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Ist Deutschland ein "Weltmeister im Export von Arbeitsplätzen"?

In den Medien erscheinen immer wieder Schlagzeilen vom "Exodus der deutschen Industrie" oder von Deutschland als "Weltmeister im Export von Arbeitsplätzen". Diese schlichten, aber durchaus wirksamen Bilder werden insbesondere vom BDI mit Blick auf die große Öffentlichkeit verbreitet. So hat etwa BDI-Präsident Olaf Henkel behauptet, deutsche Unternehmen hätten von 1990 bis 1994 "rund 300.000 Arbeitsplätze von Deutschland ins Ausland verlagert" (Neue Osnabrücker Zeitung, 21.10.1995).

Dieser Interpretation des Wachstums deutscher Konzerne im Ausland ist entgegenzuhalten, daß Arbeitsplätze bei den Auslandsgesellschaften keineswegs nur durch Produktionsverlagerungen oder durch eine zusätzliche Produktionsausweitung im Ausland entstehen. Verantwortlich für das Beschäftigungswachstum - ebenso wie für einen Großteil der Direktinvestitionen - sind vielmehr Übernahmen von bereits bestehenden Unternehmen und Betrieben.

Dies läßt sich für den Bereich der Verarbeitenden Industrie belegen. Im Rahmen einer zehnjährigen Investitionsbeobachtung wurden Akquisitionen und Verkäufe von ausländischen Unternehmen und Betrieben der Verarbeitenden Industrie durch deutsche Investoren erfaßt. Für etwa die Hälfte der über 1300 erfaßten Akquisitionen und Verkäufe konnte auch die Zahl der betroffenen Beschäftigten ermittelt werden. Aus der Differenz zwischen den Beschäftigtenzahlen der akquirierten und der verkauften Unternehmen ergibt sich der Saldo der sogenannten externen Veränderungen. Vergleicht man nun das gesamte Beschäftigungswachstum im Ausland mit diesen externen Veränderungen, so ergibt sich der Saldo der internen Veränderungen - etwa durch den Auf- oder Ausbau von eigenen Produktionsstätten im Ausland.

Anzumerken ist, daß die Daten für das externe Beschäftigungswachstum, da sie nicht vollständig ermittelt werden konnten, einen Minimalwert darstellen, während die Daten für das interne Beschäftigungswachstum Maximalwerte sind. Ein besonderes Problem ergab sich bei der Erfassung der Daten für Osteuropa, da hier häufig Teile von ehemaligen Kombinaten gekauft wurden, für die keine Beschäftigtenzahlen ermittelt werden konnten. Die folgende Darstellung bezieht sich also zunächst nur auf die westlichen Industrieländer und die Entwicklungsländer (incl. China). Auf die Aktivitäten der deutschen Unternehmen in Osteuropa wird aber anschließend kurz eingegangen.

Die Beschäftigtenzahl bei produzierenden Auslandsgesellschaften deutscher Unternehmen in den Industrie- und Entwicklungsländern stieg in den zehn Jahren zwischen 1984 und 1994 von 1,22 Mio. auf 1,64 Mio., d.h. um 422.000. Im gleichen Zeitraum haben deutsche Unternehmen im Ausland produzierende Unternehmen oder Unternehmensteile mit einer Beschäftigtenzahl von über 461.000 gekauft, während sie gleichzeitig Unternehmen oder Unternehmensteile mit 132.000 Beschäftigten verkauft haben. Allein durch externe Veränderungen erhöhte sich also die Auslandsbeschäftigung um über 329.000. Für das interne Beschäftigungswachstum ergibt sich ein Saldo von 93.000 (vgl. Tabelle 3).




Quelle: Sonderauswertungen der Bundesbank; eigene Datenbank; eigene Berechnungen

Anmerkungen: 1984 sind in der Bestandsstatistik Beteiligungen über 25% erfaßt, 1994 bereits alle Beteiligungen über 20%; externe Veränderungen sind als Minimalwerte, interne Veränderungen als Maximalwerte zu verstehen.

Zunächst fällt auf, daß die deutschen Konzerne ihre Belegschaft vorrangig in den Industrieländern ausgebaut haben. Allein in Westeuropa stieg sie um 267.000. Bei der Interpretation der Daten für die USA ist zu berücksichtigen, daß der ausgewiesene Anstieg um nur 53.000 insbesondere dadurch bedingt ist, daß der deutsche Investor Flick 1986 seine Beteiligung an dem Chemiekonzern W.R.Grace verkauft hat; dieses Investment hatte eigentlich eher den Charakter einer Portfolioinvestition, wurde aber, da die Beteiligung über 25% lag, statistisch als Direktinvestition erfaßt. Der Zuwachs der Beschäftigten bei deutschen Konzerngesellschaften im engeren, operativen Sinne dürfte sich in den USA im betrachteten Zeitraum um etwa 150.000 (von lediglich etwa 140.000 auf 292.000) erhöht haben.

Im Vergleich zur Expansion in den Industrieländern fällt das Beschäftigungswachstum in den Entwicklungsländern mit 90.000 sowohl absolut als auch relativ zur Ausgangsposition von 452.000 Beschäftigten (1984) eher bescheiden aus. Hier fallen allerdings erhebliche regionale Unterschiede ins Auge: Während sich der Beschäftigtenstand in Afrika und Lateinamerika nicht bzw. nur geringfügig erhöhte, konzentrierte sich das Wachstum vornehmlich auf Asien.

Deutlich wird, daß in den Entwicklungsländern externes Wachstum durch Übernahmen kaum eine Rolle spielt. Die deutschen Unternehmen wachsen dort vielmehr intern durch den Auf- und Ausbau von eigenen Produktionsstätten. Dies ist insbesondere in einer Wachtumsregion wie Asien nicht verwunderlich. Hier geht es den Unternehmen nicht darum, sich in bereits bestehende Märkte einzukaufen, sondern neue Märkte für die eigenen Produkte zu erschließen. Mit einem Zuwachs von 69.000 Beschäftigen im Laufe von zehn Jahren hat die Expansion deutscher Unternehmen in den asiatischen Entwicklungsländern allerdings noch lange nicht die Dimension der Expansion deutscher Unternehmen in Lateinamerika in den 50er und 60er Jahren erreicht. Ein gewisser qualitativer Unterschied besteht allerdings in dem heute höheren Integrationsgrad Asiens in die Weltwirtschaft.

Das stärkste Wachstum war in China (mit Schwerpunkt im Straßenfahrzeugbau) zu verzeichnen; hier wird - zumindest bislang - nahezu ausschließlich für den Binnenmarkt produziert. Dies dürfte weitestgehend auch für Indien zutreffen. Aber auch in vielen anderen Ländern - wie etwa Südkorea - findet bei den deutschen Gesellschaften kaum Produktion für den Export statt. Für ganz Asien gehen wir davon aus, daß allenfalls ein Viertel der hinzu gekommenen Beschäftigten für den Export nach Deutschland oder Europa arbeitet. Dies würde eine Verlagerung von jährlich maximal 2.000 Arbeitsplätzen bedeuten - eine volkswirtschaftlich zu vernachlässigende Größe. Anzumerken ist hier, daß Produktionsverlagerungen von deutschen Konzernen auch ohne direkte Kapitalbeteiligung organisiert werden können; Subcontracting und ähnliche Formen der Produktionsverlagerung, die etwa in der Bekleidungsindustrie und Teilen der Elektronikindustrie eine gewisse Rolle spielen, sollen aber nicht Gegenstand dieser Studie sein.

In den Industrieländern läßt sich nahezu das gesamte Beschäftigungswachstum der deutschen Konzerne durch externes Wachstum, d.h. durch Unternehmensaufkäufe, erklären. Dies gilt insbesondere für die USA sowie für die großen europäischen Länder wie Frankreich, Spanien oder Großbritannien.

In einzelnen kleineren westeuropäischen Ländern, insbesondere an der Peripherie, findet jedoch auch internes Wachstum statt. Vornehmlich Portugal, aber auch Irland sind Standorte, an denen deutsche Konzerne die niedrigeren Arbeitskosten nutzen, um von hier aus nicht nur den lokalen sondern auch den europäischen und deutschen Markt zu beliefern. Im Rahmen solcher primär exportorientierter Produktionsverlagerungen dürften aber auch hier - ähnlich wie in Asien - jährlich nicht über 2.000 Arbeitsplätze in der westeuropäischen Peripherie entstanden sein.

Wie läßt sich nun aber erklären, daß die deutschen Konzerne in den großen europäischen Ländern kein internes Beschäftigungswachstum zu verzeichnen haben, ja, daß sie häufig sogar Arbeitsplätze abbauen - wird nicht immer wieder in den Medien von Produktionsverlagerungen auch in diese Länder berichtet?

Ganz offensichtlich stand diesem Beschäftigungsausbau an verschiedensten Stellen an wiederum anderen Stellen ein nicht unwesentlicher Beschäftigungsabbau gegenüber. Hier sind verschiedene Ursachen denkbar: Auch ausländische Produktionsstandorte sind u.U. einfach nicht wettbewerbsfähig und werden dicht gemacht. Ferner haben deutsche Konzerne auch im Ausland durch Rationalisierungsmaßnahmen Beschäftigung abgebaut. Insbesondere nach Übernahmen erschließen sich für deutsche Konzerne Rationalisierungspotentiale, indem sie etwa ihre eigenen in Deutschland entwickelten und häufig wesentlich effizienteren Produktionstechnologien auf die übernommenen Unternehmen übertragen. Bedeutsam dürften schließlich auch Verlagerungen von Produktion aus dem Ausland nach Deutschland gewesen sein. Auch solche (Rück-)Verlagerungen finden vermutlich insbesondere - aber keineswegs nur - nach Übernahmen statt, wenn durch Restrukturierungsmaßnahmen sogenannte Synergieeffekte erschlossen werden sollen. Im Rahmen von Standortbereinigungen wird die Produktion dann häufig an wenigen großen Standorten konzentriert. Vermutlich werden hier kleinere Auslandsstandorte geschlossen, während die großen und bereits weitgehend durchrationalisierten Standorte im Konzernverbund, die sich bei deutschen Unternehmen schwerpunktmäßig in Deutschland befinden, ausgebaut werden.

In Osteuropa, wo es bis 1989 - mit der Ausnahme Jugoslawiens - so gut wie keine Direktinvestitionen gab, beschäftigten deutsche Konzerne Ende 1994 bereits 220.000 Personen, davon 160.000 in der Verarbeitenden Industrie. Die überwiegende Mehrzahl von ihnen kam durch Übernahmen und Beteiligungen - häufig in der Form von joint ventures als Ausgründungen lokaler Unternehmen - in den Einflußbereich deutscher Konzerne. Auf der Basis einer kürzlich erstellten Datenbank von 500 deutschen Tochter- und Beteiligungsgesellschaften in den Visegrád-Ländern schätzen wir, daß knapp ein Drittel der dort in der Verarbeitenden Industrie Beschäftigten in Betrieben arbeitet, die überwiegend für den Export nach Deutschland und Westeuropa produzieren - insgesamt also etwa 50.000 Arbeitskräfte. Ihre Zahl wird sicher in den nächsten Jahren weiter steigen. Hier bietet sich ein Vergleich mit Mexico an, wo heute über 500.000 Personen in sogenannten Maquiladora-Fabriken beschäftigt sind, die für den Export in die USA arbeiten. Von solchen Dimensionen sind die deutschen Unternehmen in Osteuropa noch weit entfernt, auch wenn man andere Formen der Internationalisierung wie Subcontracting oder Passive Lohnveredelung, die in der Möbel- oder der Bekleidungsindustrie eine größere Rolle spielen, berücksichtigt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1999

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