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[Seite der Druckausgabe: 1 / Fortsetzung]

II.

Diese Positionsbestimmung ist heute schwieriger denn je.

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Die Legitimität staatlichen Handelns bestimmt sich nicht mehr allein danach, ob sie mit der vorgegebenen Ordnung übereinstimmt. Heute kommt es auch darauf an, ob die Bürgerinnen und Bürger mit den Ergebnissen staatlichen Handelns zufrieden sind.

Aber wann sind sie das? Mir erscheint, die Erwartungen an den Staat waren selten so diffus und widersprüchlich wie heute.

Einerseits gilt der Staat als unproduktiv und schwerfällig. Je weniger Staat, desto besser, sagen manche und meinen vor allem unbegrenzte wirtschaftliche Entfaltung - frei von staatlichen Restriktionen zum Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen, zum Schutz vor Lärm oder anderen gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Beschäftigten, Verbrauchern oder Anwohnern.

Andererseits waren die Anforderungen und Erwartungen an den Staat selten so hoch wie heute.

Es gibt immer mehr Lebensbereiche, in denen der Staat eingreifen muß, um widerstreitende individuelle und öffentliche Interessen auszugleichen: zwischen den geschiedenen Elternteilen und dem Kindeswohl, zwischen Nachbarn, zwischen Betreibern und Anwohnern eines Gewerbegebietes, zwischen denen, die ein Naturschutzgebiet erhalten wollen und denen, die sich just dort eine bessere Verkehrsverbindung vom Wohnort zum Arbeitsplatz wünschen.

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Es gibt immer mehr Lebensbereiche, in denen der Staat Schutz gewährleisten, Teilhabe ermöglichen oder Beratung sicherstellen muß. Sei es durch Datenschutzbestimmungen oder durch staatliche Aufsicht über Versicherungen und über die hygienischen Bedingungen in Gaststätten. Sei es durch Finanzierung von Schuldnerberatung, Drogenberatung oder Aids-Hilfe. Oder sei es durch die Sicherung einer Telekommunikationsinfrastruktur, die jedem Menschen zu vertretbaren Bedingungen Zugriff auf die Instrumente der Informationsgesellschaft ermöglicht.

Es gibt immer mehr Bereiche, in denen der Staat gesellschaftliche Funktionen übernimmt. Zum Beispiel, wenn in der Schule erst einmal grundlegende Spielregeln der friedlichen Konfliktlösung vermittelt werden müssen, bevor die Kinder Lesen, Schreiben oder Rechnen lernen können.

Noch komplizierter wird die Positionsbestimmung des Staates dadurch, daß selbst diejenigen, die im Bereich der Wirtschaft auf Deregulierung dringen, beim Thema innere Sicherheit durchaus nach einem immer stärkeren Staat rufen. Der Staat soll sich aus den Unternehmen heraushalten - sofern er keine Subventionen dabei hat -, aber er in die Wohnzimmer seiner Bürgerinnen und Bürger darf er hineinlauschen.

Und noch ein Punkt kommt hinzu: Weniger Staat bedeutet mehr Verantwortung für den einzelnen. Das soll zwar genau das sein, was der Bürger will. Wenn aus der Verantwortung Haftungsrisiken werden, stimmt das so aber nicht mehr. Dann

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ist wieder der Staat gefragt.

In Schleswig-Holstein zum Beispiel haben wir als innovativen Schritt hin zu weniger Staat die Landesbauordnung geändert.

Als eine Konsequenz von vielen müssen jetzt Architekten letztverantwortlich prüfen, ob der Abstand zum Nachbarn eingehalten ist. Der Staat rechnet nicht mehr nach. Dafür diskutieren die Architektenkammer und anderen Interessenverbänden jetzt mit uns über die Auswirkungen der neuen Aufgabenverteilung. Die Wirklichkeit ist doch meist komplexer als diejenigen glauben machen wollen, die angeblich ganz genau wissen, was der Bürger will und was nicht.

Nur in einem Punkt ist das Meinungsbild in der Gesellschaft eindeutig: Der Staat ist zu teuer. Die Schmerzgrenze für die Belastung mit Steuern und Abgaben ist für viele erreicht, für manche überschritten.

Die Gemengelage an unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Erwartungen an den Staat macht es schwer, ein neues Leitbild für den modernen Staat zu entwickeln.

Die Politik kann nicht so tun, als läge dieses neue Leitbild längst klar auf der Hand. Tatsächlich streiten ganz unterschiedliche Entwürfe miteinander, die auf ganz unterschiedlichen Vorstellungen davon beruhen, wohin sich diese Gesellschaft entwickeln soll.

Wer schlanker Staat sagt und Minimalstaat meint, hat sich von

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den sozialen Komponenten unserer Marktwirtschaft verabschiedet. Der setzt auf eine Form von Gesellschaft, in der jeder seines Glückes Schmied ist.

Wer schmieden kann. ist fein heraus in so einer Gesellschaft. Noch nie gab es so hochbezahlte Jobs wie heute. Noch nie gab es mehr Möglichkeiten, zu konsumieren und sich zu amüsieren. Selten gab es bessere Möglichkeiten, aus vorhandenem Geld noch mehr Geld zu machen. Noch nie war es so leicht, Geld ganz legal am Finanzamt vorbeizuleiten.

Wer nicht schmieden kann, ist in so einer Gesellschaft selbst Schuld. Der wird bestenfalls vom Staat versorgt. Der muß nicht hungern und hat hoffentlich auch ein Dach über dem Kopf. Aber teilnehmen am gesellschaftlichen Leben kann er nicht mehr. Ein Chance, für sich selbst zu sorgen, bekommt er nicht.

Meine Vorstellung von Gemeinwohl sieht anders aus. Meine Vorstellung ist noch immer eine Gesellschaft, in der jeder Mensch die Chance bekommt, selbstbestimmt zu leben. Das heißt, für sich selbst und die Angehörigen sorgen zu können, den Kindern eine Ausbildung ermöglichen zu können, an gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozessen teilnehmen zu können, bei Krankheit und im Alter versorgt zu sein. In dieser Gesellschaft hat nicht jeder und jede gleich viel, aber jeder und jede hat genug für ein menschenwürdiges Leben.

Das alles geht für mich nur in einer Gesellschaft aktiver und solidarischer Bürgerinnen und Bürger. Das geht für mich nur

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mit einem leistungsfähigen Staat, der sich heraushält, wenn Menschen für sich selbst und andere Verantwortung übernehmen. Der aber überall dort aktiv ist, wo nur er die Voraussetzungen für eine humane Bürgergesellschaft schaffen und erhalten kann. Dazu gehören innere und äußere Sicherheit, Infrastruktur, sozialer Ausgleich, Bildungseinrichtungen und die Vorsorge für nachwachsende Generationen.

Ich meine, in einer hochentwickelten, immer komplexer werdenden Industrie-. Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft. die gleichzeitig eine humane Bürgergesellschaft sein will, nimmt die Bedeutung des Staates weiter zu und nicht ab.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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