliche Garantie für die Banken bestellt war. Diese Garantie war nie explizit formuliert worden, sie basierte auf impliziten Annahmen, die der traditionellen „Geleitzugpolitik" des Finanzministeriums zugrunde lagen: Banken durften in Japan nicht bankrott gehen, und im Krisenfall mußten kleinere Banken von größeren bzw. größere vom Staat ausgelöst werden. In dem Maße, in dem die Konturen des Gebirges an Problemkrediten und damit auch die potentiellen Kosten der staatlichen Garantie immer deutlicher sichtbar wurden, wurde diese staatliche Garantie selbst zum politischen Problem. Es wurde bislang nicht eindeutig gelöst.

1996 löste der japanische Staat in traditioneller Weise sieben Hypothekenbanken aus, die unter ihren faulen Krediten zusammengebrochen waren; dann ließ das Finanzministerium zu, daß zunächst kleinere, dann aber immer größere Kreditgenossenschaften und Banken zusammenbrachen; diese Welle erreichte ihren Höhepunkt Ende 1997, als das Wertpapierhaus Yamaichi Securities Konkurs anmelden mußte. Es schien, als habe sich der Staat aus seiner Verantwortung für die privaten Finanzinstitute zurückgezogen (im Laufe des Jahres 1998 dagegen wurden wieder 30 Billionen Yen als Garantiesumme für die Banken zur Verfügung gestellt). Gleichzeitig führte das Finanzministerium die neue Regel ein, daß alle im Inland operierenden Banken einen Eigenkapitalanteil von 4% ihrer Aktiva ausweisen mußten (für international operierende Banken galt schon vorher der obligatorische 8%-Kapitalanteil der BIZ). Der Zusammenbruch von Yamaichi und die neue Regulierung – so das Argument – zwangen die privaten Banken gleichsam über Nacht, ihre Risiken völlig neu zu bewerten. Die aggressive Expansionsstrategie der Vergangenheit mußte einer extrem vorsichtigen Strategie weichen. Das Ergebnis war eine dramatische Kreditverknappung, die ab Anfang 1998 vor allem kreditabhängige kleine und mittlere Unternehmen – die in Japan etwa 80% der Beschäftigung ausmachen – reihenweise in die Pleite trieb.

Die Kreditverknappung ist dieser Sichtweise zufolge die unmittelbare Ursache der Krise. Dies erklärt die Verschärfung der Krisentendenzen ab Ende 1997, als die Politik des Wartens und des Verzögerns nicht mehr griff, und die Probleme des Finanzsektors, die vorher eine eher theoretische Größe gewesen waren, direkt auf die Realwirtschaft durchschlugen. In gewisser Weise folgt die japanische Krise damit dem typischen Konjunkturverlauf im angelsächsischen Raum: Einer konjunkturellen Überhitzung mit spekulativen Begleiterscheinungen, insbesondere im Bau- und Immobiliensektor, folgt ein credit crunch, der den Boom wieder abwürgt. Spezifisch japanisch ist die Dimension des spekulativen Booms wie der Krise – der Krise eines Bankensystems, das sich des Schutzes durch den Staat gewiß wähnte und daher in besonderer Weise zu moral hazard neigte. Spezifisch japanisch wäre auch das lange Hinauszögern der notwendigen Anpassung bzw. die mangelnde Bereitschaft des Staates, den Finanzsektor der Disziplin des Marktes auszusetzen. Die notwendige Reform kann nur die Zulassung bzw. Förderung eines marktgesteuerten Bereinigungsprozesses sein.

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c) Makroökonomisches Mißmanagement

Einem dritten Ansatz zufolge liegt das Kernproblem der japanischen Konjunktur weder im Finanzsektor – dessen Probleme ergeben sich aus dem Ausbleiben des Aufschwungs, das eigentliche Problem –, noch in generellen Verschleißerscheinungen des „japanischen Modells". Selbst wenn vorausgesetzt wird, daß es in Japan großen Spielraum für Wirtschaftsreformen und Deregulierungsmaßnahmen gibt, so gilt dies auch für andere Länder. Strukturelle Verkrustungen können dazu beitragen, daß die potentielle Wachstumsrate Japans zurückgeht. Das wirkliche Problem Japans liegt aber nicht in einer sinkenden potentiellen, sondern in der zunehmenden Differenz zwischen potentieller und wirklicher Wachstumsrate. Das Schließen dieser Differenz ist die Aufgabe makroökonomischer Steuerung, und es ist das makroökonomische Mißmanagement der Regierung, das für die Krise und deren derzeitige Zuspitzung verantwortlich zu machen ist. Mit anderen Worten: Man kann einen Rückgang der potentiellen Wachstumsrate (der angesichts deren exzeptioneller Höhe in den vergangenen Dekaden nur eine Normalisierung wäre) konstatieren und auf entsprechende Strukturreformen sinnen, dies zielt aber am akuten Problem der japanischen Konjunktur vorbei. Mehr noch: Zumindest kurzfristig können Strukturreformen und Deregulierungsmaßnahmen kontraktiv wirken und die konjunkturelle Lage verschlechtern.

Schon der Auslöser der Krise war eine fehlgeleitete makroökonomische Strategie: Die „künstliche" Herabsetzung des Zinssatzes in der zweiten Hälfte der 80er Jahre ermöglichte das Aufblasen der bubble und war damit der Startschuß zur derzeitigen Krise. Nach dem Platzen der bubble und der einsetzenden Rezession/Stagnation taten die Regierungen im Prinzip – aber nur im Prinzip – das Richtige: Sie betrieben eine expansive Geld- und Fiskalpolitik. Während die Geldpolitik bis an die Grenze ihrer Möglichkeiten geführt wurde (der nominale Zinssatz liegt heute nahe an die Nullgrenze), war die Fiskalpolitik nur dem Schein nach expansiv. Zwar addiert sich das Volumen der alljährlichen Konjunkturpakete formell zu einer astronomischen Gesamtsumme (von ca. einer Billion DM bis 1998), der reale Effekt dieser Pakete ist jedoch weitaus geringer als die Zahlen suggerieren. Nur ein Teil der ausgewiesenen Finanzpakete führte der Volkswirtschaft genuin neue Nachfrage zu. Zum Teil waren die Konjunkturpakete nur ein Obertitel für staatliche Ausgaben, die unter anderen Titeln ohnehin vorgesehen waren; dies gilt etwa für das „front-loading", das Vorziehen ohnehin geplanter Projekte. Zum Teil enthielten die Konjunkturpakete Investitionskredite für private Unternehmen, d.h. sie verteilten Mittel um, erhöhten aber nicht das Niveau der Investition; in den Paketen waren auch Käufe von assets durch den Staat enthalten, die ebenfalls kein neues Einkommen schufen. Zum Teil schließlich wurde der mögliche Effekt der Konjunkturspritzen durch eine gegenläufige austeritäre Politik des regulären Staatshaushalts konterkariert.

Dabei ist zu berücksichtigen, daß die automatisch wirkenden Konjunktur-Stabilisatoren in Japan schwächer wirken als in den westlichen Industrieländern. Ein solcher automatischer Stabilisator sind die vom Staat getragenen Kosten der Arbeitslosigkeit. In Japan wird ein Großteil dieser Kosten privat getragen, von den Unternehmen, die Arbeitnehmer auch dann weiter beschäftigen, wenn sie keine wirtschaftlich sinnvolle Tätigkeit mehr ausüben, oder von den Arbeitnehmern selbst, die die (ohnehin begrenzten) Leistungen der Arbeitslosenversicherung nicht in Anspruch nehmen. Die generell schwache Entwicklung des Sozialstaats hat zur Folge, daß die private Ersparnisbildung einen höheren Anteil an der sozialen Sicherung hat als in den USA, geschweige in Europa. Eine fiskalische Expansionspolitik hätte dem Rechnung zu tragen und müßte, was die Summe der eingesetzten Mittel angeht, drastischer ausfallen als in anderen Ländern. Die Konjunkturspritzen der 90er Jahre jedoch waren – so die Schlußfolgerung – trotz der nach außen hin enormen Summen nicht ausreichend, um den privaten Nachfrageausfall zu ersetzen. Das reale Volumen aller zwischen 1992 und dem Frühjahr 1998 verabschiedeten Konjunkturprogramme liegt bei insgesamt 4,5% des BSP. Wenn man von einer potentiellen jährlichen Wachstumsrate von 2 bis 2,5% ausgeht, lag im selben Zeitraum ein theoretischer Wachstumsverlust von 9% des Sozialprodukts von 1998 vor – eine Größe weit über dem Umfang der Konjunkturprogramme.

Nur die stärkste Konjunkturspritze des Jahres 1995 (16 Billionen Yen) reichte aus, um die Wachstumsrate im Folgejahr auf 3,6% zu heben. Dieser positive Effekt wurde jedoch sofort wieder durch die Konsolidierungspolitik der Regierung Hashimoto zunichte gemacht. Die Senkung der Ausgaben für öffentliche Arbeiten, die Rücknahme von Steuererleichterungen und die Anhebung der Verbrauchssteuer von 3 auf 5% würgten die gerade einsetzende Erholung wieder ab – mit dem Ergebnis der Zuspitzung der Krise Ende 1997 und vor allem 1998.

Darüber hinaus trägt auch die Form, in der die zusätzliche Nachfrage geschaffen wird, nur wenig zur Ankurbelung der Wirtschaft bei. Die staatlichen Mittel fließen in erster Linie in infrastrukturelle Vorhaben, deren Nutzen gering ist, da das Land mit Infrastruktur bereits zugepflastert ist. Die Ausgabenprogramme nutzen vor allem der Bauindustrie, einem Wirtschaftszweig, der im internationalen Vergleich ineffizient und teuer produziert. Ein großer Teil der Konjunkturausgaben schließlich fließt an die Kommunen, die diese Mittel nicht investieren, sondern nutzen, um Schulden zu tilgen.

Hieraus ergibt sich: Die staatlichen Konjunkturpakete müssen in ihrer realen Dimension vergrößert werden; sie müßten pro Jahr bei 4% des BSP liegen. Zweitens: Im Zentrum sollten nicht Infrastrukturinvestitionen stehen, sondern Steuererleichterungen (die Verringerung der Einkommens-, nicht der Verbrauchssteuern), die permanent sein sollten, um den Haushalten die Planung ihrer Ausgaben zu erleichtern. Das Konjunkturpaket der Regierung Obuchi von 24 Billionen Yen wäre dieser Sichtweise folgend in seiner Dimension ein richtiger Schritt, allerdings ist auch dieses Paket wenig transparent. Der Anteil neu geschöpfter Nachfrage ist unklar. Steuererleichterungen machen mit 7 Billionen Yen weniger als ein Drittel des Programms aus.

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d) Korrektur der Erwartungen

Ein vierter Ansatz schließlich sieht die zentrale Ursache der japanischen Krise in der exzessiven Ersparnis der Haushalte. Die Investitionszurückhaltung der Unternehmen ist nur eine Folge des stagnierenden oder rückläufigen privaten Konsums. Das Besondere der japanischen Krise liegt darin, daß eine expansive Geldpolitik gar nicht und eine expansive Fiskalpolitik nur zum Teil greift. Die Haushalte sparen, obwohl die Geldpolitik die Ersparnisbildung nicht anreizt (der Zinssatz liegt, wie gesagt, in der Nähe der Nullinie). Und von den über die staatlich geschaffene Nachfrage neu geschaffenen Einkommen wird ein hoher Anteil gespart.

In geldpolitischer Hinsicht ist Japan in einer „Liquiditätsfalle" gefangen: Die Geldpolitik greift nicht, weil die Haushalte (und Unternehmen) bei jedem positiven Zinssatz das Halten von Liquidität dem Konsum (der Investition) vorziehen. Unter der Voraussetzung, daß die Investitionszurückhaltung der Unternehmen auf das Nachlassen der privaten Konsums reagiert, lautet die Frage: Warum halten oder erhöhen die japanischen Haushalte trotz sinkender Einkommen ihre Sparrate? Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß private Ersparnis einen im internationalen Vergleich hohen Anteil an der Absicherung gegen soziale Risiken ausmacht. Unter normalen Bedingungen freilich würde man annehmen, daß die Haushalte in einer Rezession Ersparnisse abbauen – die Ersparnisbildung dient ja der Sicherung des Lebensstandards für den Fall eines Einkommensrückgangs. Die Auflösung privater Ersparnisse würde m.a.W. in ähnlicher Weise antizyklisch wirken wie die Steigerung der staatlichen Sozialausgaben. Es ist aber auch denkbar, daß die Haushalte ihre Sparrate in Reaktion auf eine Art „Schock" prozyklisch erhöhen, d.h. ihre Ersparnis auf eine neue Wahrnehmung wirtschaftlicher und sozialer Risiken hin ausrichten. In diesem Falle wäre auch die Fiskalpolitik von nur eingeschränkter Effektivität. Die Fiskalpolitik kann die Ersparnis nur über die Einkommen beeinflussen; bei gegebener Sparrate führt die durch staatliche Nachfrage bewirkte Erhöhung der Einkommen zu mehr Konsum. Wenn die Sparrate aber nicht gegeben ist, sondern selber einer „strukturellen" Veränderung unterliegt, wird eine fiskalische Expansionspolitik nur zum Teil greifen (d.h. der Multiplikatoreffekt wird schwach sein). Dies ist – so die im folgenden zu erläuternde These – in Japan der Fall.

Es sind zwei miteinander verbundene „Schocks" bzw. plötzliche und drastische Veränderungen der Erwartungen, auf die die japanischen Haushalte mit der Erhöhung ihrer Sparrate trotz stagnierender oder rückläufiger Einkommen reagieren. Erstens reagieren sie auf einen erwarteten langfristigen Rückgang der verfügbaren Einkommen. Dies kann zum einen auf die Erwartung einer langfristig rückläufigen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Japans zurückgeführt – eine wahrscheinlich unberechtigte Extrapolation der Stagnation der 90er Jahre in die Zukunft. Ursachen sind die demographische Entwicklung – die japanische Bevölkerung altert schneller als die jedes anderen Industrielandes, und die Alterung wird nicht durch Immigration ausgeglichen – und das bereits erreichte hohe Wohlstandsniveau bei einer im internationalen Vergleich egalitären Einkommensverteilung: Die wichtigsten Konsumgütermärkte sind weitgehend saturiert. Zum andern wird erwartet, daß sich das bislang niedrige Niveau der Steuern und Sozialabgaben auf mittlere Sicht nicht wird halten lassen, ein wachsender Teil der Einkommen wird vom Staat absorbiert werden. Die Anhebung der Verbrauchssteuern von 3 auf 5% 1997 – ein für europäische Verhältnisse beneidenswert niedriges Niveau – hatte daher nicht nur eine ökonomische Wirkung, sondern sandte auch ein symbolisches Signal aus, das künftige Steuer- oder Abgabenerhöhungen anzeigte.

Der zweite und wohl wichtigere „Schock" ist die implizite Deregulierung eines vorher implizit, d.h. nicht durch Gesetze und Verträge, sondern durch Konventionen regulierten Marktes: des Arbeitsmarkts. In der Vergangenheit waren „lebenslange Beschäftigung" und Senioritätslöhne die Grundlage, auf der die Arbeitnehmerhaushalte Konsum und Ersparnis planten. Beide Basisfaktoren des japanischen Beschäftigungssystems sind in der öffentlichen Debatte so weitgehend problematisiert worden, daß die Beschäftigungssicherheit (die, wie gesagt, weder durch Gesetze noch durch Tarifverträge geschützt ist, sondern allein auf einem unausgesprochenen Übereinkommen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern basiert) de facto erodiert ist. Es bedurfte weder drastischer Präzedenzfälle wie Massenentlassungen, noch einer expliziten Deregulierungsmaßnahme, um die Erwartungen hinsichtlich lebenslanger Beschäftigungssicherheit und auch in Zukunft mit dem Dienstalter steigender Einkommen zusammenbrechen zu lassen.

In der Wahrnehmung der Arbeitnehmer entfällt der Anteil, den in der Vergangenheit die Unternehmen bei der Sicherung von Beschäftigung und Einkommen übernommen hatten (durch Weiterbeschäftigung auch in der Krise); die soziale Sicherung fällt nun ausschließlich den Arbeitnehmern zu. Den japanischen Arbeitnehmern ist ein neues Lebensrisiko erwachsen: Arbeitslosigkeit. Da die staatliche Arbeitslosenversicherung nur schwach ausgebildet ist – sie leistet Ausgleichszahlungen für maximal 300 Tage –, ist die private Ersparnisbildung das einzige Mittel, mit dem sich die Arbeitnehmer gegen Einkommensverlust als Folge möglicher Arbeitslosigkeit schützen können.

Der Erosion der lebenslangen Beschäftigungsgarantie fügen sich zwei weitere Erwartungsänderungen hinzu. Erstens haben nicht nur statistisch ablesbare demographische Trends, sondern auch und in erster Linie die intensive Diskussion über Probleme der „alternden Gesellschaft" die Unsicherheit hinsichtlich der Alterssicherung verstärkt. Die Unternehmen haben mit der (wahrgenommenen) Aufkündigung der lebenslangen Beschäftigung auch ihren Teil der Verantwortung für die Alterssicherung – hierzu gehören hohe Abfindungszahlungen beim Ausstieg aus dem Beschäftigungsverhältnis sowie Beschäftigungsangebote für ältere Arbeitnehmer (zu niedrigem Einkommen) – abgegeben. Darüber hinaus sind die betrieblichen Pensionskassen nicht in der Lage, die Leistungen zu erbringen, zu denen sie sich verpflichtet haben. Auch gilt als unsicher, ob die staatliche Rentenversicherung, die erst in den 70er Jahren eingeführt wurde und noch nicht die gefestigten Erwartungen der deutschen Rentenversicherung erzeugt hat, ihren Verpflichtungen wirklich wird nachkommen können. Zweitens ist mit den Problemen der Alterssicherung auch die Krankenversicherung in die Diskussion gekommen. Die Gesundheitsreform des Jahres 1997 (die Einführung einer Eigenbeteiligung an den Gesundheitskosten) kann als Hinweis angesehen werden, daß die Versicherten auch in Zukunft stärker als bisher an den Kosten der Krankenversicherung beteiligt werden.

In dieser Sicht ist die zunehmende prozyklische Ersparnisbildung kein konjunkturelles Phänomen, sondern ergibt sich aus einer grundlegend und dauerhaft veränderten kollektiven Erwartungsstruktur hinsichtlich der persönlichen Lebensrisiken Arbeitslosigkeit, Einkommenslosigkeit im Alter und Krankheit. Weder die Unternehmen (wie in Japan in der Vergangenheit), noch der Staat (wie in den europäischen Ländern) sichern ausreichend gegen diese Risiken ab. Also müssen die Haushalte ihre Sparrate erhöhen – bis diese auf ein Niveau angehoben wurde, das als angemessen wahrgenommen wird, um gegen die neuen sozialen Risiken abzusichern.

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e) Versuch einer Schlußfolgerung

Wirtschaftliches Wachstum – oder sein Ausbleiben – ist zu einem hohen Anteil das Ergebnis einer kollektiven self-fulfilling prophecy: Wenn sich der Mechanismus sich wechselseitig bestätigender und bestärkender positiver Erwartungen nach dem Muster einer Bankpanik (unabhängig von den fundamentals einer Wirtschaft) in ein kollektives Negativszenario verwandelt, kann sich ein massiver Vertrauensverlust der Haushalte und Unternehmen so weit stabilisieren, daß er nur durch einen „positiven Schock" deutlich sichtbarer Erfolge zu überwinden ist. Viel spricht dafür, daß Japan in eine solche grundlegende Vertrauenskrise zu geraten droht: Das größte Risiko, vor dem die japanische Wirtschaft zur Zeit steht, liegt in der Stabilisierung sich wechselseitig bestätigender negativer Erwartungen. Diese negativen Erwartungen werden täglich genährt durch immer neue Krisenmeldungen aus dem Bankensektor, durch die nach wie vor intensive, aber wenig kreative Reform- und Deregulierungsdebatte, durch die unablässige Beschwörung der „alternden Gesellschaft" als bevorstehender nationalpolitischer Katastrophe und durch die offensichtliche Unfähigkeit der Regierung, der Krise Herr zu werden.

Ein Paradox der gegenwärtigen Situation liegt darin, daß sich in der öffentlichen Diskussion in Japan der aus den USA beförderte „neoliberale Konsens" so weitgehend und ohne Gegenstimme durchgesetzt hat, daß die eigene Realität nur noch als einzige große Abweichung wahrgenommen wird, an deren Korrektur aber niemand glaubt. Es gilt als ausgemacht, daß die „lebenslange Beschäftigung" fallen muß, wenn die japanische Wirtschaft im Wettbewerb überstehen soll, daß soziale Sicherungssysteme zu kostspielig und ineffizient und daher ab- statt auszubauen sind, daß ein hoher Staatsanteil an der Wirtschaft zu vermeiden ist, daß angesichts der demographischen Alterung von allen Verzicht gefordert ist und daß es an den Individuen liegt, gegen mögliche soziale Risiken vorzusorgen.

Derselbe Konsens, der es japanischen Regierungen früher politisch erlaubte, auf den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme weitgehend zu verzichten, führt heute dazu, daß die Haushalte in der Erhöhung ihrer Ersparnis den einzigen Schutz gegen unvermeidlich eintretende Risiken sehen können. Die Anhebung der Ersparnis ist die einzig rationale Reaktion der Haushalte auf die Krise; die individuelle Rationalität der Haushalte addiert sich unter den heutigen Bedingungen aber zur volkswirtschaftlichen Irrationalität.

Gibt es einen Ausweg aus dem Teufelskreise negativer Erwartungen und – in der Folge – individuell rationaler, aber kollektiv schädlicher wirtschaftlicher Entscheidungen?

  • Keinen Ausweg bietet die Reform- und Deregulierungsdebatte, so wie sie in den letzten Jahren geführt wurde. Die Erhöhung der Sparrate reagiert auf die implizite Deregulierung eines zentralen Marktes. Reformen und Deregulierungen, die im Ergebnis die wahrgenommenen persönlichen Lebensrisiken erhöhen und zur individuellen Vorsorge zwingen, werden zur Bestätigung negativer Erwartungen und, in der Folge, zu vermehrter Ersparnisbildung, sinkendem Konsum und sinkender Investition beitragen.

  • Angesichts der „Liquiditätsfalle" greift die konventionelle Geldpolitik, die ausgereizt ist (der nominale Zinssatz kann nicht unter Null liegen) per definitionem nicht. Die Frage ist, ob eine nicht-konventionelle Geldpolitik, wie Paul Krugman sie vorschlägt, anwendbar und wirksam ist. In einer Situation, so Krugman, in der wie heute in Japan eine langfristig rückläufige Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft erwartet wird, kann der reale Zinssatz, der Ersparnis und Investition in Übereinstimmung bringt, negativ sein. Ein real negativer Zinssatz läßt sich nur bei steigenden Preisen herstellen. Bei steigenden Preisen werden die Sparer durch einen kontinuierlichen realen Vermögensverlust bestraft. Wenn die Zentralbank Inflation zulassen oder befördern soll, müßte sie allerdings glaubhaft machen, daß sie im Sinne ihrer traditionellen Verantwortung verantwortungslos handeln wird – eine eher unrealistische Annahme.

  • Die Wirkung einer expansiven Fiskalpolitik ist ambivalent zu bewerten. Auf der einen Seite verfehlen die üblichen Argumente gegen eine expansive Fiskalpolitik unter den gegebenen Bedingungen ihr Ziel: Ein Steigen der Zinsen und das crowding-out des Kapitalmarkts zu Lasten der privaten Investition ist nicht zu befürchten, da die private Investitionsnachfrage extrem schwach und weitgehend unsensibel für das Zinsniveau ist. Auf der anderen Seite wird ein relevanter Teil der vom Staat geschaffenen neuen Einkommen gespart werden; der Multiplikatoreffekt der staatlich geschaffenen Einkommen wird also vergleichsweise niedrig sein. Dies begrenzt die Wirksamkeit der Expansionspolitik, macht sie aber nicht überflüssig – zumal sie mit relativ geringen volkswirtschaftlichen Risiken betrieben werden kann. Voraussetzung ist freilich, daß die Politik der rituellen Konjunkturpakete – die Politik der astronomischen Zahlen, bei begrenzten genuinen Nachfrageeffekten – korrigiert wird. Gleichzeitig müssen jedoch auch mögliche negative Folgen der expansiven Fiskalpolitik berücksichtigt werden. Da die Erhöhung des staatlichen Haushaltsdefizits, das schon heute um mehr als das Dreifache über dem in den Eurostaaten zulässigen Niveau liegt, den Arbeitnehmern nicht verborgen bleiben wird, wird sie automatisch auch die Unsicherheit hinsichtlich der künftigen Leistungen der staatlichen Alters-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung bzw. die Befürchtung eines Anstiegs der Steuer- und Sozialabgaben verstärken. Der kurzfristig positive Effekt zusätzlicher Nachfrage könnte durch den negativen Einfluß auf die langfristigen Erwartungen beeinträchtigt werden.

  • Eine expansive Fiskalpolitik müßte daher von einer Reformpolitik ergänzt werden, die sich auf die Dimension erwarteter sozialer Risiken auswirkt oder den Zwang zur Ersparnisbildung an anderer Stelle abmildert. Wenn der Staat einen größeren Anteil der sozialen Absicherung übernähme, würde er die heute prozyklische private Ersparnisbildung entlasten und durch einen antizyklischen Stabilisator ersetzen. Einen ähnlichen Effekt hätten Reformen in den Bereichen, die die japanischen Haushalte traditionell und unabhängig von der Konjunktur zu einer hohen Ersparnisbildung zwingen: im Ausbildungssystem und im Wohnungsbereich. Da derartige Reformen nur langfristig zu realisieren sind, würde sich ihr kurzfristiger ökonomischer Effekt in engen Grenzen halten. Entscheidend wäre eher die Wirkung auf die längerfristigen Erwartungen als auf den kurzfristigen Einkommenseffekt.

  • Eine Reform des Bankensystems ist unabdingbar – was aber nicht heißt, daß die Finanzreform ein Allheilmittel gegen die Krise wäre. Obwohl der credit crunch Ende 1997 zur Verschärfung der Krise beigetragen hat, liegt die Ursache der japanischen Krise nicht im Niedergang der „finanziellen Vermittlungsfähigkeit" der Banken (vom credit crunch betroffen war in erster Linie das relational lending, die „Kreditgewährung aufgrund wechselseitiger Verpflichtungen", in deren Rahmen die Banken Kleinunternehmen aus Liquiditätsengpässen halfen, wenn sie mit diesen in längerfristigen Beziehungen standen). Eine Reform ist notwendig, weil die Banken (und die gesamte Volkswirtschaft) trotz aller Pleiten der letzten Jahre das größte Risiko noch vor sich haben: Die Möglichkeit eines massiven Abzugs der eingelegten Mittel, einer kollektiven Flucht der Sparer aus dem Banksystem. Zwar haben viele Japaner schon heute ihre Einlagen in die (vermeintlich) sicherere Postsparkasse transferiert bzw. horten ihre Mittel in häuslichen Safes. Diese Bewegung hat noch keine gefährliche Dimension angenommen – was nicht so bleiben muß.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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