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Deutschlands stagnierende Produktivität: Faktoren und Aspekte

Der beunruhigende Fakt

Über viele Jahre hinweg ist die Arbeitsproduktivität am Standort D langsamer gestiegen als in fast allen anderen Industrieländern.

In wichtigen Branchen ist Deutschland von seinen Konkurrenten klar überholt worden, was Produktivität betrifft.

Nun sind internationale Produktivitätsvergleiche ein schwieriges Feld, und man darf die statistischen Zahlen nicht für bare Münze nehmen. Für einen Wirtschaftsstandort, der in puncto Arbeitskosten, Steuern und Umweltauflagen zu den teuersten der Welt gehört, ist der Befund trotzdem alarmierend. Auch der hohe Qualitätsstandard deutscher Produkte kann einen Produktivitätsrückstand auf breiter Front nicht wettmachen; denn nur ein Teil der Produktion läßt sich mit Qualitätsvorsprüngen dem internationalen Preiswettbewerb entziehen. Selbst in Hochtechnologiebereichen wird die Zeitspanne, in der dies möglich ist, immer kürzer. Die in diesen Bereichen zu verdienende Innovativitätsrente fällt immer schneller dem Imitationswettbewerb zum Opfer. Und hier entscheiden Kosten und somit Produktivität über den Markterfolg.

Quellen der Ineffizienz

Eine Erklärung muß an einer Reihe von Punkten ansetzen. Drei unmittelbare Ursachen scheinen eine Rolle zu spielen:

Verzögerter Strukturwandel: Relativ unproduktive Aktivitäten wurden nicht in hinreichendem Ausmaß eingestellt, sondern am Leben erhalten und dem Leistungsdruck des Wettbewerbs entzogen. Dies drückt die gesamtwirtschaftliche Durchschnittsproduktivität.

Ineffiziente Arbeitsabläufe: Verglichen mit den Fortschritten anderswo blieben viele Arbeitsabläufe am Standort D relativ ineffizient. Die Wichtigkeit dieses Erklärungsfaktors wird bekräftigt durch den Befund einer vergleichenden Studie des Mc-Kinsey Global Institute aus dem Jahre 1993.

Zu kleine Betriebe: In einigen Branchen ist das Gewicht relativ ineffizienter, weil zu hohen Skalenerträgen unfähiger, Mittel- und Kleinbetriebe am Standort D noch beträchtlich höher als anderswo (Beispiel: Nahrungsmittelindustrie).

In einigen Branchen (z.B. im Elektronik-Informatik-Komplex) mag es ausschlaggebend gewesen sein, daß mangels rechtzeitiger Absatzerfolge der Durchbruch in den Bereich hoher Skalenerträge nicht gelang. Produktivitätsrückstände sind hier eine Folge von strategischer Unterlegenheit.

Wenig deutet hingegen daraufhin, daß die Maschinenausstattung und (infolge starrer Arbeitszeitregelungen) die Maschinenlaufzeiten deutscher Betriebe hinter den internationalen Standards zurückgeblieben wären oder daß die deutsche Arbeitsmoral hinter die anderer Länder zurückgefallen wäre.

Tieferliegende Gründe

Trägheitssyndrom: Sowohl der verzögerte Strukturwandel als auch die mangelnde Modernisierung der Betriebsabläufe können als die Ergebnisse eines Trägheitssyndroms angesehen werden, das mit den früheren und anhaltenden Erfolgen der westdeutschen Wirtschaft zusammenhängt.

Einschneidende organisatorische Änderungen erfordern hohen Management-Aufwand. Außerdem sind sie oft mit Opfern für wichtige Beteiligte (Arbeitsplatz- und Privilegienverluste) verbunden und stoßen also tendenziell auf Widerstand. Hinreichend starker äußerer Druck ist deshalb eine generelle Voraussetzung dafür, daß derartig ungeliebte Änderungen in Angriff genommen werden und Aussicht auf Durchsetzung haben.

Es spricht einiges dafür, daß am Standort D die Resistenz gegen schmerzhafte Anpassungen stärker ist als anderswo. Der Bedarf an äußerem Druck ist deswegen vermutlich höher. Aber gerade für die deutsche Wirtschaft wurde der notwendige Druck erst sehr spät spürbar.

Subtile Abschirmung gegen den internationalen Konkurrenzdruck: Drei Faktoren haben der deutschen Wirtschaft den internationalen Markterfolg lange Zeit erleichtert und ihre zunehmend schwächer werdende Produktivitätsflanke gleichsam abgesichert:

  • der hohe Qualitätsbonus, den der Markt deutschen Produkten zuerkannt und sie somit vom Kostenwettbewerb befreit hat (Beispiel Maschinenbau);

  • die starke Konzentration auf den europäischen Markt mit all seinen Schutzmechanismen gegen außereuropäische Konkurrenz (Beispiel Autos);

  • die latente Unterbewertung der D-Mark, die durch die stabilitätsbetonte deutsche Wirtschaftspolitik und das stabilitätssichernde Verhalten der deutschen Tarifpartner bewußt oder unbewußt gepflegt wurde.

Gesellschaftliche Inflexibilität? Die Beharrungstendenz sozialer und organisatorischer Strukturen entspricht einer Art soziologischem Grundgesetz. Sie ist universal und gilt für ganze Wirtschaftssysteme ebenso wie für einzelne Unternehmen. Die Frage ist jedoch, ob die Kräfte der Beharrung in Deutschland stärker sind als anderswo. Daß wichtige Akteure ein stärkeres Interesse an bestehenden Strukturen haben als anderswo, dafür gibt es keine Anzeichen. Gleichwohl ließe sich die Anpassungsfreudigkeit auf Arbeitnehmerseite eventuell erhöhen, wenn individuelle wirtschaftliche Sicherheit weniger eng an den spezifischen Arbeitsplatz in einem spezifischen Unternehmen gekoppelt, sondern „überbetrieblich" gewährleistet wäre (etwa wie in Schweden).

Die entscheidendere Frage ist freilich, ob die Status-quo-Interessenten am Standort D mächtiger sind als anderswo.

Relativ autonomes Management: Auf der Ebene der Unternehmensführung könnte die vergleichsweise hohe Autonomie des Managements gegenüber der Eigentümerseite den latenten Widerstand gegen Verschlankungsmaßnahmen stärken. Andererseits erleichtert sie langfristiges strategisches Vorgehen (im Unterschied zur kurzatmigen Bilanzpflege mit Blick auf Aktionäre und Finanzmärkte).

Mächtige Arbeitnehmer: Die tendenziellen Hauptbetroffenen sowohl von sektorweiten Strukturanpassungen als auch von betrieblichen Rationalisierungen, die Arbeitnehmer, sind in Deutschland besser organisiert und politisch mächtiger als in vielen anderen Industrieländern, von neu industrialisierenden Ländern ganz zu schweigen. Die Dispositionsfreiheit von Wirtschaftspolitik und Management „über die Köpfe der Arbeitnehmer hinweg" dürfte deshalb geringer sein. Diese Mitbestimmung der Arbeitnehmer über ihr wirtschaftliches Schicksal ist ebenso wie die politische Demokratie gesellschaftlich gewollt - unabhängig davon, ob sie Anpassungsprozesse erleichtert oder erschwert. Das sollte aber nicht den Blick davor verschließen, daß sie das oben angesprochene Trägheitsmoment verstärken kann. Die Zustimmung der Arbeitnehmerseite zu schmerzhaften Anpassungen ist nicht ohne besonderen Überzeugungs- und Absicherungsaufwand zu bekommen. De facto dürfte dies auf selten des Managements die Neigung verstärkt haben, an „bewährten" Organisationsformen festzuhalten, solange der Wettbewerbsdruck dies zuläßt.

Einfluß von Interessenkoalitionen: Es ist heute in der Bundesrepublik Deutschland notorisch schwer, bestimmte Branchen, die am Markt kaum noch Chancen haben, ihrem Schicksal zu überlassen und die Volkswirtschaft von ihnen zu „entlasten". Unternehmer, Arbeitnehmer und die regionale/lokale Politik bilden Strukturerhaltungs-Koalitionen, die zu übergehen, die nationale Politik anscheinend nicht in der Lage ist. Der vielbeachtete amerikanische Soziologe Mancur Olson sieht den Einfluß solcher Interessenkoalitionen mit anhaltender politischer und gesellschaftlicher Stabilität wachsen. In der Tat wurde in der Umbruchsituation Ostdeutschlands ganz anders mit „marktwidrigen" Interessen verfahren. Allerdings trifft die „institutionelle Sklerose", wie Olson sie nennt, nicht nur den Standort D, sondern auch die meisten etablierten Konkurrenzstandorte.

Der Wendepunkt Anfang der 90er Jahre

Die Kombination von schwerer Rezession und Standortangst Anfang der 90er Jahre hat ein Klima geschaffen, in dem viele einschneidende Änderungen akzeptabel geworden sind. Allem Anschein nach wurde die Gelegenheit auch vielfach genutzt, um drastische Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung durchzuziehen. „Lean produc-tion" wurde zu einem Schlüsselbegriff. Die Verschlankung des Managements - ein immer wichtigerer Aspekt von Produktivität - steht freilich noch weitgehend aus.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1999

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