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1. Cold Pizza: Wenig Neues in der Politik

Schleichgang auf dem Vulkan

Der Sturm im Wasserglas des japanischen politischen Systems, der sich im Sommer 1993 erhoben hatte, war im November 1998 endgültig abgeflaut. 1993 hatte die Spaltung der größten, reichsten und berüchtigtsten Fraktion der regierenden LDP, der Heiseikai, zum ersten Regierungswechsel seit fast 40 Jahren geführt: Die Liberaldemokratische Partei (LDP) wurde für acht Monate in die Opposition verbannt. Die Renegaten unter Ichiro Ozawa bildeten den Kern der neuen Regierung Hosokawa. Als die LDP mit Hilfe der Sozialdemokraten wieder glücklich an die Regierung gelangte, bildeten die Renegaten unter dem Etikett Shinshinto eine, wie es schien, starke und regierungsfähige Oppositionspartei. Im November 1998 kehrte der kleine Rest dessen, was von der Shinshinto übrig geblieben war, reumütig in die Arme der LDP zurück. Die verbliebenen ehemaligen Shinshinto-Abgeordneten bildeten ein Bündnis mit der LDP, das in eine formelle Koalition münden soll. Freilich reicht das Gewicht der letzten Getreuen Ozawas nicht mehr aus, um der LDP die Mehrheit in beiden Häusern des Parlaments zu garantieren: Im Oberhaus bleibt die LDP trotz des neuen Zuwachses in der Minderheit. Das neue Bündnis ist politisch daher belanglos, hat aber eine gewisse symbolische Bedeutung: Die alte Heiseikai, der machtpolitische Kern der LDP, ist wieder hergestellt. Es ist, wie es scheint, alles wieder beim alten.

Daß alles wieder beim alten bleiben soll, zeigte auch die Reaktion der LDP auf die Oberhauswahlen vom Juli des Jahres 1998: Die Wähler bereiteten der LDP eine erdrutschartige Niederlage und bestraften damit die Regierung Hashimoto, der sie die Schuld für die desolate Wirtschaftslage zuwiesen. Hashimoto trat erwartungsgemäß zurück, und bei der Bestimmung seines Nachfolgers inszenierte die LDP einen Schaukampf, dessen Ergebnis von vornherein feststand. Um das vakante Amt des Parteipräsidenten (der automatisch Ministerpräsident wird) bewarben sich drei Kandidaten: Der Post- und Telekommunikationsminister Koizumi, der sich mit der Forderung nach Privatisierung der Postsparkasse hervorgetan hatte; der Regierungssprecher Kajiyama, dessen Spezialität darin liegt, die japanische Kriegsvergangenheit zu glorifizieren; und Außenminister Obuchi, der der japanischen Öffentlichkeit eigentlich nur dadurch bekannt war, daß er die offizielle Bezeichnung der Regierungszeit des Tenno Akihito, Heisei (nach japanischer Zeitrechnung ist 1998 das Jahr Heisei 10) bekanntgegeben hatte. „Cold Pizza" lautete die respektlose Qualifikation der amerikanischen Medien – „Pizza kann man aufwärmen", so die eher bestätigende Antwort Obuchis.

Bonin, gunin, henin: Ein „Langweiler" (Obuchi), ein „Militarist" (Kajiyama), eine „komische Figur" (Koizumi) – dies war die Qualifikation, die die LDP-Abgeordnete Makiko Tanaka, Tochter des berühmt-berüchtigten ehemaligen Premierminister Kakuei Tanaka, vornahm. Gewählt wurde der Langweiler und zwar nicht, weil er das kleinste der Übel, sondern weil er „dran" war: Die rituelle Logik der Fraktionsauseinandersetzungen und des Proporzes ließen keine andere Möglichkeit zu. Für die Bestimmung des japanischen Regierungschefs ist weder dessen Popularität ausschlaggebend – die Popularität Obuchis ist kaum höher als die wirtschaftliche Wachstumsrate Japans –, noch gar dessen politisches Profil oder seine vermutete Fähigkeit, der Probleme des Landes Herr zu werden. Ausschlaggebend sind allein Fraktionsproporz und Seniorität. Bezeichnend auch die Intensität, mit der sich Obuchi nach seiner Wahl erfolgreich bemühte, den greisen Kiichi Miyazawa als Finanzminister zu gewinnen. Miyazawas Leistungen: Als Finanzminister hatte er an entscheidender Stelle dazu beigetragen, daß sich die bubble economy – die Wurzel aller heute beklagten wirtschaftlichen Übel – aufblasen konnte, und als Premierminister war er an der politischen Reform gescheitert; er hat den erstmaligen Machtverlust der LDP nach 38 Regierungsjahren zu verantworten. Also der richtige Mann, um die schwere Krise im japanischen Finanzsystem zu meistern: Gemäß der Logik der japanischen Politik qualifiziert ihn seine Erfahrung, die das hohe Alter von 80 Jahren belegt.

In einer Zeit, in der die japanische Wirtschaft ein dramatisches Krisensignal nach dem anderen aussendet, in der die Welt vor dem Zusammenbruch der nächsten japanischen Großbank zittert, und in der, von den USA ausgehend, das Japan-bashing wieder Konjunktur hat – wobei das vorherrschende Motiv aber nicht mehr Japans unfaire Vorteilsnahme im internationalen Handel ist, sondern seine „Reformunfähigkeit" –, in einer Zeit schließlich, in der die asiatischen Nachbarn wirtschaftlich am Boden liegen und auf den japanischen Markt angewiesen wären, gefallen sich die LDP-Politiker in der Fortsetzung ihrer politischen Rituale, die einem einzigen Ziel dienen – der Sicherung ihrer Macht. Man möchte von einem „Tanz auf dem Vulkan" sprechen, doch das Bild des Tanzes (nicht des Vulkans) ist überzogen: Eher handelt es sich um einen ox-walk, den rituellen Schleichgang im japanischen Parlament, mit dem parlamentarische Entscheidungen traditionell verzögert werden. Die Politik Japans unter der LDP in ihrer gegenwärtigen Verfassung ist ein selbstreferenzielles System, das seine Umwelt auch nur wahrzunehmen ganz offensichtlich nicht mehr in der Lage ist.

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Japan und China

Was für die Wirtschaft gilt, trifft auch auf die Außenbeziehungen zu. Im November besuchte Chinas Präsident Jiang Zemin Japan – es war das erste Mal in den 2000 Jahren, in denen in China und Japan Formen der Staatlichkeit bestehen, daß ein chinesisches Staatsoberhaupt zu einem Staatsbesuch nach Japan kam. Die japanische Regierung war nicht in der Lage, diese historische Situation zu nutzen, um die bilaterale Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen. Kern der Problematik war – wieder! – das Verhältnis Japans zu seiner jüngsten Geschichte. Von chinesischer Seite war erwartet worden, daß sich die japanische Regierung offiziell für die Greuel des Aggressionskrieges gegen China entschuldigte; die japanische Regierung war hierzu nicht bereit. In dem Abschlußkommuniqué des Besuchsprogramms tauchte das Wort „Entschuldigung" nicht auf, statt dessen sollte „Bedauern" genügen. Dies wiederum reichte Jiang nicht aus, so daß das Kommuniqué schließlich ohne Unterschrift blieb (der koreanische Präsidenten Kim Dae-jung dagegen war einen Monat früher in den Genuß der Entschuldigung gekommen, die Jiang verweigert wurde).

Dieser neue Rückschlag in den chinesisch-japanischen Beziehungen läßt sich historisch-moralisch wie praktisch bewerten. Moralisch mag man ein Problem damit haben (dies hat jedenfalls der Economist), einem Vertreter der Kommunistischen Partei Chinas und damit eines Regimes, das wahrscheinlich kaum weniger chinesische Opfer zu verantworten hat als die japanische Aggression, eine Entschuldigung für Greueltaten der Vergangenheit anzubieten – zumal die Distanz zwischen Jiang und Mao geringer ist als die zwischen Obuchi und den japanischen Militärs der 30er und 40er Jahre. Gleichwohl: Wenn es wirklich eine Distanz zwischen der modernen Demokratie Japans und der Militärdiktatur der Vergangenheit geben soll, dürfte es keine grundlegenden Probleme bereiten, eine Entschuldigung für eine Aggression auszusprechen, die nachweisbar von Japan zu verantworten ist, die nachweisbar mit massiven Kriegsverbrechen verbunden war und die nachweisbar viele Millionen Opfer (Schätzungen sprechen von 14 Millionen) forderte. Gerade die systematische Weigerung, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen – die vom Erziehungsministerium zensierten Geschichtsbücher belegen dies – bzw. deren Glorifizierung zum antikolonialen Befreiungskrieg im Interesse der asiatischen Nationen, läßt nicht nur bei den unmittelbaren Nachbarn Japans den Verdacht aufkommen, die Kontinuität zwischen der LDP und dem Militärstaat der 30er Jahre – insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit China – sei stärker als der formale, von den USA erzwungene Bruch mit der Vergangenheit suggeriere.

In praktischer Hinsicht hat Japan eine weitere Gelegenheit verstreichen lassen, um die Beziehungen zwischen den Nationen Ostasiens auf eine kooperative Grundlage zu stellen. Während sich die wirtschaftlichen Beziehungen in der Region – in erster Linie auf Initiative japanischer Unternehmen – in der letzten Dekade intensiviert haben, befinden sich die politischen Beziehungen in einer Art Naturzustand.

Die wirtschaftlich bereits weitgehend integrierte Region wird sicherheitspolitisch in erster Linie durch die Präsenz der USA zusammengehalten. Ohne kooperative Beziehungen zu seinen Nachbarn sind auch Japan selbst die Hände gebunden, eigenständige Initiativen zu ergreifen. Gerade die Asienkrise – und dabei nicht zuletzt die im besten Fall ambivalente Krisenstrategie des IWF (d.h. der USA) – hat aber gezeigt, daß diese einseitige, in sicherheitspolitischer Hinsicht unverzichtbare Abhängigkeit wirtschaftlich auch Schaden anrichten kann. Die sinnvolle Initiative Japans zur Bildung eines Asiatischen Währungsfonds war in dem Augenblick zum Scheitern verurteilt, als in Washington ein rotes Lämpchen aufglühte (heute wird der japanische Ansatz auch in den USA schon wieder anders bewertet). Mit anderen Worten: Wenn Japan darauf verzichtet, die politischen Beziehungen zu seinen Nachbarn auf eine neue Grundlage zu stellen – und Voraussetzung hierfür ist die Überwindung der aus der Vergangenheit rührenden wechselseitigen Abneigungen –, verzichtet es auch darauf, seinen eigenen wirtschaftlichen Interessen Geltung zu verschaffen. Es verbleibt politisch in einer autistisch-isolationistischen Position, die seine Unternehmen wirtschaftlich längst überwunden haben.

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Die Demokratische Partei Japans:
Ein Lichtblick?


Einen Lichtblick dagegen bietet die Demokratische Partei Japans (Minshuto), die von den Verlusten der LDP in den Oberhauswahlen profitieren konnte und bei der nicht mehr ausgeschlossen werden kann, daß sie auch die nächsten Unterhauswahlen (spätestens im Sommer 2000) für sich entscheidet. Die Minshuto vereinigt junge ehemalige LDP-Politiker mit den moderaten Kräften der alten Sozialdemokratischen Partei (SDPJ) und hat in den letzten beiden Jahren auch die liberalen Kräfte der zerfallenden Shinshinto integrieren können. Wann sich die Reste der SDPJ der Minshuto anschließen, ist eine Frage der Zeit – die Koalition der LDP mit den Getreuen Ozawas wird ihnen gar keine andere Option lassen. Die Minshuto ist zur stärksten Oppositionspartei geworden, die mit der Unterstützung fast aller Gewerkschaften rechnen kann, die sich trotz ihrer noch vagen Programmatik als realistische Alternative zur LDP profiliert und – für japanische Oppositionsparteien eher die Ausnahme – auch eigene Alternativkonzepte vorlegt. So fand das Programm der Minshuto zur Überwindung der Bankenkrise international die Anerkennung, die der Regierungspolitik versagt blieb. Was die persönliche Popularität angeht, so führt der ehemalige Sozialminister und Minshuto-Präsident Naoto Kan die Liste der japanischen Politiker an.

Allerdings weist die Minshuto eine Sollbruchstelle auf, die kennzeichnend für japanische Oppositionsparteien generell ist: Soll die Partei, dem Vorbild der alten SDPJ folgend, einer edlen und idealistischen Oppositionshaltung frönen – die Option des Gründers Yukio Hatoyama –, oder soll sie auch um den Preis der Selbstbefleckung Kompromisse mit der LDP suchen (die Option des Parteipräsidenten Naoto Kan)? Im Unterschied zu der deutschen Grünen Partei ist die Differenz zwischen „Fundamentalisten" und „Realisten" bei der Minshuto nicht an bestimmte sachliche Ziele gebunden – im Sinne etwa einer kompromißlosen oder kompromißbereiten Umweltpolitik –, sondern besteht eher um ihrer selbst willen. Kompromißlosigkeit wie Kompromißbereitschaft sind „Haltungen", die keiner Begründung durch spezifische Zielsetzungen bedürfen.

Trotzdem ein Lichtblick: Der Versuch, der LDP-Dauerherrschaft durch eine zweite LDP – der Shinshinto Ichiro Ozawas – ein Ende zu setzen, ist gescheitert. Jetzt steht die Minshuto vor der Alternative, den alten fundamentalen, aber politisch bedeutungslosen Gegensatz zwischen LDP und Sozialdemokratie im neuen Gewande wiederaufleben zu lassen oder aber das zu tun, was Oppositionsparteien in parlamentarischen Demokratien eben tun: Die Regierungsmacht anstreben, um die Politik ihres Landes zu gestalten, ohne dabei mit der regierenden Kraft zu verschmelzen. Ob die Minshuto diesen zweiten Weg gehen wird, ist offen, im Interesse des Landes wäre es aber unabdingbar, daß sie es tut.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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