FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:

[Seite der Druckausg.: 13 ]


„Clearly, countries which can master and assimilate
the new technologies more quickly will be able
to improve their global competitiveness
and thus the standard of living of their people.
For this reason, forward-looking governments in many countries
have joined the race to position themselves as early leaders
in adopting the new technological paradigm.„
PRESIDENTIAL COMMISSION
„The New Information and Communication Technologies„
Santiago de Chile, 20. Januar 1999

„But we need, as a country, to overcome
our fear of these new technologies if we are to catch up
with the United States and parts of Scandinavia.
I readily admit this applies to me.„
Prime Minister Tony Blair
Cambridge, 13. September 1999

„Globalization’s rules have set off a race
to lay claim to knowledge.„
UNDP-Human Development Report 1999
(Chapter 2) on New Technologies
and the Race for Knowledge,
London, 12. Juli 1999




1. Von Papieren und Initiativen


1.1 Viele Wege – ein Ziel

Die Informationsgesellschaft hat weltweit keine Gegner. Alle hier betrachteten Länder wollen in Richtung einer Informationsgesellschaft agieren oder wenigstens reagieren. Es herrscht eine solche Einigkeit über das Ziel, dass dies schon an die bürgerliche Revolutionsepoche des 18. und 19. Jahrhunderts gemahnt, wo Menschenrechte und Demokratie das durchgängige und alles überstrahlende Diskursmuster waren. Zugespitzt könnte man sagen, dass sich die verschiedenen „Ismen„ pünktlich zum Jahrtausendwechsel verabschiedet haben. Oberflächlich betrachtet, ist das Ziel Informationsgesellschaft ideologiegeschichtlich an die Stelle der oft antagonistischen Gesellschaftsentwürfe getreten, auch bei wohlwollender Betrachtung finden sich überdies Züge einer Heilserwartung, die je nach Blickwinkel technokratische, kreuzzüglerische oder sogar eschatologische Facetten aufweist.

Bei genauerem Hinsehen verflüchtigen sich aber die historischen Vexierbilder, und die Informationsgesellschaft stellt sich einige Ebenen tiefer als eine Plattform dar, auf der sich eine globalisierte Welt als „marktwirtschaftliche Zivilgesellschaft„ nach westlichem Muster organisieren kann. Eine solche Tieferstufung schmälert in nichts die großartige Chance dieser leitbildarti-

[Seite der Druckausg.: 14 ]

gen Plattform, die eine neue Dimension der Perspektive darstellt. Aber genau wie bei anderen Plattformen – etwa „Markt„ oder „Demokratie„ – wird es auf dieser Plattform immer wieder eher unstrittige zentristische Positionen und eben auch fragwürdige Randpositionen geben. Vielleicht wird es sogar „informationsgesellschaftliche„ Positionen geben, die diktatorisch und/ oder totalitär sind. Noch ist das Leitbild einer Informationsgesellschaft viel zu schwammig, und erst die nächsten Jahrzehnte werden zeigen, ob es sich in den Köpfen der Menschen handlungsleitend festsetzen kann.

Der Mainstream der Informationsgesellschaftsentwicklung definiert sich eher durch Konnotationen als durch den Begriff selbst. Und diese Konnotationen sind durchweg positiv und tragen den Bezeichner „mehr„: Innovation, Arbeitsplätze, Bildung, Wohlstand, Kultur, Identität, Ressourcenschonung, Internationalismus, Demokratie, Bürgerrechte, Partizipation, Tempo, Transparenz und dann und wann ein wenig heile Welt. Es darf von allem ein bißchen mehr sein. Ein Begriff, der sich hauptsächlich über seine Konnotationen definiert, ist natürlich austauschbar, die Konnotationen gelten ebenso für die „Wissensgesellschaft„, die „Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts„, die „Dienstleistungsgesellschaft„ oder sämtliche anderen „post-bindestrichelnden Gesellschaften„. Wie sehr die Konnotationen den Begriff verändern, ist am Beispiel „Arbeitsplätze„ drastisch darstellbar: War vor 30 Jahren weltweit der Traum vom Vierstundentag mit Hilfe von Maschinen und Robotern (das gleichsam automatisierte Hinübergleiten ins Reich der Freiheit) vorherrschend, so ist es heute die Hoffnung auf Schaffung neuer qualifizierter Arbeitsplätze (das gleichsam internetgesteuerte Verharren im Reich der Notwendigkeit).

Wenn man die vielen Wege zum Ziel Informationsgesellschaft betrachtet, finden sich derzeit weltweit eigentlich nur unterschiedliche Reihenfolgen der Konnotationen. So steht in Portugal die Verteidigung der Demokratie ganz obenan, in Frankreich die (frankophone) Kultur, in Finnland die Anpassung an die globalisierte Ökonomie, in Italien der Wunsch nach besser strukturierter öffentlicher Verwaltung, in Spanien die Bildung, ein jeder halt nach seinen tagesaktuellen Bedürfnissen. Alle Länder diskutieren miteinander über Sprachgrenzen hinweg durch die Globalsprache Englisch, außer den anglophonen Ländern und Deutschland (die einen brauchen keine Übersetzung, die Deutschen wollen scheinbar keine).

Es wäre, wie die letzte Klammerbemerkung zeigt, reizvoll gewesen, in das vorliegende kleine „Konnotationsbenchmarking„ auch Deutschland einzubeziehen. Zum einen hätte dies aber sofort den Rahmen dieser Publikation [Diese Publikation knüpft an das Kapitel der Länderkurzberichte von Mosdorf, Siegmar: Bausteine für einen Masterplan Informationsgesellschaft, Bonn 1998 (FES) an und schreibt diese zum Teil aktuell fort.] gesprengt, zum anderen ist durch die Autoren der „deutsche Blick„ auf das, was die anderen tun, ständig eingeschaltet. Denn deutschen Beobachtern fällt natürlich in der notwendig gekürzten Analyse besonders das als „höchst bemerkenswert„ auf, was in den anderen Ländern offensichtlich ganz selbstverständlich ist:

[Seite der Druckausg.: 15 ]

  • dass die Franzosen oder Dänen im Parlament über alle Parteigrenzen hinweg Initiativen entfalten;
  • dass die Finnen keine Zeit mit der Verteilung von staatlichen Geldern verlieren, indem sie einfach keine zur Verfügung stellen;
  • dass fast alle Länder den jeweiligen Regierungschef an die Spitze der Aktionsprogramme stellen und seinen Amtssitz zum Portal für die Informationsgesellschaft machen;
  • dass die meisten betrachteten Länder mit „Informationsgesellschaft„ deutliche wirtschaftliche, kulturelle oder soziale Aktivziele verbinden;
  • dass Spanien seinen Aktionsplan zur Informationsgesellschaft mit den vorhandenen Plänen für Bildung und Forschung sowie mit dem nationalen Plan für Beschäftigung koordiniert;
  • und dass es in anderen Ländern den handelnden Politikern erlaubt ist, auf eigene Versäumnisse und Mängel hinzuweisen.

So mag es bei einer Untersuchung der „nicht-deutschen Wege zur Informationsgesellschaft„ erlaubt sein, wenigstens in der Einleitung ein wenig ironisch auf die nachweislichen Spitzenleistungen Deutschlands im weltweiten Vergleich hinzuweisen: Kein Land der Welt hat so viele unverbundene Expertenkreise und Initiativen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft wie wir. Kein Land der Welt hat so viele föderale und individuelle Einzelwege hin zur Informationsgesellschaft wie wir. Keine Legislative und Exekutive der Welt kann es sich wie unsere leisten, erarbeitete Aktionspläne oder Enquête-Expertisen früherer Jahre ungelesen in den Schrank zu stellen. Kein Land der Welt hat so viele schwach genutzte Höchstleistungskommunikationsnetze wie wir. Kein Land der Welt hat relativ so viele Steuergelder für die Informationsgesellschaft bereitgestellt wie wir. Und kein Land der Welt leistet sich eine Kulturszene mit Feuilletonspeerspitzen, die für die Hauptakteure der Informationsgesellschaft in Politik, Technik und Wirtschaft nicht selten nur Hohn und Spott übrig haben. Außerdem bauen wir bekanntlich die besten Autos.

Für uns ordnungsliebende Deutsche sind manche ausländische Wege in die Informationsgesellschaft nota bene der blanke Horror: Schweden katapultiert sich unter flagranter Verletzung europäischer Bestimmungen bei der PC-Nutzung an die Spitze, indem es der Wirtschaft nicht fiskalisch verbietet, ihren Mitarbeitern PC zu schenken. Finnland erklärt in einem Regierungsprogramm 1994 die Wettbewerbsfähigkeit der Firma Nokia zum Aktionsziel und hat ohne relevante Geldzuschüsse fünf Jahre danach das Unternehmen mit dem höchsten Börsenwert Europas bekommen. Frankreich vernetzt seine Verwaltung und redet offen davon, künftig auch außerhalb Frankreichs – offenbar ohne Rücksicht auf gewachsene Beamtentraditionen wie in Deutschland – Verwaltungsdienstleistungen anzubieten. Österreich hat mit der Absolventenzahl des „Internationalen Computerführerscheins„ Deutschland rücksichtslos überholt und liegt vor uns auf Platz vier. Der englische Premierminister Blair entschuldigt sich öffentlich für seine Unkenntnis und besucht Computerkurse gleich um die Ecke von Downing Street 10. Die ungarische Regierung verlangt von jedem

[Seite der Druckausg.: 16 ]

neuen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes den Nachweis fundierter Computerkenntnisse. Der französische Premier Jospin erklärt seelenruhig in Zwischenberichten, welche Ziele von der Regierung (noch) nicht erreicht wurden. Chile will innerhalb von zehn Jahren im Informatiksektor zu den großen zehn gehören und ist stolz darauf, dass schon 20 Prozent seiner Computer unter Linux laufen, Frankreich startete im Januar 2000 sogar eine Initiative zu Open Source, die ganz klar darauf gerichtet ist, den Geschäftserfolg des bei uns heilig gesprochenen Bill Gates zu säkularisieren.

Unser spezifisch deutscher Kommentar zu diesen weltweiten Entwicklungen lautet: Ja, dürfen die das denn?

Page Top

1.2 Stellenwert von Aktionsplänen

Aktionspläne von staatlichen oder para-staatlichen Organisationen sind überall auf der Welt ohne Zweifel letztlich nur Papier. Und Papier ist geduldig. Wenn hier dennoch Papiere analysiert werden, dann nicht nur deswegen, weil auf der ganzen Welt im Jahrestakt neue Papiere geschrieben werden. Vielmehr zeigt gerade das Beispiel Finnlands, dem in Europa ersten Land, das einen „Aktionsplan„ aufgestellt hat, dass ein Papier, hinter dem sich die relevanten Akteure versammeln, sogar an die Stelle staatlich finanzierter Projekte treten kann. In diesem Sinn ist ein wirkliches Konsenspapier für einen Standort von ungeheurem Wert. Wenn es denn als „handlungsleitende Basis„ im Konsens aller Akteure angesehen wird, dabei aber bei aller Konkretheit (z.B. „wir wollen allen Bürgern so schnell wie möglich einen Netzzugang schaffen„) noch hinreichend Interpretationsspielräume für die einzelnen Akteure läßt, dann bündelt es die Kräfte hinreichend. Wenn der gleiche Satz in einem Papier eines vereinzelten Akteurs auftaucht, der sich nicht mit den anderen darauf verständigt hat, dann ist er nicht „konkret„, sondern gehört in die Kategorie „Sonntagssprüche„.

Vor allem aber ist es also bei all diesen Papieren wichtig, dass die beteiligten und die angesprochenen Akteure sich über die gewaltige, dramatisch zu nennende Herausforderung einig sind. Im Fall Finnlands wurde vor über sieben Jahren – etwas zugespitzt – vor allem der Leidensdruck eines kleinen randständigen Industrielandes deutlich: „Wo, wenn nicht auf dem Gebiet und mit der Anwendung der IuK-Technik, können wir Finnen die derzeitige Wirtschaftskrise bewältigen, die auch noch mit leeren öffentlichen Kassen einher geht?„. Und wo in Europa in einem solchen Papier eben auch der Unterton der Verzweiflung („an der Wand stehen„, „Vorsprung einholen„ etc.) mitschwingt, schaffen es die US-Amerikaner sogar noch mit der Verstärkung der latent eh vorhandenen Begeisterungsfähigkeit für alle „Pioniertaten„, dieselbe Frage in heiterer Dur-Tonart zu stellen. Diese amerikanische Kultur kann wohl nur bedingt in Deutschland erwartet werden, ein Satz wie „wir wollen die Welt mit den Produkten von SAP beglücken„ wäre für einen Politiker nicht nur peinlich, sondern würde auch nicht in der Tagesschau [Eigentlich kennen nur die deutschen Medien Umschreibun gen wie „Stuttgarter Automobilhersteller„, „südwestdeutscher Elektronikhersteller„ oder „Hamburger Nachrichten magazin„. In USA heißt es nicht „großer Softwarehersteller in Seattle„, sondern „Microsoft„.] gebracht werden.

[Seite der Druckausg.: 17 ]

Auf der ganzen Welt werden die Aktionsprogramme nach nahezu identischem Muster erzeugt. In der Regel ist Grundlage eine Expertenkommission, die sich aus Vertretern des Staates, der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft und manchmal auch der gesellschaftlichen Gruppen zusammensetzt. Diese „Fachleute„, die wir während der Recherche scherzhaft als die „üblichen Verdächtigen„ bezeichnet haben, werden immer wieder in „Kommissionen„ oder „Beiräten„ zusammengeführt, wobei regelmäßig Großordinarien oder Großinstitutsleiter ihre feste Bank haben. Uneinheitlich ist die Beteiligung von Fachleuten aus der Industrie: Neben den Top-Managern und Forschern sind es oft die politischen Repräsentanten (nur in Deutschland pejorativ als „Lobbyisten„ bezeichnet), zunehmend aber auch Mitarbeiter von Stiftungen der Wirtschaft (etwa AOL-Stiftung, Fundesco-Stiftung der spanischen Telefonica). Die Firmenvertreter kommen vor allem aus der internationalen Informationstechnik (z.B. IBM, HP), den Consultants (etwa Price Waterhouse), den neuen Betreibern (etwa der spanischen Airtel), sehr viel seltener sind die alten Monopolunternehmen (z.B. France Télécom) vertreten. Kaum eine Rolle spielen in den Expertengremien außerhalb der USA (AT&T) und Skandinaviens (Ericsson, Nokia) die Kommunikationstechnik-Hersteller [Dies hängt vor allem mit den schwach beteiligten „alten„ Betreibern zusammen, deren Verhalten das der kommunikationstechnischen Industrie absolut determiniert. Im Unterschied zur Informationstechnik, die schon immer den direkten Markt - und Kundenkontakt hatte, brauchen die KT-Unternehmen eigentlich immer den Transmissionsriemen eines Betreibers, um neue Märkte zu bearbeiten.] .

Stets gibt es eine hinreichend intensive Arbeitsphase mit Entwurfspapieren aus den verschiedenen Lagern, ebenso regelmäßig fällt es einem „harten Kern„ (oft sogar einem einzelnen Akteur) zu, den ersten konsistenten Gesamtentwurf zu schreiben. In den meisten Fällen folgt dann sogar noch eine mehrmonatige Diskussionsphase, in der dieser erste Entwurf ergänzt, gestrafft oder geändert wird. Unterschiede werden in föderal organisierten Staaten (etwa Italien) und bei starken nationalen Regionen (Wales in UK, Cataluña in Spanien) deutlich, weil hier zum Teil auch „Minderheitsvoten„ einfließen, die eben die Profilierung ausmachen. Hervorzuheben ist, dass weltweit in den Papieren zwar deutliche politische Nuancierungen zu entdecken sind (Beispiel ist die Betonung der „Demokratiesicherung durch die Informationsgesellschaft„ in Portugal), aber keine ausgesprochenen „parteipolitischen Minderheitsvoten„.

Ein fast durchgehendes Muster ist der „Gore-Effekt„. Die Initiative des amerikanischen Vizepräsidenten von 1993 für eine „National Infrastructure Initiative„ (NII) hat überall auf der Welt Spuren in der Diskussion um die Informationsgesellschaft hinterlassen. Daran kann auch die Tatsache nichts ändern, dass die Amerikaner mit dieser „europäischen„ Infrastrukturausbaustrategie auf sehr hohem Niveau stehengeblieben sind und dass Al Gore mittlerweile als angehender Präsidentschaftskandidat hinsichtlich Themenwahl und Qualität seine visionären Publikationen aus früheren Zeiten ab und an vergessen macht. Hängengeblieben ist weltweit in fast allen Akteurskreisen, dass es die Person an der Spitze oder doch wenigstens ein Mann oder eine Frau aus der engeren Führung sein muss, die gleichsam die Personifizierung eines koordinierten und dynamischen Vorgehens beim Weg in die Informationsge-

[Seite der Druckausg.: 18 ]

sellschaft darstellt. Es ist allerdings kaum vorstellbar, dass es für die Informationsgesellschaft – bei aller Wichtigkeit des „commitments„ der Hierarchiespitzen gemäß dem „Gore-Effekt„ – einzelne Denker oder Macher geben wird, die zu Lebzeiten als unbestrittene Ikonen der Gesellschaftsentwicklung gelten könnten. Wenn man ehrlich in die Historie zurückschaut, können Einzelne immer nur Anstöße geben – Gesellschaften werden auch im 21. Jahrhundert von der Vielzahl der Menschen gemacht, nicht vorab auf Millimeterpapier oder mit dem CAD-System konstruiert. Und schon gar nicht mit Textversatzstücken aus dem Textverarbeitungsprogramm.

In Europa ist der Gore-Effekt vor allem als Wunschbild bei den Akteuren aus der Wirtschaft (und hier wiederum bei deren Verbänden) festzustellen. In gewissem Sinn wurde eine ähnliche Rolle für Martin Bangemann, den langjährigen Kommissar der DG XIII der EU, gewünscht. Dieser konnte die Rolle aber nicht ausfüllen [Dabei hat möglicherweise auch die Tatsache eine Rolle gespielt, dass Bangemann ein Repräsentant einer kleinen Partei (F.D.P.) war, der die großen Parteien die Themenführerschaft einfach nicht gönnten.] . Unbestritten ist jedoch: Die Initiativen des EU-Gipfels in Korfu 1994 und die Farbbücher der Bangemann-Ära haben eine Anstoßwirkung in vielen europäischen Ländern gehabt. In vielen Fällen wird dies explizit in den Präambeln der Papiere betont, was auch damit zu erklären ist, dass einige Aktionsprogramme im Rahmen von EU-Projekten erstellt wurden. Die großen Länder wie Frankreich, England und Deutschland haben im Zusammenhang für die EU-Initiativen ein eher höfliches Verhältnis, es gibt eher so etwas wie einen „EU-Schwanz„ nach dem Motto „übrigens„.

Die untersuchten Präsidialdemokratien USA und Frankreich folgen ansonsten einem ähnlichen Muster wie die anderen Länder, das jedoch einen bedeutsamen Unterschied zu Beginn der Meinungsbildung aufweist. In USA konnte Vizepräsident Al Gore auf eine detaillierte NTIA-Studie sowie auf ein konkludentes Aktionsprogramm des (inzwischen aufgelösten) Office for Technology Assessment (OTA) aufsetzen und damit den Schwung der unter Wirtschaftsägide operierenden Initiativen (etwa der von Hewlett & Packard angestoßenen Smart Valley Initiative) ausnützen. In Frankreich fand das für unser Nachbarland typische Ablaufmuster Anwendung: Problemaufriss nach gründlicher Analyse („Dossier„), Begeisterung der Hierarchiespitze (monatelang angekündigte „Grundsatzrede„), anschließendes Umsetzen der Direktiven der „Pariser Zentralen„ bis ins letzte Departement (klarer Zeit- und Stufenplan der Staatsbeamten). Eine hochprofessionelle kleine Truppe um Ministerpräsident Jospin „füttert„ diesen bis heute mit den aktuellen und wichtigen Problemstellungen und Lösungen, so dass die jährliche Grundsatzrede tatsächlich nicht das Wiederkäuen bekannter Positionen ist, sondern neue Impulse setzt. Sowohl in den USA als auch in Frankreich kommen die „korporatistischen„ Stimmen in vollem Umfang zu Wort, „reine„ Regierungs- oder Gruppenpapiere sind jedoch die Ausnahme. Gerade aus der Sicht deutscher Beobachter ist es erstaunlich, wie sowohl die USA als auch Frankreich mit ganz unterschiedlichen Mitteln den öffentlichen Diskurs am Laufen halten, in den eingerichteten Foren (zumeist im Internet)

[Seite der Druckausg.: 19 ]

finden sich Spinnerbeiträge neben tiefschürfenden Wissenschaftsanalysen oder politischen Handlungsanregungen. Auch die Presse der Netzgemeinde nimmt an diesem Diskurs teil, ein (hierzulande üblicher) separater (oder sogar distanter) Diskurs der Netzgemeinde über die Aktionen der anderen Akteure konnte trotz heftiger Suche nicht gefunden werden: Die systematische Aufhebung der Trennung von isolierten Diskussionen ist das weltweit auffallende Muster der Internetdiskussion, das in deutsche Augen Tränen der Trauer oder in die Gesichter den blassen Neid treibt.

Den „Aktionsprogrammlern„ der Welt ist an noch weitergehender Kommunikation gelegen, indem die wichtigsten Diskussionsbeiträge mindestens in die „Netzsprache„ Englisch übersetzt werden, Frankreich glänzt ferner mit deutschen, spanischen und japanischen Versionen. Die großen „Internetnationen„ haben zudem aufwendige aktuelle Mailingdienste eingerichtet (so waren im Herbst 1999 verschiedene deutsche Papiere in den französischen und englischen Foren zu lesen, noch bevor sie in den deutschen Server gestellt wurden). Mit entwaffnender Begeisterung und Sammelwut fordern die verschiedenen Mailingdienste die gesamte internationale Netzwelt auf, Beiträge oder Dokumente zur Informationsgesellschaft zur Verfügung zu stellen. Für polyglotte Weltbürger ist die Teilnahme an diesen Foren ein immer wieder beglückendes Erlebnis. Es verwundert überhaupt nicht, dass die französischen Mailingdienste regelmäßig auch auf die britischen und die anderen Homepages hinweisen und dass die Italiener mit Mitteln des Außenministeriums (!) Arbeitsressourcen für die intereuropäische Kommunikation der Programme bereitstellen. Es wurden jedoch keine Belege gefunden, dass die jeweiligen Papiere der Länder in einer Interaktion entstanden sind, nach der Veröffentlichung der Papiere aber herrscht ein munteres Querverweisen per Hyperlink. Relativ selten sind auch Aussagen nach dem Motto „Machen wir es wie die Skandinavier oder Amerikaner!„ – das best-practice-Prinzip scheint für Aktionsprogramme nicht [Große Ausnahme ist der wenige Monate alte Plan XXI Spaniens, wo wiederholt auf andere Länder rekurriert wird. Spanien will sogar ein eigenes „Observatorium für best practice„ (observatorio de las mejores prácticas) einrichten.] zu gelten.

Eine weitere Schwierigkeit für den deutschen Betrachter ist gerade im Zusammenhang mit der Sprache in der Tatsache zu sehen, dass die romanischen Sprachen (vornan Frankreich [Seit Mitte der neunziger Jahre ist das „Sprachreinheitsgebot„ der französischen Regierung in Kraft.] ) nicht einfach die englischen Fachvokabeln übernehmen, sondern selbstverständlich eigene Wörter [Auch die Durchsicht der Dokumente in den Autoren nicht geläufigen Sprachen zeigte wenig „bekannte„ englische Fachausdrücke und Abkürzungen, so dass an dieser Stelle vermutet werden darf, dass die Anglizismen aus übersprachlichen Motivationen heraus gewählt werden.] verwenden. So kann man das französische „l'édition multimédia„ nur mit dem in Deutschland eingebürgerten Begriff „Multimedia-Editing„ übersetzen, ein Begriff wie „Multimedia-Bearbeitung„ würde hierzulande Reaktionen von Unverständnis bis Belächeln erzeugen, auf jeden Fall aber einen äußerst „altertümelnden„ Eindruck machen. Was bei uns „Tools„ heißt, nennen die Franzosen, Italiener und Spanier in ihren Sprachen „Hilfsmittel„ – die Reihe der „unbedrängt verwendeten Anglizismen„ ist in Deutschland entsetzlich lang und einer gesonderten Betrachtung wert. Manche Bezeichnungen sind aus ideologischen Gründen nicht übersetzbar: Den spanischen Ausdruck „autoempleo„

[Seite der Druckausg.: 20 ]

müßte man korrekt mit „Eigenarbeitgeberschaft„ übersetzen, in der deutschen Diskussion heißt dieses Phänomen aber bezeichnenderweise „Scheinselbstständigkeit„ [So unterstützt Spanien neben der Telearbeit eben auch die Eigenarbeitgeberschaft und nicht etwa die Scheinselbststän digkeit.] , bis sich vielleicht irgendwann der Ausdruck „Selbstangestellter„ [Peter Fischer, Die Selbständigen von morgen. Unternehmer oder Tagelöhner? Frankfurt am Main 1995, S. 119f.] durchsetzt. Wo erforderlich, stehen die Ausdrücke der Originaltexte in Klammern dahinter. Internationaler Konsens besteht bei der Inflation von Akronymen: Nicht nur bei den modischen Internetabkürzungen, sondern eigentlich bei allem Abkürzbaren schlagen die jeweiligen Verfasser zu, als gebe es keine Textverarbeitungssysteme mit Autokorrektur [Wie im Deutschen werden auch in den anderen Ländern die gleichsagenden Kürzel „IuK„, „IKT„, „TIME„ (samt aller Varianten) in jedem größeren Dokument einheitlich ver wendet, in der Hoffnung, diese Abkürzung werde sich durchsetzen.] .

Page Top

1.3 Methodische Eingrenzung der Untersuchung

Die Reihenfolge der Behandlung der einzelnen Länder ist von den Autoren so gewählt worden, dass sich die im Thema angelegten Wiederholungen in Grenzen halten. Die Aktionspläne und Strategiepapiere sind von sehr unterschiedlicher analytischer Tiefe, in einigen Fällen reichte es deswegen aus, nur signifikante Veränderungen oder Besonderheiten in die kurze Länderübersicht aufzunehmen. Der Auftraggeber des Gutachtens hatte sich zu Beginn auch ein „Benchmarking„ gewünscht. Dies war ein legitimes Interesse, das besonders bei einem Vergleich mit deutschen Aktionsplänen und Regierungsprogrammen gewiss seinen Reiz gehabt hätte. Jedoch sind die aktuellen deutschen Beiträge – also das BMWi/BMBF-Aktionsprogramm „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts„ mit dem Forum Informationsgesellschaft 21, die Initiative D21 von über 100 Unternehmen sowie Staat-Modern.de des BMI – nicht Teil dieses Gutachtens [Die Autoren gehören in Deutschland durch die Mitarbeit bei Papieren und in Arbeitskreisen selbst zum Kreis der „üblichen Verdächtigen„; die methodische Gefahr der „teilnehmenden Beobachtung„ oder gar der „Selbstevaluation„ wird so vermieden.] . Ein Benchmarking ist zudem methodisch sehr schwierig, wenn überhaupt, zu fassen [Gleichwohl wird es immer wieder – mit durchaus interes santen Resultaten – versucht. Siehe z.B. Prognos AG: Bench marking zum Entwicklungsstand der Informationsgesellschaft und zur Wettbewerbsfähigkeit der informations - und kommunikationstechnischen Industrie am Standort Deutsch land. Abschlussbericht zum Projekt der Prognos AG für das Bundesministerium für Wirtschaft, Basel 1998.] . In vielen Fällen lesen sich die einzelnen geplanten Aktionen der verschiedenen Länder gleich, sie wären nur durch die Hinterlegung mit den entsprechenden Finanzvolumina bewertbar. Kostenangaben (wie aktuell in Spanien) sind jedoch äußerst selten. Einen Trendhinweis kann man hingegen den Reihenfolgen entnehmen, in denen die einzelnen Aktionslinien aufgeführt sind. Die Annahme ist plausibel, dass in der Reihenfolge, in der zum Beispiel Wirtschaftsentwicklung oder Bildungsmaßnahmen genannt werden, ein bewertbarer Trend steckt.

Noch eine Erläuterung zu den Übersetzungen: Die meisten Aktionsprogramme oder deren Entsprechungen sind auch in englischer Sprache im Internet bzw. im Web eingestellt. Allerdings können aktuelle Ergänzungsdokumente (z.B. Diskussionsforen und Mailinglisten) nur in der jeweiligen Landessprache gelesen werden. Die Übersetzungen aus dem Englischen stammen von den Autoren, die aus dem Französischen,

[Seite der Druckausg.: 21 ]

dem Spanischen, dem Italienischen sowie dem Portugiesischen von Dieter Klumpp. Bei anderen Sprachen konnten nur die jeweiligen internationalen Seiten analysiert werden.

Zur Materiallage: Es gilt das Web-Prinzip von selbst suchen, finden, drucken und ablegen, was allein für diese Untersuchung rund 4.000 Seiten waren. Das verheißungsvolle „Observatorium Informationsgesellschaft„ der UNESCO ist leider weder in Hinsicht Aktualität (z.B. Deutschland auf dem Stand von 1997 – das IuKDG) noch in Hinsicht Übersetzung sehr hilfreich; es verweist lediglich auf URLs, die sicher einmal existiert haben (etwa die englische Version des katalonischen Aktionsprogramms), aber heute nicht mehr. Dennoch ist das Observatorium ein möglicher Einstieg in das Thema [Vgl. www.unesco.org/webworld/observatory/index.shtml.] .

Die ungeheure Materialfülle, die im Zusammenhang mit den diversen Aktionsplänen dieser Welt – vorwiegend über das Internet – zum Themenbereich Informationsgesellschaft über den Untersucher hereinbricht, macht ein valides Benchmarking aufgrund dieser völlig heterogenen Datenbasis unmöglich. Denn es ist nur möglich, die wichtigsten Trends und Angaben in einer – notwendigerweise schmerzliche Lücken erzeugenden – Zusammenfassung darzustellen. Den durchaus denkbaren Vergleich rein quantitativer Angaben (etwa die Internetanschlussdichte oder die PC-Ausstattung der Haushalte) haben die Autoren unterdrückt und dies vor allem aus zwei Gründen: Erstens sind die statistischen Angaben ebenfalls völlig heterogen (was ist ein „multimediafähiger PC„, wie soll man einen reinen Spielcomputer trotz seiner technischen Superausstattung im Zusammenhang mit der Informationsgesellschaft bewerten etc.). Zweitens bringt es gerade die „Internetökonomie„ (Arnold Picot/Axel Zerdick) mit sich, dass nicht Prozentzahlen der „kompetenten„ (bzw. „vernetzten„) Bevölkerung die absolute Aussage über den Status im Wettrennen bringen. Ein paar tausend Programmierer im weißrussischen Minsk [Weißrussland war nicht Teil der Untersuchung.] können in der Internetökonomie eine bedeutsame Macht auf dem Markt darstellen, obwohl die meisten Weißrussen vielleicht noch wenig von Computern und Internet gesehen haben.

Die erwähnte heterogene Datenbasis ist zum Teil auch auf das Charakteristikum der Internet- oder Webquellen zurückzuführen, das die klassische Quellenbewertung des Historikers in „Tradition„ und „Überrest„ deutlich transzendiert. Man könnte die Quelle als eine dritte Kategorie mit „Flüchtigkeit„ umschreiben [Wichtige Aussagen oder Texte waren in einigen Fällen schon bei der nächsten gemeinsamen Autorensitzung schlichtweg nicht mehr im Netz, so dass eine Verfußnotung von Netzquellen – selbst unter Hinzufügung von Datum und Uhrzeit keinerlei Belegkraft mehr hätte. Noch extremer ist das Ausmaß der Adressenänderung, der so genannten URL. Dieser „Uniform Resource Locator„ ist ebenfalls nur als „flüchtig„ anzusehen.] . Bis zu einer völligen Umgestaltung der Internet- und Webadressenschemata kann der in der Wissenschaft übliche Prozess der Nachvollziehbarkeit nur durch das Vertrauen auf die Analysierenden ersetzt werden. Dass ausgerechnet in einer heraufdämmernden „Wissensgesellschaft„ das Wissen der Vergangenheit in der Netzexistenz nicht mehr statisch, sondern immer mehr dynamisch vorliegt, ist eine noch nicht absehbare Herausforderung.

[Seite der Druckausg.: 22 ]

Eine weitere denkbare Erwartung an die Untersuchung gilt es zu dämpfen: Es gibt – anders als etwa in der medienpolitischen Debatte – keine validen empirischen Belege für parteipolitische Differenzierungen. In den Papieren der Welt zur Informationsgesellschaft sind zwar oft die Verfasser genannt, aber diese sind – mit Ausnahme der Abgeordneten – nicht parteipolitisch zuzuordnen. Eine erfahrungsbasierte Abschätzung im beliebten „Links-rechts-Schema„ ist seriös nicht möglich. Unseriös wird jedoch die These vertreten, dass die „Informationsgesellschaftler-Gemeinde„ dieser Welt zu über zwei Dritteln eher links vom virtuellen Trennstrich steht, sich aber genau wie das andere Drittel eher als „unideologisch„ definiert und das Wort „technokratisch„ nicht als Beleidigung empfinden würde. Dennoch ist ein latentes Spannungsverhältnis zwischen den Akteuren der Politik und der Wirtschaft (samt den von beiden Seiten gepflegten „unabhängigen„ Wissenschaftlern) gegeben, weil die Meinungskonvergenz in Arbeitsgruppen nun einmal nicht zur Konvergenz an der Wahlurne führt. Das konservative Fürsorgeprinzip formuliert „alle Schüler sollten einen PC haben„, das fortschrittliche Lager sagt lieber „alle Schüler haben Anspruch auf einen PC„ (wobei der Anspruch sich längst nicht mehr allein an den „Staat„ richtet). Dem Schüler, der einen PC bekommt, ist es aber wohl ziemlich gleichgültig [Hauptsache ist in den Augen der Schüler, dass der PC gut genug ist, um in der Pause Multimediaspiele wie Tomb Raider darauf machen zu können.] , ob dieser aus Fürsorge- oder aus Solidaritätsdenken stammt.

Alle staatlichen Akteure rund um die Aktionsprogramme sind sich explizit oder implizit einig, dass sie an einem Wettlauf hin zur Informationsgesellschaft teilnehmen. In Davos 2000 diskutierten auch die Manager über „Gewinnstrategien im Internet-Rennen„. Die Wortwahl ist oft der Sportsphäre entnommen, aber hinter den lockeren Gemeinplätzchen steht bei genauem Hinsehen der bittere Ernst: Die verantwortlichen Akteure wissen, dass es um ein Ranking mit ungeheuren Konsequenzen geht und nicht um den Grand Prix de la Chanson.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 2000

Previous Page TOC Next Page