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II. Fallbeispiele




1. Agrarpolitik

Am Beispiel der Agrarpolitik läßt sich zeigen wie ein Politikbereich ohne eine kritische Überprüfung von Zielen und Maßnahmen sich über Jahrzehnte hinweg verselbständigt. Die Ziele der Verbände werden zu Zielen des Ministeriums. Offensichtliche Widersprüche und Fehlsteuerungen werden nicht mehr aufgedeckt. Agrarpolitik und Agrarbürokratie reproduzieren sich selbst und immunisieren sich gegenüber Einflüssen und kritischen Fragen von außen. Bestandteil dieser Immunisierung ist, daß die Agrarpolitik immer nur zerlegt in Teilaufgaben bearbeitet, dargestellt und diskutiert wird.

1.1 Widersprüchliche Ziele

Die Agrarpolitik repräsentiert ein besonders klares Beispiel dafür, daß ein Ministerium über Jahrzehnte hinweg eine widersprüchliche Politik betreibt. Entsprechend dem erklärten Selbstverständnis der Agrarpolitik soll versucht werden, den seit mehr als hundert Jahren anhaltenden Schrumpfungsprozeß der Landwirtschaft sozial abzusichern, weil Bauern im wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß, nachdem sie sich für einen lebenslangen Beruf mit hoher Spezialisierung entschieden haben, in erhebliche Anpassungsschwierigkeiten geraten. Ihr gesamtes Vermögen ist auf ihren Grundstücken gebunden. Im gegebenen Beruf gibt es oft Jahre nach der Berufsentscheidung keine Möglichkeit, ein ausreichendes Einkommen zu erzielen. Die spezifische Abhängigkeit von einer örtlich gebundenen Produktionsgrundlage macht die besonderen Anstrengungen verständlich, die von der Politik unternommen wurden, um solche Härten zu vermeiden. Die getroffenen Maßnahmen müßten geeignet sein, die Zahl der Personen, die von solchen Anpassungshärten betroffen sind, zu verringern. Die Politik hat demgegenüber Zwischenziele, etwa die Verringerung der Disparitäten von Einkommen, ins Zentrum gestellt. Zugunsten der jeweils in der Landwirtschaft Beschäftigten wurden Maßnahmen der Einkommensstützung getroffen. Dabei wurde vernachlässigt, daß gerade diese Einkommensstützungen die Berufsentscheidungen junger Erwerbstätiger beeinflussen. Durch Subventionen erhöhte Einkommen und Einkommenserwartungen erleichtern die Entscheidung für einen Eintritt in landwirtschaftliche Berufe. Vieles spricht für die Hypothese, daß sich aufgrund der politischen Stützungsmaßnahmen ständig mehr Erwerbstätige für einen Beruf in der Landwirtschaft entschieden haben als dies ohne die Stützungsmaßnahmen der Fall gewesen wäre. Im Ergebnis dürften die Einkommensdisparitäten gegenüber anderen Sektoren kaum verringert worden sein. Vergrößert wurden wahrscheinlich die Einkommensdisparitäten innerhalb der Landwirtschaft. Durch die Konzentration auf die jeweilige Einkommenssituation der Beschäftigten wurden Mechanismen in die Welt gesetzt, die zu einer Erhöhung der Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft führen, was wiederum die Einkommen für die einzelnen Erwerbsbeteiligten verringert. Die Zahl der Erwerbstätigen, die vor Anpassungsschwierigkeiten stehen, wird wahrscheinlich ständig erhöht. Im Ergebnis hat die Fixierung auf das Disparitätenziel z. T. genau die Härten verursacht, die vermieden werden sollen.

Jede rationale, dem Ziel einer Verminderung der Anpassungshärten verpflichtete Agrarpolitik hätte demgegenüber versucht, den Zugang junger Berufstätiger in den Landwirtschaftssektor zu beeinflussen. Eine aktive Beratungs- und Unterstützungspolitik für alternative Berufsmöglichkeiten und eine möglichst rasche Schrumpfung der Beschäftigung in der Landwirtschaft im Zuge des Generationswechsels hätte zu hö-

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heren Einkommen pro Beschäftigtem geführt und die Anpassungshärten verringert.

Nachdem der Schrumpfungsprozeß spätestens seit der Mitte der 60er Jahre eindeutig prognostiziert und in seiner Mechanik verstanden wurde, kann man heute feststellen, daß inzwischen zahlreiche 50- bis 60jährige Landwirte auch unter dem Eindruck einer falschen Agrarpolitik zu falschen Berufsentscheidungen kamen. Ihre schwierige ökonomische Situation in einer späten Phase der Berufstätigkeit ist Folge einer vermeidbaren, falschen Berufsentscheidung. Dabei spielt eine Rolle, daß die Interessenvertretungen der Bauern den Rückgang der Zahl der Beschäftigten bei ständig steigender Produktion nicht als Ergebnis eines wirtschaftlich-technischen Fortschritts und als Leistungsbeweis, sondern als Niederlage interpretiert haben. Für den Bauernverband ist es offensichtlich schwer, die als Folge hoher Produktivitätssteigerungen ständig schrumpfende Zahl seiner Mitglieder als Erfolg zu interpretieren. Die falsche Einstellung gegenüber der Schrumpfung wurde zur Grundlage der Stützungsforderungen des Verbandes, aber auch zur Grundlage zahlreicher Maßnahmen der Politik mit falschen Signalwirkungen und im Ergebnis oft zu langjährigen Härten für die Betroffenen.

1.2 Das Dilemma der Bürokratie

In den Bereichen, in denen Einseitigkeiten des politischen Prozesses dominant werden, steht die ausführende Bürokratie vor einem echten Dilemma. Falls ihre Mitglieder die widersprüchlichen Ziele und die in den Zielen zum Ausdruck kommende unzureichende Auseinandersetzung mit der Realität ständig zum Gegenstand fachlicher Diskussionen machen, geraten sie in Widerspruch zur jeweiligen politischen Leitung. Falls sie sich zu kritiklosen Erfüllungsgehilfen der Politik machen, geraten sie in Widerspruch zu ihrem Wissen und ihren eigenen analytischen Fähigkeiten. Allerdings muß man berücksichtigten, daß im Alltagsgeschäft jeweils sehr spezialisierte Teilaufgaben zu bewältigen sind, die für sich genommen i.d.R. sinnvoll und vernünftig sind. Im Alltag sind Fragen der Agrarsozialpolitik, der Ausgestaltung von Alterssicherung, Fragen der Erleichterung des Strukturwandels, der Regulierung von einzelnen Produktmärkten, der Umweltqualität und Sicherheitsvorkehrungen und vieles andere mehr zu bewältigen. Die Grundsatzfragen stehen i.d.R. nicht zur Diskussion. Sie werden nur virulent, wenn etwa bei Haushaltsberatungen oder im Zusammenhang mit jährlichen Agrarberichten oder mit neuen Weichenstellungen der EU-Agrarpolitik langfristige Ziele erörtert werden.

1.3 Keine alternativen Konzeptionen der Opposition

Am Beispiel der Agrarpolitik wird noch ein weiteres Dilemma deutlich. Dort wo Regierungspolitik durch innere Widersprüche geprägt ist, könnte man normalerweise davon ausgehen, daß die Opposition rationalere und im Ergebnis sozialere Alternativstrategien formuliert. Tatsächlich hat keine Opposition im Bundestag bisher – wenn man von ökologisch motivierten Alternativvorstellungen der Grünen in den letzten Jahren absieht – eine systematische Gegenposition zur offiziellen jahrzehntelangen Agrarpolitik entwickelt. Die Kritiken richten sich auf Detailmaßnahmen, etwa darauf, daß die Einkommensungleichheit innerhalb der Landwirtschaft durch die traditionellen Maßnahmen verschärft wird, nicht jedoch auf die erklärten Fundamentalziele. Damit fehlt es für eine an Aufklärung interessierter Bürokratie an Unterstützung in der öffentlichen Debatte. Da es in unserem Verfassungssystem unsinnig und illegitim wäre, wenn man der Bürokratie eine Quasi-Oppositionsrolle zuordnet, scheinen hier unüberwindbare Hindernisse auf dem Wege zu einer rationalen Aufklärung zu bestehen. Es gehört zu den Funktionsbedingungen einer Bürokratie, mit der jeweiligen politischen Leitung loyal zu kooperieren, auch wenn die eigenen politischen Wertungen von den Zielen der durch demokratische Entscheidungen zustande gekommen Politik abweichen sollten. Politikbereiche können systematisch über Jahrzehnte von verzerrten oder irrealen Politikzielen ausgehen.

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1.4 Aufklärung – eine mögliche konstruktive Rolle?

Als übliches Ergebnis stößt man im Alltag von Bürokratie in Politikbereichen mit irrationalen Partialzielen auf ein ständiges Unbehagen oder auf eine Verdrängung bzw. ein Abschalten der Analyse- und Kritikfähigkeit gegenüber den offensichtlichen Widersprüchen. Die Widersprüche werden unter dem Druck der speziellen Alltagsgeschäfte nicht ins Bewußtsein gehoben. Im täglichen Konkurrenzkampf um Ressourcen werden die problematischen Grundlagen der eigenen Politik überdeckt durch eine Identifikation mit den Teilaufgaben, die für sich genommen jeweils sinnvoll erscheinen und im Rahmen der Gesamtstrategie meist auch sinnvoll sind. Auf diese Weise entsteht eine stabile, für die einzelnen Mitarbeiter befriedigende Situation. Man richtet sich in Teilrationalitäten ein und konzentriert sich auf die durchaus sinnvollen Spezialaufgaben.

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2. Pflegeversicherung

In der Entscheidungsvorbereitung zur Pflegeversicherung blieben die Rückwirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu weitgehend ausgeklammert. Auch die Kostenschätzungen im Rahmen einer Angebots- und Bedarfsprognose für Pflegedienstleistungen kamen zu kurz. Die Ministerialverwaltung hat sich de facto ein strategisches Interesse der Politik am Aufbau einer illusionär niedrigen Vorstellung über die Belastungen zu eigen gemacht, um die Pflegeversicherung ohne ausreichende Diskussion ihrer Risiken und ohne langfristige Sicherung ihrer Funktionsfähigkeit zu realisieren. Ein politisches Interesse an vorzeigbaren Ergebnissen ging hier wahrscheinlich Hand in Hand mit einem Interesse an der Ausweitung des Aufgabenbestandes in der Verwaltung. Die fachliche Durchdringung des Themas blieb unzureichend, die Bürokratie hat sich politisch instrumentalisieren lassen und hat die Politik bei der Verabschiedung einer – gemessen an den mittelfristigen Anforderungen – Scheinlösung unterstützt.

2.1 Zwanzig Jahre Pflegediskussion

Die Diskussion über die Notwendigkeit einer Pflegeversicherung lebte in Deutschland seit dem Beginn der siebziger Jahre immer wieder auf und wurde gegen Ende der achtziger Jahre intensiviert. Ein Hintergrund dieser größeren politischen Aufmerksamkeit war die zunehmende finanzielle Überlastung der Kommunen, die im Rahmen der Sozialhilfe in hohem Maße zur Finanzierung der Pflege beitrugen. Der Grundkonsens über ein Mischsystem zwischen öffentlicher und privater Pflichtversicherung in Anlehnung und unter dem organisatorischen Dach der Krankenversicherungen kam 1992 zustande. Wesentliche Streitpunkte auf dem Weg zu dieser Einigung waren die Fragen, ob es eine Versicherungspflicht bei einer öffentlichen oder privaten Versicherung geben sollte, ob Kapitaldeckungs- oder Umlageverfahren Grundlage der Finanzierung sein sollten, welcher Personenkreis versichert ist, wer die Beiträge aufbringt und wer mitversichert ist, ob und bei welcher Höhe eine Beitragsbemessungsgrenze einzuführen ist. Vor allem die FDP machte ihre Zustimmung davon abhängig, daß die mit 50 % an der Finanzierung der Beiträge beteiligten Arbeitgeber durch andere entlastende Maßnahmen eine Kompensation erhielten. Die sogenannte Kompensationsdebatte bestimmte die weitere Diskussion bis zur endgültigen Einigung im Jahr 1994.

2.2 Isolierte Betrachtung der Pflegeversicherung hat die Risiken der wirtschaftlichen Entwicklung verdrängt

Die politische Diskussion über die Einführung einer Pflegeversicherung hat jedoch wesentliche Sachverhalte außer Betracht gelassen, die einer „zügigen" Realisierung im Weg gestanden hätten. Im Ergebnis wurden Finanzierungslasten stillschweigend auf die Zukunft verschoben. Hierdurch wurde es möglich, für den Zeitpunkt der Einführung die Illusion einer niedrigen gegenwärtigen und auch zukünftigen Belastung zu erzeugen, die sich in relativ geringen Beitragssätzen ausdrückt.

Die Pflegeversicherung wurde nicht systematisch im Kontext der gesamten zukünftigen Finanzierungslasten diskutiert. Gerade aus der Ku-

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mulation der langfristigen Wirkungen der Staatsverschuldung, fehlenden Pensionsrückstellungen im öffentlichen Dienst sowie fehlenden Rücklagen in den umlagefinanzierten sozialen Sicherungssystemen für eine zunehmend alternde Gesellschaft ergeben sich in der Zukunft wachsende Umverteilungsquoten des BSP und damit wachsende Risiken für die wirtschaftliche Entwicklung. Die steigenden Umverteilungsquoten des Bruttosozialproduktes werden in einer Phase notwendig, in der aufgrund der demographischen Entwicklung immer weniger, im Durchschnitt immer ältere Erwerbsfähige eine eher zunehmende internationale Konkurrenz und zunehmende Aufwendungen für die Umwelt bewältigen müssen. Die isolierte Betrachtung der Pflegeversicherung hat diese Thematik zu weit ausgeblendet.

Nur auf der Basis einer Partialbetrachtung war es wahrscheinlich möglich, die Pflegeversicherung als ein weiteres umlagefinanziertes Sicherungssystem zu etablieren. Die Debatte über Kapitaldeckungsverfahren versandete. Hier hätten von Anfang an Beiträge für zukünftige Ansprüche angesammelt werden müssen. Für die heute Pflegebedürftigen würden zunächst aus den Beiträgen der Beteiligten keine Finanzierungsmittel bereitgestellt. Sie müßten zusätzlich aufgebracht werden. Das Umlageverfahren erlaubt demgegenüber einen Einstieg in die Pflegeversicherung zu sehr niedrigen Beitragssätzen, weil es keine Spartätigkeit für die zukünftige Pflegebedürftigkeit anregt, statt dessen lediglich die sogenannte „Altlast" finanziert und damit im Ergebnis die heute schon absehbaren Risiken der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung ignoriert. Vor dem Hintergrund einer umfassenden Betrachtung, in der die Lawineneffekte der Staatspensionen, der Sozialrenten, der Betriebspensionen, der Auszahlung von Lebensversicherungen und der Gesundheitskosten als Gesamtheit betrachtet worden wären, müßte die vergleichende Bewertung von Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren wahrscheinlich anders ausfallen. Darüber hinaus wären von einer derartigen Pflegediskussion auch positive Wirkungen für eine dringend erforderliche öffentliche Diskussion über den Zusammenhang von wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Sicherheit ausgegangen.

2.3 Vernachlässigung der Kostenentwicklung

Das politische Interesse an einer Belastungsillusion führte auch dazu, daß die Faktoren für die zukünftige Entwicklung des Bedarfs und des Angebots von Pflegedienstleistungen unterbelichtet blieben. Die Entwicklung der Pflegekosten hat in der Entscheidungsvorbereitung kaum Bedeutung gehabt. Bedarfsprognosen, die einen wachsenden Anteil Hochbetagter bei weiter steigender Lebenserwartung und veränderten Krankheitsbildern (z. B. Zunahme chronischer Erkrankungen) in Rechnung stellen, werden erst heute erarbeitet. Noch weniger Beachtung fand das Angebot von Pflegedienstleistungen, obwohl hier mit drastischen Veränderungen, die eine Verteuerung bewirken, zu rechnen ist. Vor allem durch die Verkleinerung der Haushalte (insbesondere den steigenden Anteil kinderloser Haushalte) und die wachsende Erwerbsneigung von Frauen kommt es zu einer Ausdünnung der privaten Unterstützungsmöglichkeiten und zu einer höheren Nachfrage nach professioneller Hilfe. Bei wachsenden Abgabenlasten wird diese tendenziell teurer. Darüber hinaus ist damit zu rechnen, daß es zu einem Abwanderungssog von Arbeitskräften in andere Wirtschaftsbereiche kommt, wo größere Rationalisierungspotentiale ein Wachstum der Arbeitsproduktivität und der Löhne ermöglichen. Dies ist nur über eine knappheitsgerechte Bezahlung von Pflegedienstleistungen auszugleichen.

Die fehlende Transparenz der zukünftigen Kosten hat dazu beigetragen, die Relevanz von kostensenkenden Techniken zu verschleiern. Es wurden erhebliche Innovationspotentiale verschenkt. Verzichtet wurde z. B. auf eine verbesserte Stellung der Rehabilitation an der Schnittstelle von Kranken- und Pflegeversicherung, auf Maßnahmen zur Erhöhung des Potentials generationenübergreifender privater Hilfe und auf Maßnahmen zur Förderung eines gleitenden und deswegen kostensparenden Übergangs von einer selbständigen zu einer unterstützungsbedürftigen Lebensführung.

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2.4 Ein politisch-strategisches Interesse an der Belastungsillusion

Man kann ein in die Ministerialbürokratie hineinreichendes strategisch-politisches Interesse an der Beibehaltung einer inhaltlich stark verkürzten Pflegediskussion zur Aufrechterhaltung der Belastungsillusion unterstellen, um diese als „Jahrhundertwerk" gefeierte „fünfte Säule der Sozialversicherung" zu verwirklichen. Der wahrgenommene und in die politische Diskussion eingespeiste Realitätsausschnitt hat zu einer isolierten Betrachtung der Pflegeversicherung geführt und die gesamtwirtschaftlichen Folgewirkungen umlagefinanzierter Sicherungssysteme nicht ausreichend berücksichtigt. Ohne eine hinreichende Bedarfs- und Angebotsprognose wurden auch die in der Entwicklung des Pflegebedürftigkeitsrisikos begründeten Elemente der Kostensteigerung vernachlässigt und in konzeptioneller Hinsicht erhebliche Innovationspotentiale vorerst verschenkt. Die Durchsetzung der Pflegeversicherung war wichtiger als ihre Qualität.

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3. Ladenschluß



3.1 Eine demokratische Entscheidung – Auflockerung des Ladenschlusses

Die im Prinzip seit dem Ersten Weltkrieg geltenden Ladenschlußregelungen werden 1996 aufgelockert. Die Novellierung des Gesetzes war von einer heftigen politischen Diskussion und Protesten der im Einzelhandel betroffenen Arbeitnehmer, aber auch von Teilen der Unternehmer, begleitet. Die SPD sprach sich gegen eine Auflockerung aus. In der gesamten öffentlichen Diskussion kamen die gut organisierten Produzenteninteressen – dazu gehören auch die Interessen der Erwerbstätigen in diesem Sektor – ausführlich zur Geltung, während die vielen anonymen potentiellen Nutznießer über keine entsprechende Organisation verfügten. Allerdings äußerten sich die Medien i.d.R. auflockerungsfreundlich.

Das Bundeswirtschaftsministerium hatte die Novelle u. a. durch einen Forschungsauftrag vorbereitet, in dem versucht wurde, die Beschäftigungsauswirkungen abzuschätzen. Gleichzeitig wurde aufgrund einer Kundenbefragung festgestellt, welche Kunden aus heutiger Sicht erwarten, daß sie die Regelungen in Anspruch nehmen, und es wurde ermittelt, welcher Anteil der Befragten für eine Auflockerung der Ladenschlußregelung eintritt und welcher Teil mit der gegenwärtigen Regelung gut leben kann. Im Ergebnis äußerten sich kleine Mehrheiten für eine Auflockerung. Eine Mehrheit würde nach gegenwärtiger Meinung von längeren Ladenöffnungszeiten Gebrauch machen.

Man könnte die Auffassung vertreten, die Entscheidung sei durch Befragungen und Wirkungsanalysen hinreichend vorbereitet. Eine Mehrheit hat sich für Auflockerungen ausgesprochen. Der Bundestag hat entsprechend entschieden. Damit sei kein Raum für eine wissenschaftliche Kritik. Natürlich bleibt auch in Zukunft ständig die Möglichkeit, z. B. aus persönlichen Wertungen und Interessen, für die Aufhebung der weiter geltenden Ladenschlußregelungen einzutreten.

3.2 Eine kritische Wertung

Eine Analyse, die an den Erscheinungsformen der Verfahren und des Entscheidungsprozesses halt macht, wäre jedoch unbefriedigend. Sie würde materielle Abwägungskriterien ausblenden. Der Hinweis, eine Mehrheit habe beschlossen, muß zu der Frage führen, aufgrund welcher Kriterien und nach welchen Vorstellungen und aufgrund welcher Einflüsse diese Entscheidung zustande kam. Hier können einige Überlegungen Maßstäbe für eine materielle Kritik des Verfahrens und der Entscheidungsgrundlagen liefern.

Unterstellt man, es gäbe in der Bundesrepublik nur eine Minderheit von vielleicht 10 % der Einwohner mit Interesse an möglichst langen Öffnungszeiten, z. B. abends und an Feiertagen. Würde man diesem Interesse nachgeben, dann würde ein sehr kleiner Anteil der Geschäfte entsprechend der Nachfrage dieser Kunden Öffnungszeiten am Abend und an Feiertagen anbieten. Der einzelne Anbieter müßte auf seinem Markt jeweils prüfen, inwieweit die zusätzlichen Öffnungszeiten für ihn zusätzliche Erträge hervorrufen, weil sie die Mehrkosten der verlängerten Öffnungszeiten überschreiten. Die Tatsache

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der großen räumlichen Streuung der Nachfrage außerhalb der „normalen" Öffnungszeiten wird ein sehr kleines zusätzliches Öffnungsangebot hervorrufen. Dies hätte automatisch zur Folge, daß auch nur eine kleine Zahl von Erwerbstätigen betroffen wäre. Man kann davon ausgehen, daß angesichts der unterschiedlichen Zeitbedürfnisse von Erwerbstätigen keine Probleme bestünden, Beschäftigte zu finden, die sich subjektiv durch Abend- und Wochenendarbeit nicht belastet fühlen. Für die Gegner einer Lockerung der Ladenzeit wäre es schwer, Argumente für eine Beibehaltung der Regulierungen zu finden. Je kleiner der Bedarf nach verlängerten Öffnungszeiten umso schwacher werden die Argumente für eine Beibehaltung der Regelung. Eine Mehrheitsentscheidung für Beibehaltung wäre relativ willkürlich, weil kaum Schutzinteressen auf dem Spiel stehen. Außerdem ergäben sich innere Widersprüche, weil kaum verständlich wäre, wieso Taxifahrer, Kellner, Lokführer, Hotelportiers, Polizisten oder andere Erwerbstätige ohne besondere Zusatzentgelte unregelmäßige Arbeitszeiten zugunsten ihrer Kunden hinnehmen müssen.

Tatsächlich dürfte ein sehr hoher Bedarf nach verlängerten Öffnungszeiten bestehen. Dabei muß man unterstellen, daß die befragten Konsumenten ihre künftigen Bedürfnisse unter veränderten Rahmenbedingungen nicht einmal richtig artikulieren. Sie unterschätzen z. B. die neuen Synergiemöglichkeiten, die sich ergeben. Wer in einem großen spanischen oder englischen Einkaufszentrum abends beim Einkaufen war, der kann feststellen, daß sich Restaurants und Kinos und verschiedene Freizeitangebote ansiedeln. Der einzelne Kunde erhält gleichsam Paketlösungen. Er kann einkaufen mit verschiedenen anderen Aktivitäten verbinden. Effekte dieser Art dürften den befragten Konsumenten heute nicht voll bewußt sein. Man kann davon ausgehen, daß die Befragungen den künftigen Nutzen einer Lockerung oder Aufhebung der Ladenschlußregelungen erheblich unterschätzen.

Bei einer Inanspruchnahme der Regelung von großen Gruppen entsteht automatisch für mehr Geschäfte die Frage, inwieweit sie bereit sind, die zusätzlichen Kosten verlängerter Öffnungszeiten zu tragen. Jede einfache ökonomische Überlegung macht deutlich, daß ganz erhebliche wirtschaftliche Bremsen wirken werden, denn die Umsätze steigen durch verlängerte Öffnungszeiten insgesamt nur wenig. Eine Ausweitung der Öffnungszeiten erhöht die Kosten, erhöht jedoch bei gegebenen Preisen die Erträge nur geringfügig. Im gewissen Umfang kommt es zu Verlagerungen der Umsätze zwischen Geschäften mit langen Öffnungszeiten und Geschäften, die weiterhin kürzere Öffnungszeit aufrecht erhalten.

Für die beteiligten Unternehmer entsteht eine schwierige Optimierungsaufgabe, die im Wettbewerb nicht einfach zu lösen ist. Die Kunden treten zwar in den verlängerten Öffnungszeiten als Nachfrager auf, sie kennen jedoch den Preis der zusätzlichen Öffnungszeiten nicht. Für sie erscheinen verlängerte Öffnungszeiten als freies Gut. Es entsteht – gemessen an den Kosten – eine Übernachfrage und eine Tendenz, mangels direkter Zurechnung der Kosten verlängerter Öffnungszeiten, das Angebot an Öffnungszeiten insgesamt zu stark auszuweiten. Allerdings wachsen die wirtschaftlichen Widerstände sehr rasch an. Je mehr zusätzliches Personal abends und an Wochenenden arbeiten soll, umso schwieriger wird es, dieses Personal zu finden und umso höher werden die Zusatzkosten für verlängerte Öffnungszeiten. Man kann davon ausgehen, daß sich am Markt nur ein Teil der Geschäfte entschließen wird, deutlich verlängerte Öffnungszeiten anzubieten. Im Ergebnis schützen die Angebots-/Nachfragemechanismen auf den Arbeitsmärkten und den Märkten für Einzelhandelsleistungen – wenn auch etwas unvollkommen – die Erwerbstätigen, weil die Zusatzkosten massenhaft verlängerter Öffnungszeiten bei den Unternehmen empfindlich zu Buche schlagen. In gewissen Grenzen entstehen natürlich Preiserhöhungen. Die Kunden müssen als Kollektiv die Mehrkosten der verlängerten Öffnungszeiten tragen, wobei es wahrscheinlich nicht zu einer genauen Zurechnung der Mehrkosten käme. Es ist theoretisch denkbar, abends und an Feiertagen gewisse Preiserhöhungen durchzusetzen. Wahrscheinlich würden die Mehrkosten jedoch auf die Umsätze insgesamt verteilt.

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3.3 Unzureichende Entscheidungsgrundlagen

Es hätte nahe gelegen, die langfristigen Veränderungen, die durch eine Aufhebung des Ladenschlusses auftreten können, in Form von Szenarien darzustellen. Als besonders geeignet können die schwedischen Erfahrungen gelten. Dort wurde 1972 eine Ladenschlußregelung zunächst befristet für vier Jahre aufgehoben und während dieser Zeit in ihren Auswirkungen beobachtet. Es kam dann nochmals zu einer zeitlich befristeten Verlängerung und zu einer weiteren Beobachtung bis 1982. Dann wurde eine dauerhafte Aufhebung beschlossen. Damit liegen etwa am Beispiel Stockholms über rd. 25 Jahre Erfahrungen vor. Diese Erfahrungen hätte man auf Hannover oder eine andere deutsche Großstadt übertragen können, um zu zeigen, welche Kosten und Nutzen langfristig auftreten. Eine solche Analyse wäre wahrscheinlich zu folgendem Ergebnis gekommen:

  • Die Kosten einer Aufhebung oder Lockerung der Ladenschlußregelung bzw. die nachteiligen Wirkungen unregelmäßiger Arbeitszeiten auf die Erwerbstätigen werden regelmäßig überschätzt, weil nicht berücksichtigt wird, daß nach einer Übergangsphase ein „Sortierungsprozeß" einsetzen wird. In Bereichen, in denen es zu „verschobenen" Öffnungszeiten (abends und an Wochenenden) kommt, werden vermehrt diejenigen Erwerbstätigen arbeiten, denen solche Arbeitszeiten wenig ausmachen.
  • Es wird fälschlich unterstellt, daß praktisch alle Geschäfte unter Wettbewerbsdruck veränderte Öffnungszeiten hinnehmen müßten. Dies ist nicht zu erwarten. Es gelten nach wie vor ökonomische Regeln und Gesetzmäßigkeiten. Dort wo die Kosten verlängerter Öffnungszeiten nicht durch entsprechende zusätzliche Erträge aufgewogen werden, wird es nicht zu verlängerten Öffnungszeiten kommen. Nur ein Teil der künftigen (nicht der gegenwärtigen) Beschäftigten des Einzelhandels wird gegenüber dem Status quo veränderte Arbeitszeiten hinnehmen müssen. Es werden neue Beschäftigte Arbeit erhalten, die z. B. nur Teilzeit zu verschobenen Arbeitszeiten leisten können, deren Beschäftigungswünsche bisher unterdrückt wurden.
  • Schließlich werden – wie dargestellt – auch die Nutzen unterschätzt, weil sich aufgrund veränderter Öffnungszeiten neue Verhaltensweisen und Nutzungskombinationen herausbilden können (Freizeiteinrichtungen in Einkaufszentren, die abends geöffnet sind, damit verbesserte Möglichkeiten zur Nutzung der Zeit durch Kunden).

Alle diese Veränderungen hätten plausibel an einem konkreten Beispiel erläutert werden können. In einem Vergleichsszenario hätte man vorrechnen können, wie gering die Zahl der dauerhaft negativ betroffenen Erwerbstätigen ist, welche Nutzen bei welchen Konsumentengruppen entstehen. Dazu hätte eine einfache Befragung und Analyse in Stockholm ausgereicht. Darüber hinaus liegt aus der Beobachtungsphase in Schweden detailliertes Material zu den Kosten und Nutzen vor. Ein solcher Weg wurde nicht beschritten. Die Entscheidung im Bundestag kam – wie könnte es anders sein – unter dem massiven Druck der aktuell betroffenen Gewerkschaften und Einzelhandelsverbände zustande. Die künftigen Erwerbstätigen, die z. B. neue Teilzeitbeschäftigungen an Abenden und Wochenenden finden würden, die ihren Präferenzen entsprechen, konnten sich naturgemäß nicht artikulieren. Das Gleiche gilt für die Kunden, die ihre künftigen Verhaltensweisen noch gar nicht abschätzen können. Hinzu kam der hohe Organisationsgrad der Gegner. Im Ergebnis wurde die Entscheidung fast ausschließlich im Hinblick auf Kurzzeitwirkungen getroffen. Eine systematische Analyse der Langzeitwirkungen unterblieb. Die Langzeitwirkungen wurden in der Öffentlichkeit auch kaum anschaulich und nachvollziehbar dargestellt.

3.4 Das demokratisch Entscheidungsdilemma

Hier wie auch an anderen Beispielen wird deutlich, daß Parlamente bei Entscheidungen, die große Gruppen kurzfristig tangieren, vor einem typischen Dilemma stehen. Die aktuell Betroffenen sind zwar mit Sicherheit nicht identisch mit den dauerhaft Betroffenen. Auf Dauer gibt

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es weniger negativ Betroffene und sehr viel höheren Nutzen als kurzfristig erkennbar. Hinzu kommen in der Öffentlichkeit überschätzte Wirkungen über die Inanspruchnahme der verlängerten Öffnungszeiten und damit die Betroffenheit. Eine kritische Analyse muß deshalb zu dem Ergebnis kommen, daß Kurzfristeinflüsse zu erheblichen Verzerrungen demokratischer Entscheidungen führen, weil die Langfristinteressen und -wirkungen zu wenig in die Entscheidungsgrundlagen eingehen. Blockademinderheiten, die sich gegen Veränderung sperren, weil im Übergang gewisse Härten auftreten, dominieren die öffentliche Diskussion unabhängig davon wie groß die Langfristnutzen der Veränderungen sind. Die systematische Überbewertung von Übergangsproblemen führt zu einer Vernachlässigung der langfristigen Interessen von Mehrheiten und zu einer strukturellen Immobilität der Gesellschaft und bei politischen Entscheidungen.

3.5 Die Rolle der Bürokratie

Es liegt auf der Hand, daß Defizite des demokratischen Entscheidungsprozesses und Verzerrungen, wie sie am Beispiel der Ladenschlußentscheidung prototypisch deutlich werden, von der Ministerialbürokratie nicht kompensiert werden können. Allerdings ist es möglich, diese Defizite im Entscheidungsprozeß transparenter zu machen. So wäre es leicht möglich gewesen, die Analyseressourcen nicht auf die Befragung von Konsumenten zu konzentrieren, die kaum abschätzen können, welche Veränderungen eintreten werden und welche Veränderungen der Verhaltensweisen sie selbst unter den veränderten Rahmenbedingungen an den Tag legen werden. Demgegenüber wäre es möglich gewesen, langfristige Wirkungsszenarien an konkreten Beispielen vorzurechnen, um am Beispiel von Ländern, die vor längerer Zeit eine entsprechende Lockerung des Ladenschlusses bewältigt haben, die Langfristfolgen zu demonstrieren. Selbst die kurzfristigen Veränderungen, die im letzten Jahr in Großbritannien, z. B. in London, eingetreten sind, hätten als Illustration von Wirkungsanalysen schon mehr an Aufklärung gebracht als Befragungsergebnisse, die aufgrund ihrer Methodik die Übergangsprobleme überbetonen müssen. Man kann natürlich auch den beteiligten Wissenschaftlern und Instituten vorwerfen, daß sie in ihrer Methodik zu fundamentalistisch und unkritisch vorgegangen sind, weil das erarbeitete Material die relevanten Probleme nicht transparent macht.

3.6 Ein Fazit

Eine Aufhebung oder Teilliberalisierung des Ladenschlusses führt dazu, daß auf Dauer eine gewisse Zahl von Geschäften verlängerte oder verschobene Öffnungszeiten haben wird (Beispiele: Möbelgeschäfte, Do-it-yourself-Läden mit langen Öffnungszeiten am Wochenende und dafür keine Öffnung am Montag und/oder Dienstag). Es kommt zu einer Umschichtung in der Beschäftigung. Erwerbstätige, die sich durch veränderte Arbeitszeiten wenig belastet fühlen, werden in den entsprechenden Geschäften arbeiten. Die weit überwiegende Mehrheit wird auch vorwiegend zu den bisher üblichen Arbeitszeiten tätig sein. Die Ministerialverwaltung hat es versäumt, die öffentliche Diskussion mit relevanten Informationen zu versorgen. Es wurden Fragen formuliert, die der Problemwahrnehmung einer zwar artikulationsfähigen, aber kleinen und gegenüber einer Liberalisierung negativ eingestellten Gruppe entsprechen. Ausländische Erfahrungen wurden nur sehr selektiv zur Kenntnis genommen. Erhebliche methodisch-konzeptionelle Defizite bei der Durchführung einer prognostischen Analyse haben nicht zu einer optimalen Information der Öffentlichkeit geführt.

Die bereitgestellten Informationen leiden darunter, daß sie die Vorurteile der öffentlichen Diskussion eher aufnehmen als ihnen systematisch entgegenzutreten. Dabei hätte man gerade am Beispiel des Ladenschlusses, der so viele Menschen tangiert, der „schweigenden Mehrheit" durch einfache, leicht nachvollziehbare Informationen und Faustregeln eine massive Unterstützung zukommen lassen können. Auch hier bleibt, darauf zu verweisen, daß es nicht Aufgabe der Bürokratie sein kann, die anstehende Abwägung vorzunehmen. Aufgabe der Bürokratie muß es jedoch sein, für diese Abwägung realistische Informationen und Wirkungsprognosen

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zur Verfügung zu stellen. Nur so kann vermieden werden, daß sich die im politischen Entscheidungsprozeß wahrscheinlich weit überzogenen Befürchtungen der betroffenen Erwerbstätigen festsetzen, die eine Abwägung für oder gegen eine Liberalisierung nachhaltig beeinflussen.

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4. Förderung des Bauens und der Bauwirtschaft in Ostdeutschland

Bei der Bauwirtschaftsförderung in Ostdeutschland wurden bewährte Fördertechniken unter deutlich anderen Rahmenbedingungen relativ bedenkenlos übertragen. Organisationsinterne Vorteile bzw. Bequemlichkeiten (bewährte Konzeption, bewährte Vollzugsverfahren) haben die Fähigkeit eingeschränkt, auf die Bedingungen Ostdeutschlands mit angemessenen Lösungen zu reagieren. Dabei sind wahrscheinlich auch die Interessen der Bauwirtschaft und der Investoren (v.a. in Westdeutschland), die im erheblichen Umfang von der realisierten Regelung profitieren, von Bedeutung gewesen. Verzerrte politische Ziele haben bei einer mangelnden fachlichen Durchdringung und durch den Rückgriff auf eingefahrene Konzepte zur Umsetzung dieser Förderung geführt. Bei der Konzentration auf das Ziel, die Bauwirtschaft zu fördern, wurden die Nebenwirkungen in erheblichem Umfang verdrängt. Es wurde insbesondere vernachlässigt, daß auf privaten Immobilienmärkten zusätzlich hervorgerufene Investitionen vielfach nur zu Vorzieheffekten führen mit der Folge, daß die Bautätigkeit nach Auslaufen der hohen Subventionen weit geringer ausfällt.

4.1 Bauförderung führt zu vorübergehenden Scheinerfolgen in der wirtschaftlichen Entwicklung

Durch die Vereinigung, die gemeinsame Währung und die sprunghaften Reallohnsteigerungen in Ostdeutschland bei gleichzeitiger Schrumpfung v. a. osteuropäischer Absatzmärkte kam es in der Periode von 1990 bis 1993 zu einem rapiden Deindustrialisierungsprozeß, der weithin krisenhafte Züge erreichte. Die Beschäftigungsquoten in der Industrie in Ostdeutschland sind weit geringer als in vergleichbaren westdeutschen Regionen. Angesichts des beispiellosen Anpassungsschocks stand die wirtschaftliche Entwicklungspolitik in Ostdeutschland vor fast unlösbaren Aufgaben. Jede Reindustrialisierungspolitik kann nur in sehr langen Fristen Erfolg haben. Deshalb war es verständlich, daß die einfache und wirksame Förderung des Bauens und der Bauwirtschaft eine zentrale Bedeutung erhielt. Allerdings war auch klar, daß eine Bauförderungspolitik die Entwicklungsprobleme Ostdeutschlands nur begrenzt und vorübergehend lindern kann. Der Aufbau der Infrastruktur (Straßen, Flughäfen, Telekommunikation) war sicher notwendig und wirtschaftlich auch sinnvoll. Bei der Förderung des Bauens darf nicht vergessen werden, daß die Bauwirtschaft i.d.R. nicht handelbare Güter für lokale Nachfrage (Wohnungen, Büros, Einzelhandelsgeschäfte) bereitstellt. Eine extreme Subventionierung dieser Bereiche hat die überregionale Wettbewerbsfähigkeit und die interregionalen Verflechtungen nicht gestärkt, sondern eher behindert. Die Bauwirtschaft geriet in einen beispiellosen Boom und wurde zu einem Lohnführer mit dem Ergebnis, daß auch die Löhne in anderen Branchen in der Tendenz rascher gesteigert wurden. Die sich v. a. auf Abschreibungserleichterungen für Büro-, Einzelhandels- und Wohngebäude stützende Politik muß 1997 nach ihrem Auslaufen in einem ziemlich katastrophalen Zusammenbruch der Baukonjunktur enden, weil als Folge der extremen steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten (50 v. H. des Herstellungsaufwandes in einem Jahr) der dadurch ausgelöste Bauboom weit über die Absorptionsfähigkeit der Märkte hinausführt. In Berlin werden 1997 1 – 1,5 Mio. qm Büroflächen leer stehen. In Leipzig werden es 600.000 bis 800.000 qm sein. Der Wohnungsbau in der Region Berlin hat sich innerhalb weniger Jahre verdreifacht. Als Folge kommt es zu Leerständen und Preisverfall und zu einem abrupten Abbruch der Bautätigkeit ab 1997. In den Folgejahren wird die Bauwirtschaft auf ein niedrigeres Niveau schrumpfen, weil in erheblichem Umfang Vorzieheffekte entstanden. Die Leerstände werden allmählich absorbiert. Aufgrund der künftig herr-

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schenden „normalen" Abschreibungsbedingungen werden die Mieten dann sehr viel höher sein müssen, d. h. eine preiselastische Nachfrage wird geringer ausfallen.

Die Expansionswirkung der Steuererleichterungen war in den großen Städten Dresden, Leipzig, Berlin besonders ausgeprägt. Hier wurden auch die Bauzulieferindustrie und die gesamte Immobilienwirtschaft (Makler, Bauträger, Finanzierer) von dem Boom angesteckt. Umso deutlicher werden die rezessiven Folgen einer zusammenbrechenden Baukonjunktur in diesen Regionen sein. Die Beschäftigungsquoten in der Bauwirtschaft sind in den ostdeutschen Stadtregionen weit höher als in Westdeutschland. Dementsprechend wird die Normalisierungsphase zu einem lang anhaltenden, schubartigen Anstieg der Arbeitslosigkeit führen.

Allerdings stellt sich die Grundsatzfrage, welche Rolle eine Ministerialbürokratie übernehmen soll, wenn widersprüchliche Ziele und Politiken exekutiert werden müssen. Zwischen der Rolle einer Ersatzopposition und der unbefriedigenden Rolle eines kritiklosen Erfüllungsgehilfen muß der schmale Pfad einer konstruktiv-kritischen Beratung für politische Innovationen gefunden werden. Hohe Qualitätsansprüche an die Bürokratie und ihre Arbeitsergebnisse beinhalten die Aufforderung zu einer solchen Gratwanderung.

4.2 Versagen der beteiligten Ministerien bei der Aufklärung der Öffentlichkeit

In der fachlichen Diskussion sind die Risiken von Anfang an deutlich dargestellt worden. Sie wurden jedoch von den Ministerien in der internen politischen Vorbereitungsdebatte offensichtlich nicht reproduziert bzw. nicht intensiv vorgetragen. Die Ressortpositionen waren ausgesprochen optimistisch. Ganz offensichtlich waren andere Gesichtspunkte wichtiger. Man wollte zurückgreifen auf altbekannte Instrumente und Fördertechniken, die unter westdeutschen, allerdings nicht vergleichbaren, Bedingungen Erfolge gebracht hatten. Die Fähigkeit, auf die Sondersituation Ostdeutschlands mit spezifischen Instrumenten zu reagieren, war erschreckend unterentwickelt. (Die Eigenkapitalhilfen und die Absatzförderung wurden erst in einer relativ späten Phase aktiviert.)

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5. Einwanderung

Neben ideologischen Barrieren der regierenden Parteien leidet die Debatte der Einwanderungsthematik vor allem unter einer segmentierten Problemwahrnehmung. Die Folgen einer nicht- bzw. fehlgesteuerten Einwanderungspolitik müssen von unterschiedlichen Ministerien und Behörden auf allen staatlichen Ebenen verarbeitet werden. Im Ergebnis wird die Relevanz des Themas nicht sichtbar. Eine angemessene Einwanderungspolitik wird nicht formuliert. Die zersplitterte Zuständigkeit führt zum Verlust einer realistischen Problemwahrnehmung, wodurch ein wichtiger Politikbereich weitgehend vernachlässigt bleibt.

5.1 Die Bundesrepublik – ein Einwanderungsland

Nach amerikanischen Konventionen werden zuwandernde Personen dann als Einwanderer gezählt, wenn sie das Recht haben, auf Dauer in den USA zu leben. Nicht die Übernahme der US-Staatsbürgerschaft ist entscheidend, sondern das Recht zum dauerhaften Aufenthalt. Entsprechend dieser materiellen Definition dürfte es in der Bundesrepublik über 3 Mio. Einwanderer geben. Unabhängig von der Ausländereinwanderung kommt es seit Ende der 80er Jahre zu einer Aussiedlereinwanderung. Diese Einwanderer sind unter anderen wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen aufgewachsen. Viele von ihnen sprechen die deutsche Sprache nicht. Sie müssen sich vom Arbeitsmarkt bis hin zum Wohnungsmarkt auf neue Bedingungen einstellen und ihre Verhaltensweisen anpassen. Wie viele Reaktionen zeigen, werden die Aussiedler auch tatsächlich von den Einheimischen als Einwanderer empfunden.

Die Doktrin, Deutschland sei kein Einwanderungsland, macht eine Politik leichter durchsetzbar, bei der die Integrationsaufgaben einer Einwanderung in ganz erheblichem Umfang verdrängt werden. Die künftige Einwanderung wird

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nur zum Teil politisch steuerbar sein, weil sie sich zu einem erheblichen Anteil aus dem Nachzug von Familienangehörigen und aus der Aussiedlerzuwanderung zusammensetzt. Hinzu kommen die arbeitsmarktorientierten Zuwanderungen in Mangelberufe.

Gleichzeitig verändert sich die Altersschichtung der einheimischen Bevölkerung erheblich. Schon jetzt sinkt die Zahl der deutschen Berufsanfänger in nicht akademischen Berufen ständig. Die schwache Arbeitsmarktnachfrage und die hohe Zuwanderung der letzten Jahre überdecken die Folgen des Geburtenrückgangs.

5.2 Verdrängung des Themas

Die letzten Jahre haben demonstriert, welche Risiken sich aus einer unzureichenden Integrationspolitik ergeben. Unter den gegenwärtigen Bedingungen des Arbeitsmarktes kommt es zu einer hohen Jugendarbeitslosigkeit von Ausländern der zweiten Generation, aber auch von neu zugewanderten, vor allem jüngeren Aussiedlern. Sichtbar wird dies unter anderem am starken Anstieg der Jugendarmut. Als Folge der bisher unzureichenden Integrationsbemühungen kann man eine neue Armut und Ungleichheit feststellen, die vor allem auf hohe Arbeitslosigkeit zurückgehen. Immer häufiger zeigt sich, daß jüngere Menschen nach 5 oder 6 Jahren des Berufslebens einen größeren Teil dieser Zeit als Arbeitslose verbrachten. Sie waren nur vorübergehend in meist niedrig qualifizierten Berufen und Tätigkeiten beschäftigt, in denen ein Learning-by-doing oder ein Sammeln von Erfahrungen kaum möglich war. Als Folge drohen lebenslange Berufskarrieren mit wiederkehrender Arbeitslosigkeit, unzureichenden Vermögensbildungsmöglichkeiten und fehlenden Aufstiegschancen. Als erschreckendes Symptom hat sich als Folge der neuen Armut, der neuen Arbeitslosigkeit und der neuen Integrationsprobleme eine hohe Jugendkriminalität bei jungen Männern zwischen 15 und 25 herausgebildet. Nach allerdings noch statistisch nicht befriedigend abgesicherten Informationen steigt vor allem die Kriminalität unter jugendlichen Aussiedlern an. Diese hohen Kriminalitätsbelastungen sind nur die Spitze eines Eisbergs. Sie machen deutlich, daß als Folge der Einwanderung bei stagnierenden bis schrumpfenden Arbeitsmärkten die Integrationsprobleme der Zuwanderer erheblich ansteigen. Gleichzeitig wachsen auch die Armuts- und Arbeitslosigkeitsprobleme schlecht ausgebildeter einheimischer Jugendlicher. Für den Sozialstaat entstehen aus einer fehlgeschlagenen Integration langfristige wiederkehrende und ständig wachsende Belastungen. Unabhängig von humanitären Positionen wird allein aus aufgeklärtem Selbstinteresse eine intensive Integrationsstrategie erforderlich.

5.3 Zur Rolle der Bürokratie

Einwanderungsfragen sind in den Ministerien auf unterschiedliche Zuständigkeiten verteilt. Neben den Ausländerbeauftragten spielen die Ausbildungsprobleme, die Arbeitsmarkt- und Wohnungsmarktprobleme der Zuwanderer eine jeweils gesonderte Rolle. Die räumliche Konzentration von Problemen wird zum Teil im Rahmen der Stadterneuerung angegangen. Diese Zersplitterung zusammen mit der Neigung der Politik, das Thema möglichst weitgehend zu verdrängen, haben verhindert, daß eine rationale Einwanderungsstrategie formuliert und durchgesetzt wurde.

Die Bürokratie trägt an dieser Situation eine erhebliche Mitverantwortung, weil sie als Verwalter und Übersetzer von Informationen versäumt hat, systematische Informationen bereitzustellen. Dabei sind relevante Informationen oft der Ausgangspunkt für eine Lösungsdebatte. Es interessieren Fragen wie:

  • Welche Sozialkosten entstehen daraus, daß 20 % der jugendlichen Ausländer über keinen Hauptschulabschluß verfügen?
  • Welche Konsequenzen ergeben sich daraus, daß Aussiedler mit geringen Sprachkenntnissen nur unzureichenden Sprachunterricht erhalten?
  • Wie laufen die Integrationsprozesse von Familien ab, die mit besonderen Vorbelastungen (Sprachkenntnisse, unzureichende Qualifikationen) hierherkamen?

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Es fehlt an Abschätzungen der langfristigen Konsequenzen der bisherigen Politik. Natürlich können Informationen in einer Situation, bei der ein Thema zum Teil bewußt verdrängt wird, die Welt wahrscheinlich nicht sofort verändern. Auf jeden Fall aber können systematische, einfach zugängliche und an relevanten Problemen und Zielsetzungen orientierte Informationen eine rationale Debatte unterstützen und stärken. Die bisherige Erfahrung lehrt, daß die Verdrängung der Einwanderungsfrage schon erhebliche Schäden und Folgekosten für die einheimische Bevölkerung und hohe Belastungen für die Zuwanderer hervorgerufen hat.

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6. Beispiele für eine unzureichende Sensibilität gegenüber Vollzugsproblemen

Hauptgrund für die unzureichende Sensibilität ist, daß die Kosten eines wenig praktikablen Vollzugs in der Regel bei nachgeordneten Behörden, Ländern, Kommunen oder bei Privaten entstehen. Eine Rückmeldung von Vollzugsproblemen und Vollzugskosten findet nur selten systematisch statt.

6.1 Aufgebot beim Standesamt

Nach § 3 des Personenstandsgesetzes wird vor jeder Heirat das Aufgebot eine Woche lang öffentlich ausgehängt. [ Die Unabhängige Kommission für Rechts - und Verwaltungsvereinfachung des Bundes („Waffenschmidt-Kom mission") hat dieses Beispiel recherchiert. Es ist dokumen tiert in: Ortlieb Fliedner: Unnötiger Aufwand durch Vorschriften. In: Verwaltungsorganisation 7-8/1995, S. 18-23.] So soll es möglich sein, eventuelle Ehehindernisse zu ermitteln. Dieser Aushang muß geschrieben, geprüft, gesiegelt, aufgehängt, eingeholt und abschließend in die Akten einsortiert werden. Unterstellt man, daß dieser Arbeitsvorgang insgesamt ein halbe Stunde in Anspruch nimmt und kalkuliert einen recht niedrigen Stundensatz inkl. aller Nebenkosten von DM 60, ergibt sich ein Aufwand von 30 DM für das Aushängen eines Aufgebotes. In Deutschland werden derzeit jährlich ca. 500.000 Ehen geschlossen, so daß diese scheinbar unbedeutende Regelung im Vollzug bei den Standesämtern einen Aufwand von 15 Millionen DM erzeugt.

Die Waffenschmidt-Kommission hat zunächst beim zuständigen Ressort nachgefragt, wie oft aufgrund dieses Aushangs tatsächlich Ehehindernisse ermittelt werden. Das für das Personenstandsgesetz zuständige Ressort konnte hierzu keine Auskunft geben, hat aber auf die Notwendigkeit der Regelung hingewiesen. Bei einer daran anschließenden Umfrage bei fünf Standesämtern konnte für die letzten fünf Jahre kein einziger Fall gefunden werden, bei dem auf diesem Wege Ehehindernisse ermittelt wurden. Erst mit diesem Ergebnis konnte das zuständige Ressort überzeugt werden, so daß die Regelung bei der nächsten Novellierung abgeschafft wird.

Als abstraktes Prinzip mag das öffentlich ausgehängte Aufgebot Sinn machen. Stellt man jedoch die tatsächliche Erfahrung im Vollzug und vor allem die damit verbundenen Kosten in Rechnung, verliert diese Regelung ihre Berechtigung. Es liegt auf der Hand, daß die Trennung von Regelsetzung und Vollzug zwischen Bund und Gemeinden Grund für eine jahrzehntelange Blindheit gegenüber dem Vollzug ist. Eine systematische Rückkopplung zwischen diesen beiden Ebenen fehlt offensichtlich. Ob die Belange des Vollzugs berücksichtigt werden, hängt zu stark von den Interessen und Vorlieben des jeweiligen Referenten ab und ist zu wenig das Ergebnis von selbstverständlichen Informationsroutinen.

6.2 Monatsmeldungen im Werkfernverkehr

Nach dem Güterkraftverkehrsgesetz sind Beförderungen im Güterfernverkehr für Dritte genehmigungspflichtig. [ Auch dieses Beispiel geht auf die Waffenschmidt-Kom mission zurück.] Die Zahl der erteilten Genehmigungen ist begrenzt. Wenn ein Unternehmen im sogenannten Werkfernverkehr Güter für eigene Zwecke transportiert, ist hingegen keine Genehmigung nötig. Bei knappen Genehmigungen entsteht so die Gefahr, daß im Werkfernverkehr auch Güter für Dritte transportiert werden. Um Mißbrauch zu verhindern, werden zwei Wege eingeschlagen:

  • Die zuständige Aufsichtsbehörde kann Straßenkontrollen, bei denen die Begleitpapiere

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    überprüft werden, und Betriebskontrollen durchführen.

  • Jedes Unternehmen mit Werkfernverkehr muß darüber hinaus monatlich alle durchgeführten Fahrten melden. Hierbei müssen die Fahrten nach Art und Gewicht der transportierten Güter, Be- und Entladeort aufgeführt werden.

In Deutschland werden ungefähr 130.000 LKW im Werkfernverkehr eingesetzt. Unterstellt man an 250 Tagen pro LKW je eine Fahrt und pro Fahrt einen Bearbeitungsaufwand von 5 Minuten, um die Daten festzuhalten, am Ende des Monats zusammenzustellen und zu versenden, und berechnet wiederum 60 DM pro Stunde (inkl. aller Nebenkosten), ergibt sich ein Aufwand bei den Unternehmen von 162 Mio. DM. Hinzu kommt der Bearbeitungsaufwand in der Behörde.

Auch in diesem Fall sah das zuständige Ressort keinen Anlaß, die Regelung in Frage zu stellen, obwohl die Frage nach entdeckten Mißbrauchsfällen nicht beantwortet werden konnte. Darüber hinaus gelang es der Waffenschmidt-Kommission, nachzuweisen, daß die Angaben im Regelfall einen eventuellen Mißbrauch nicht einmal erkennen lassen. Letztendlich mußte sich das zuständige Ressort auch hier von der externen und nur exemplarisch arbeitenden Kommission von der Nutzlosigkeit der Regelung überzeugen lassen. Die Monatsmeldung wird wahrscheinlich bei der nächsten Novellierung des Güterkraftverkehrsgesetzes entfallen.

6.3 Kindergeld

Der Gesetzgeber hat im Rahmen des Jahressteuergesetzes 1996 den Familienlastenausgleich neu geregelt. Er wurde erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens eingebracht und erhielt seine Ausgestaltung in zwei Vermittlungsverfahren zum Jahressteuergesetz. Die Nichtbeteiligung der Verwaltung im Vermittlungsverfahren erschwert neben dem hohen Zeitdruck die Einflußnahme.

Wesentliche Bestandteile dieser Neuregelung sind eine Erhöhung der Leistungen, die Einführung des Monatsprinzips auch beim Kinderfreibetrag und der Übergang der Zuständigkeit für Kinderfreibetrag und Kindergeld auf die Finanzverwaltung. Diese zunächst positiven Ansätze im Familienlastenausgleich wurden nach dem Bekanntwerden der Regelung schnell von der Kritik an den neuen Modalitäten bei der Auszahlung überlagert. Bislang waren die Kindergeldkassen der Arbeitsämter zuständig. Diese werden nun im Wege der sogenannten „Organleihe" als Familienkassen zu Organen der Bundesfinanzverwaltung. Bei den Familienkassen ist das Kindergeld in jedem Fall zu beantragen. Für Arbeitnehmer soll es, wie bisher schon im öffentlichen Dienst, jedoch vom Arbeitgeber zusammen mit dem Arbeitslohn ausgezahlt werden. Der Arbeitgeber zieht das ausgezahlte Kindergeld von der abzuführenden Lohnsteuer ab. Die Kritik an dieser Regelung führte dazu, daß Arbeitgeber mit bis zu fünfzig Beschäftigten sich auf Antrag von dieser Verpflichtung freistellen lassen können.

Die von den Wirtschaftsverbänden vorgebrachte Kritik bezieht sich im wesentlichen auf die mit der Auszahlung verbundenen Kosten. Diese entstehen bei der Umstellung und als laufende Bearbeitungskosten. Der DIHT beziffert die Einführungskosten für ein Unternehmen mit 5.000 Arbeitnehmern mit 30.000 DM und die laufenden Kosten mit 120.000 DM jährlich. Unabhängig von der Richtigkeit dieser Werte wird mit der Neuregelung Arbeitsaufwand vom Staat auf die Arbeitgeber verlagert, ohne dafür einen Ausgleich vorzunehmen. Die Familienkassen bleiben jedoch auch in diesen Fällen beteiligt, weil sie weiterhin die Antragsbearbeitung übernehmen, nach denen der Arbeitgeber das Kindergeld auszahlt. Dementsprechend müssen auch alle Änderungen in der Lebenssituation (Beginn oder Ende des Arbeitsverhältnisses, Einkommen der Kinder, Beendigung oder Unterbrechung der Berufsausbildung der Kinder etc.), die sich auf den Anspruch auswirken, weiterhin den Familienkassen beim Arbeitsamt mitgeteilt werden. Diese unterrichten dann den Arbeitgeber.

Selbst wenn sich während der Verhandlungen ein Abgeordneter an das Finanzministerium gewandt hätte, wäre dies nicht von Nutzen gewesen, weil die zuständigen Referenten nicht wis-

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sen, wie viele der insgesamt über 8 Millionen Kindergeldempfänger als Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft erreicht werden. [ Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes, Selbständige, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger sind von der Regelung nicht betroffen.] Darüber hinaus ist auch nicht bekannt, wie viele Berechtigte in Betrieben mit weniger als 50 Beschäftigten arbeiten. Daß die zuständigen Referenten die relevanten Daten nicht kennen, zeigt jedoch, daß die Ministerialbürokratie sich hier lediglich als Sachverwalter von politischen Entscheidungen versteht und nur auf Anfrage tätig wird. Die Aufgabe der Politikberatung wird nicht aktiv wahrgenommen, ein eigenes Aufklärungsinteresse ist nicht zu erkennen. Über die Ursachen dieses mangelnden Engagements kann man hier nur spekulieren: Burning-Out-Effekte; Frustration gegenüber den Praktiken der politischen Entscheidungsfindung, mangelndes Gespür für die Bedeutung der Vollzugskosten bei Privaten, erschwerter Zugriff auf Vollzugsdaten bei der nachgeordneten Behörde etc.

6.4 Wohngeld

Unterschätzung der Vollzugskosten. Die Kosten des Wohngeldvollzugs (nur Tabellenwohngeld) werden im Wohngeldmietenbericht 1993 für das Jahr 1992 insgesamt mit 309 Millionen DM beziffert. Hiervon entfallen 86 % auf Personalkosten (alte Länder). Pro Bescheid können demnach 125,29 DM angesetzt werden. Unberücksichtigt bleiben in dieser Kalkulation die Pensionsrückstellungen für Beamte, die Kosten für Gebäude und weitere Nebenkosten, insbesondere Abschreibungen.

Die Wohngeldstelle der Stadt Mannheim verfügt über 15,5 Vollzeitstellen, wovon eine zur Zeit nicht besetzt ist. Neben den Sachbearbeitern sind dies zwei Sachgebietsleiter und der Abteilungsleiter. In einer einfachen Modellrechnung ergeben sich bei 2.000 bezahlten Stunden pro Vollzeitstelle im Jahr auf der Basis von 14,5 Stellen bei einem Vollkostenstundensatz von DM 60 Gesamtkosten von 1,74 Millionen DM im Vollzug des Wohngeldgesetzes. Im Durchschnitt der Jahre 1992 bis 1994 gab es in der Stadt Mannheim 6.000 Wohngeldempfänger (nur Tabellenwohngeld) [ Beim Wohngeld wird das Tabellenwohngeld vom pauscha lierten Wohngeld unterschieden. Die Bearbeitung des pauschalierten Wohngeldes wird in der Regel von den Sozialämtern in Zusammenhang mit den Leistungen des Bundessozialhilfegesetzes bearbeitet.] , so daß für einen positiven Wohngeldbescheid jährlich 290 DM oder knapp 5 Stunden kalkuliert werden können. Unterstellt man den übrigen Wohngeldstellen in Deutschland eine vergleichbare Produktivität, ergibt sich bei 3 Millionen Wohngeldempfängern (Jahresende 1991) ein jährlicher Verwaltungsaufwand von 870 Millionen DM. [ Bis heute hat sich die Zahl der Empfänger von Tabellenwohngeld erheblich reduziert, so daß der Vollzugsaufwand, zumindest rechnerisch, zurückgegangen sein dürfte. Dieser Rückgang geht jedoch einher mit einem Anstieg der Zahl der Empfänger von pauschaliertem Wohngeld. Da dies in der Regel von den Sozialämtern in Zusammenhang mit den Sozialhilfeleistungen bearbeitet wird, ist der Vollzugsaufwand nicht ohne weiteres kalkulierbar. ]

Offiziell unberücksichtigt bleibt der Zeitaufwand der ca. 3 Millionen Wohngeldempfänger, um die Anträge zu stellen und alle erforderlichen Unterlagen zu besorgen. Der Aufwand ist je nach Einkommens- und Lebenssituation sehr verschieden. Auch unterscheidet sich der Aufwand für den ersten Antrag von eventuellen Folgeanträgen. Unterstellt man im Durchschnitt 2 Stunden (Antrag ausfüllen, Bescheinigungen einholen, Antrag abgeben), ergibt sich bei einem Stundensatz von DM 15 zusätzlich jährlich 90 Millionen DM als Äquivalent für die eingebrachte Freizeit der Antragsteller.

Zunehmende Schwierigkeiten im Vollzug. Der Unmut bei den kommunalen Wohngeldstellen über die Schwierigkeiten des Vollzugs ist hoch. Die Kritik richtet sich z. B. auf die zunehmenden Schwierigkeiten bei der Bestimmung des anzurechnenden Einkommens, auf die Vielfalt von möglichen Freibeträgen und die Einholung von Erstattungsansprüchen gegenüber anderen Ämtern und Behörden (z. B. Arbeitsamt). Auch habe der Antragsteller bei der Vielfalt der Regelungen in der Regel keinen Überblick, welche Belege er besorgen und miteinreichen muß, so daß ein hoher Anteil der Anträge unvollständig eingereicht wird. Sowohl das Amt als auch der Antragsteller müssen sich somit mehrfach

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mit dem Vorgang befassen. Insbesondere die Berechnung der im Antragsmonat „absehbaren" Einkommen führt zu Schwierigkeiten und vielen Rückfragen in der Bearbeitung. Hintergrund der zunehmenden Vollzugsprobleme sind die Ausdifferenzierung des Einkommensbegriffs auf der einen Seite und die zunehmende Zahl von Antragstellern mit unsicheren bzw. schwankenden Einkommen auf der anderen Seite. Ergebnis ist auch der Rückgang der Bewilligungsdauer auf 6 bis 8 Monate anstelle der gesetzlich als Regelfall eingestuften 12 Monate. [ Darüber hinaus wird kritisiert, daß die Anhebung der Lei stungsbeträge mit der Mietpreisentwicklung nicht Schritt hält. Auch hieraus kann sich die Tendenz zu einer Schaffung von Sonderrecht für einzelne Bevölkerungsgruppen durch entsprechende Freibeträge etc. ergeben.]

Die Kritik ist dem Bauministerium bekannt und weitgehend schon im Wohngeldmietenbericht enthalten. Bislang fehlt jedoch, trotz der beabsichtigten Novellierung des Wohngeldgesetzes, eine systematische Vollzugsforschung. Nach der Einschätzung des zuständigen Referates ist dies nicht erforderlich, weil der Vollzug sich in den fast 30 Jahren der Anwendung des Wohngeldgesetzes von selbst optimiert haben dürfte.

„Rendite" einer Vollzugsforschung. Auch ohne genaue Prüfung kann man unterstellen, daß die von den Wohngeldstellen vorgebrachte Kritik Möglichkeiten zur Vereinfachung des Verfahrens bietet. Geht man von Vollzugskosten von 600 Millionen DM bei 3 Millionen Anträgen aus, so hätte eine Einsparung von 5 Prozent einen Gegenwert von 30 Millionen DM. Dies entspräche einer Verkürzung der Arbeitszeit pro Antrag von derzeit rechnerisch 3 Std. 20 Min. um 10 Minuten.

Es liegt auf der Hand, daß schon ca. 1 Million DM ausreichen würden, um eine merkliche Vereinfachung der Verfahren zu erarbeiten und sie in Testreihen zu überprüfen. Der Gegenwert einer Investition von einer Million kann auf 10 Jahre verteilt werden, so daß 100.000 DM pro Jahr zu berechnen sind. Eine Kostendeckung wäre rein rechnerisch erreicht, wenn eine Beschleunigung bei der Bearbeitung um 2 Sekunden pro Antrag und Jahr verwirklicht werden könnte.

Selbst wenn nicht jede einzelne Sekunde als Einsparung tatsächlich in einem Haushalt freigesetzt werden kann, ist offensichtlich, daß bei einer systematischen Vollzugsforschung bei geringem Aufwand hohe Einsparungen erzielt werden können.

Daß der Bund die Kosten des Vollzugs nicht berücksichtigt und dementsprechend wenig Interesse an einer systematischen Berücksichtigung der Vollzugskosten hat, zeigte sich auch bei der Novellierung des Wohngeldgesetzes 1993. Seither gilt es als Ordnungswidrigkeit, wenn Wohngeldempfänger eine positive Veränderung ihrer Einkommensverhältnisse von 15 % oder mehr über einen bestimmten Zeitraum hinweg nicht anzeigen. Das Finanzministerium hat diese Regelung gegen den Widerstand des Bauministeriums durchgesetzt. Der Bund hat im Gesetzentwurf dazu sehr realistisch Mehreinnahmen (Ersparnis) von 70 Millionen kalkuliert. Vernachlässigt wurde allerdings der zusätzliche Verwaltungsaufwand bei den kommunalen Wohngeldstellen, der mit einer Neuberechnung einhergeht. In Zusammenarbeit mit kommunalen Wohngeldstellen wurde anschließend berechnet, daß der Mehraufwand bei den Kommunen ungefähr 20 Millionen beträgt. Zwar ist diese Regelung, auch unter Berücksichtigung der Vollzugskosten, wahrscheinlich noch sinnvoll, doch kommt es auch hier zu einer Verlagerung von Kosten.

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7. Weitere Beispiele



7.1 Ozonverordnung – eine Scheinlösung

Seit dem 26. Juli 1995 ist die neue Sommersmogregelung („Ozonverordnung") in Kraft. Sie sieht Fahrverbote für „stark emittierende Fahrzeuge" ab einer Ozonkonzentration von 240 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft vor. Fahrverbote werden wirksam, wenn drei Stationen in einem Radius von 50 bis 250 Kilometern diesen Wert erreichen und diese Konzentrationen auch am Folgetag zu erwarten sind. Mit hoher Wahrscheinlichkeit bleibt die Regelung jedoch unwirksam:

  • Fahrzeuge mit „geringem Schadstoffausstoß", Fahrten von Berufspendlern und Fahrten zum und vom Urlaubsort bleiben von der Rege-

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    lung ausgenommen. Da eine Überprüfung kaum möglich ist, ist die Regelung praktisch nicht administrierbar. Der „falsche" Urlaubskoffer würde wahrscheinlich nach kurzer Zeit neben Verbandskasten und Warndreieck zur Grundausstattung vieler Fahrzeuge gehören.

  • Der Vollzug wird vom Bund dann folgerichtig zur Ländersache gemacht, wodurch neue Komplikationen im grenzüberschreitenden Verkehr zwischen Bundesländern vorprogrammiert werden. Im Zweifelsfall werden die Bundesländer umfahren, die besonders streng bei der Überprüfung und bei der Gewährung von Ausnahmeplaketten sind. [ Die Regelung sorgte in den ersten Tagen für viel Aufregung, weil niemand wußte, wo die entsprechenden Plaketten zu bekommen waren. ]
  • Allerdings wird so viel Phantasie nicht erforderlich sein, weil die Auslöseschwelle für Fahrverbote so hoch angesetzt ist, daß es voraussichtlich nicht oder nur sehr selten zur Überschreitung der Grenzwerte kommen wird.

Diese Einwände sind lange bekannt und wurden von verschiedenen Experten vor der Entscheidung nochmals vor dem Umweltausschuß des Bundestages wiederholt. [ Siehe Rudolf Petersen und Harald Diaz-Bone: Die neue Ozonverordnung: In: Spektrum der Wissenschaft. Dossier: Verkehr und Auto. Heidelberg 1995, S. 98/99.] Daß der Gesetzgeber sich über derart plausible Einwände hinwegsetzte, kann nur als fehlendes Interesse an einer wirkungsvollen Regelung interpretiert werden. Die Diskussion über die Festsetzung der Auslöseschwelle wurde erschwert, weil die Meßverfahren in der Ozonverordnung neu definiert wurden. Ein Vergleich mit historischen Werten ist daher kaum möglich, wodurch das schlagkräftigste Gegenargument ausgehöhlt wurde.

Mit dieser bundeseinheitlichen Verordnung treten die länderspezifischen Regelungen außer Kraft, so daß die Ozonverordnung insgesamt nur als Regelung zur Verhinderung von Fahrverboten bei gleichzeitiger Beruhigung der Öffentlichkeit zu verstehen ist. Es liegt auf der Hand, daß Fahrverbote angesichts erforderlicher Ausnahmen und unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten einer Überprüfung kaum das geeignete Mittel sind, Sommersmog zu bekämpfen. Im Ergebnis werden hohe Ozonkonzentrationen als Problem negiert. Die Verabschiedung der Ozonverordnung ist deswegen nicht nur eine Regelung ohne Wirkung (bei wahrscheinlich hohen Kosten in der Regelungsvorbereitung und versuchten Umsetzung), sondern verhindert geradezu eine effektivere Bekämpfung der Ozonproblematik. Bei einem offensichtlichen Interesse an einer wirkungslosen symbolischen Politik sind die Einflußmöglichkeiten der Ministerialbürokratie gering.

7.2 Bundesgrenzschutz – qualitative Forschungsansätze gefragt

Nachdem das Kostenbewußtsein auch in das für den Bundesgrenzschutz zuständige Innenministerium eingezogen ist, sind die Kosten des Grenzschutzes nicht nur bekannt, sondern werden auch nach Möglichkeit reduziert. Die Informationslage läßt es z. B. zu, die zusätzlichen Kosten eines weiteren Grenzschützers an der polnischen Grenze relativ exakt zu berechnen. Damit ist im Vergleich zur Vergangenheit schon viel erreicht. Allerdings kann niemand abschätzen, wie hoch der Nutzen eines weiteren Grenzschützers ist und ob dadurch die zusätzlichen Kosten gerechtfertigt werden.

Statistisch läßt sich lediglich erfassen, wie viele illegale Grenzübertritte verhindert werden, woher die aufgegriffenen Personen stammen, wieviel Rauschgift oder gestohlene Kraftfahrzeuge sichergestellt wurden. Diese und ähnliche Daten werden in einem recht differenzierten Statistikwesen aufgelistet und regelmäßig ausgewertet. Der Aufwand für diese Datenbeschaffung und -auswertung ist unbekannt. Zusätzliche Erfahrungen werden durch punktuelle Maßnahmen gemacht, indem z. B. zeitlich befristet die Grenzüberwachung in einzelnen Abschnitten intensiviert wird. Das Dunkelfeld bleibt allerdings groß. Wie alle Maßnahmen im Bereich der inneren Sicherheit hat der Grenzschutz nicht nur die Aufgabe, Illegales aufzudecken, sondern durch seine Präsenz auch Straftaten zu verhindern und bei den Bürgern das Gefühl von Sicherheit zu erzeugen. Aus der Statistik heraus ist jedoch

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nur ablesbar, in welchem Ausmaß versuchte illegale Grenzübertritte oder versuchter Rauschgiftschmuggel aufgedeckt wurden. Wieviel verhindert wurde, bleibt ungewiß.

Darüber hinaus wird keine systematische Forschung betrieben, um z. B. das Ausmaß der illegalen Zuwanderung und deren Wege (z. B. Schlepperbanden) zu verfolgen. So kann auch nicht entschieden werden, ob eine Intensivierung der Überwachung an einem Grenzabschnitt nicht zur Intensivierung der Zuwanderung an einem anderen führt oder lediglich Anreiz zu einer verbesserten Organisation der Schlepperbanden ist. So lange die Wege, auf denen illegale Einreisen stattfinden, gestohlene Fahrzeuge verschoben werden oder Rauschgift über die Grenzen gebracht wird, nicht bekannt sind, bleiben Erfolge in der Bekämpfung mehr oder weniger zufällig.

Angesichts des aktuellen Kenntnisstandes bleibt die Frage, ob der derzeit betriebene Aufwand reduziert werden kann oder sogar noch verstärkt werden muß, von der Ministerialverwaltung unbeantwortet und allein der politischen Führung überlassen. Obwohl der Bundesgrenzschutz mit jährlich 2 Milliarden DM im Haushalt verankert ist, wird keine systematische Wirkungsforschung betrieben. Die Ministerialbürokratie räumt hier in einem extrem ideologisch besetzten und deswegen hochgradig für politisch-strategische Machtspiele anfälligen Politikbereich freiwillig das Feld. Eine aktive Politikberatung findet nicht statt. Ursächlich für diesen Verzicht ist mit hoher Wahrscheinlichkeit die Unkenntnis oder Skepsis gegenüber qualitativen und vergleichenden Forschungsansätzen.

[Seite der Druckausg.: 62 = Leerseite]


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