FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




Der Übergang vom Prosperitätssyndrom zum Krisensyndrom in den USA und Europa



Page Top

Vom „Realkapitalismus" zum „Finanzkapitalismus"

In neoliberaler Sicht ist die Beschäftigungsentwicklung unabhängig vom Wachstumstempo. Kurzfristig verursachen zwar „demand shocks" Beschäftigungsverluste, diese können aber nur durch die Marktkräfte wettgemacht werden und erfordern daher eine Reallohnzurückhaltung; tatsächlich blieben die Arbeitsmärkte in Deutschland zu „rigid", die in den Rezessionen gestiegene Arbeitslosigkeit konnte so nicht wieder abgebaut werden und ist somit strukturell bedingt.

Nach der systemischen Hypothese ist die Beschäftigungsentwicklung abhängig vom Wachstum des Realkapitals und (damit) der Gesamtproduktion einerseits und von der Zunahme der Kapitalintensität andererseits, welche das Wachstum der Arbeitsproduktivität determiniert. Das Tempo der Realakkumulation hängt wieder in erster Linie von der Profitabilität von Aktivitäten auf Gütermärkten im Vergleich zu solchen auf Finanzmärkten ab.

In der Prosperitätsphase wurde das Gewinnstreben auf langfristig-spekulative Aktivitäten auf den Gütermärkten gelenkt, also auf Investitionen, Innovationen und den (internationalen) Handel. Die europäischen Volkswirtschaften expandierten in dieser Phase viel rascher als die Wirtschaft der USA, und zwar in erster Linie deshalb, weil die makro- und mesoökonomischen Rahmenbedingungen aufeinander abgestimmt waren: der wirtschaftspolitisch aktive Staat und die korporatistische Gestaltung der Arbeitsbeziehungen durch Unternehmerverbände und Gewerkschaften ergänzten die realkapital- und damit wachstumsfreundlichen Makrobedingungen.

Die drei Rezessionen 1974/75, 1980/82 und 1991/93 wurden nach systemischer Sicht nicht durch unvermeidliche „Schocks" verursacht, sondern in erster Linie durch Maßnahmen der Politik wie etwa die Aufkündigung der Goldkonvertibilität des Dollar (die nachfolgende Dollarabwertung entwertete die Exporterlöse der OPEC-Länder und trug so zu den beiden „Ölpreisschocks" bei), die Hochzinspolitik der USA 1979/1981 (diese brachte eine enorme Aufwertung des Dollar und damit auch der Dollarschulden der Entwicklungsländer mit sich, und trug so zur Schuldenkrise 1982 bei) oder die Hochzinspolitik der Bundesbank 1989/92 und der dadurch (mit)verursachte Zusammenbruch fester EWS-Wechselkurse.

Die Hauptursache für die langfristige Abschwächung des Wirtschaftswachstums liegt in der Verlagerung des „Vermehrungsdrangs" des Kapitals von den Gütermärkten zu den Finanzmärkten: Einerseits erhöhten instabile Zinssätze, Wechselkurse und Rohstoffpreise die Unsicherheit hinsichtlich der Profitabilität von Realinvestitionen sowie auch deren Finanzierungskosten, andererseits bot genau diese Entwicklung neue Gewinnchancen für kurzfristig-spekulative Aktivitäten. Deren Expansion steigerte wiederum die Volatilität der wichtigsten Finanzmarktpreise, was in einem „feed-back" die Realkapitalbildung weiter dämpfte.

Der Übergang vom „Realkapitalismus" zum „Finanzkapitalismus" und damit von Vollbeschäftigung zur Arbeitslosigkeit kommt markant darin zum Ausdruck, daß der Zinssatz bis in die siebziger Jahre mittelfristig unter der Wachstumsrate lag, seither aber permanent darüber (Abbildung 4).





Als Folge dieses Regimewechsels haben die Unternehmen ihre Funktion, das Sparen der privaten Haushalte in Realkapital und damit auch in Arbeitsplätze zu transformieren, in viel geringerem Maß erfüllen können als bis Anfang der siebziger Jahre. Denn nur wenn der Zinssatz unter der Wachstumsrate liegt, können Schuldner mehr Kredite aufnehmen als sie an Zinsen für die "Altschulden" zu zahlen haben, ohne daß ihr Schuldenstand rascher wächst als das BIP; ein positives Zins-Wachstums-Differential zwingt sie hingegen, ihre Kreditaufnahme und damit auch ihre Investitionen zu reduzieren.

Page Top

Die kapitalintensive und die arbeitsintensive Antwort auf das „Krisensyndrom"

In neoliberalem Kontext ist die höhere (Lohn)Flexibilität der amerikanischen Arbeitsmärkte die wichtigste Ursache, warum die Arbeitslosigkeit in den USA seit Anfang der siebziger Jahre weniger gestiegen ist als in Europa: es gibt keinen nennenswerten Arbeitnehmerschutz, die Mindestlöhne sind niedrig, der Einfluß der Gewerkschaften ist schwach, die „Reallohnansprüchlichkeit" der Arbeitnehmer blieb auch durch die niedrigen Arbeitslosenunterstützungen gering.

Nach der systemischen Hypothese nahmen mit dem Realzinsniveau und mit den Gewinnchancen von Finanzspekulation auch die Renditeansprüche des Realkapitals zu („shareholder-value"); eine höhere Profitabilität realer Investitionen erforderte eine Umverteilung zugunsten der Gewinne, also ein „Drücken" des Reallohnzuwachses unter die Steigerung der Arbeitsproduktivität, was auf zweierlei Weise realisiert werden kann:

  • Steigerung der Arbeitsproduktivität durch Forcierung von Rationalisierungsinvestitionen: diese erhöhen und verbessern die Kapitalausstattung je Arbeitsplatz und konzentrieren sich auf Sektoren mit überdurchschnittlicher Kapitalintensität, insbesondere die Industrie.
  • Senkung der Reallöhne und Konzentration der Produktion auf solche Sektoren, in denen überwiegend wenig qualifizierte Arbeitskräfte verwendet werden, kombiniert mit einer geringen Kapitalausstattung je Arbeitsplatz, insbesondere im traditionellen Dienstleistungsbereich.

In den USA trug das hohe Angebot an wenig qualifizierten Arbeitskräften gemeinsam mit der geringen „Verbindlichkeit" der Arbeitsbeziehungen, den niedrigen Arbeitslosenunterstützungen und den schwachen Gewerkschaften in ihrem Zusammenwirken dazu bei, daß sich das Wachstum auf den Bereich der traditionellen Dienstleistungen konzentrierte: Arbeitsproduktivität und Reallöhne stagnierten, die Zahl der „working poor" nahm ebenso zu wie die Ungleichheit in der personellen Einkommensverteilung, gleichzeitig stieg die Beschäftigung permanent an.

In Deutschland trugen das hohe Niveau und die geringe Streuung der Qualifikation der Arbeitskräfte gemeinsam mit der korporatistischen Gestaltung der Arbeitsbeziehungen und des relativ „engmaschigen" Netzes der sozialen Sicherheit dazu bei, daß die Kapitalausstattung je Arbeitsplatz erhöht und die Arbeitsproduktivität durch diese Rationalisierungsprozesse permanent gesteigert wurde; gleichzeitig blieb die personelle Einkommensverteilung stabil.

Vereinfacht ausgedrückt: unter den Bedingungen des „Krisensyndroms", hat sich die Dynamik der Realkapitalbildung in beiden Ländern verlangsamt, in Deutschland konzentrierten sich die Investitionen auf die Schaffung weniger, relativ teurer und hochproduktiver Arbeitsplätze, in den USA verteilte sich hingegen das zusätzliche Realkapital auf viele, relativ billige und weniger produktive Arbeitsplätze.

In dieser Entwicklung kommt zum Ausdruck, daß die Destabilisierung der Rahmenbedingungen für die Realkapitalbildung die Beschäftigungslage in einem Land mit einem hohen Anteil an kapitalintensiver Sachgüterproduktion und einer (dementsprechend) hohen Exportquote wie Deutschland viel stärker beeinträchtigen muß als in einem Land mit einem hohen Produktionsanteil der traditionellen Dienstleistungen und einem relativ geringen Gewicht der Außenwirtschaft wie die USA.

Seit Anfang der neunziger Jahre haben sich überdies die makroökonomischen Rahmenbedingungen in den USA und Deutschland stark unterschiedlich entwickelt

  • In den USA förderten die Niedrigzinspolitik, der unterbewertete Dollarkurs, die Stärkung der Kaufkraft der „working poor" durch die Ausweitung der negativen Einkommenssteuer und die „nachfrageschonende" Budgetkonsolidierung durch den höheren Grenzsteuersatz (wieder) Aktivitäten auf den Gütermärkten, insbesondere Investitionen und Export.
  • In Deutschland ergab sich durch die Hochzinspolitik der Bundesbank, die DM-Aufwertung, die nachfragedämpfende Budgetpolitik sowie den starken Inflationsrückgang und damit anhaltend hohe Realzinsen eine genau gegenteilige Entwicklung.

Erstmals in der Nachkriegszeit entwickelte sich die Arbeitslosigkeit in Deutschland und den USA gegenläufig, während sie in den USA sank, stieg sie in Deutschland immer mehr an.

Stagnierende Reallöhne in den USA, sinkende Lohnquote in Deutschland: Aus neoliberaler Sicht ist die steigende Ungleichheit der (Lohn)Einkommen in den USA der Preis für das hohe Beschäftigungswachstum: weil die Reallöhne auf den Nachfragerückgang nach gering qualifizierten Arbeitskräften flexibel reagierten, hätte sich die Beschäftigung viel günstiger entwickelt als etwa in Deutschland. Mehrere Beobachtungen lassen diese Interpretation allerdings fragwürdig erscheinen:

  • Die Arbeitslosigkeit der „low skilled" relativ zu den „high skilled" ist in den USA deutlich höher als in Deutschland.
  • Die relative Arbeitslosenquote der schlechter Qualifizierten ist in den meisten Industrieländern seit Mitte der achtziger Jahre gesunken.
  • Dementsprechend ist die Arbeitslosigkeit für sämtliche Qualifikations- und Berufsgruppen langfristig gestiegen.

Aus systemischer Sicht ist das Verhältnis von Einkommensverteilung und Arbeitslosigkeit in hohem Maß von den gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig: verschlechtern sich diese nachhaltig, so verursacht eine (weiter) steigende Produktionseffizienz eine Zunahme der Arbeitslosigkeit, welche die Reallöhne dämpft und die Ungleichheit in der Einkommensverteilung erhöht. Ein Vergleich der Entwicklung in den USA und Deutschland seit Anfang der siebziger Jahre verdeutlicht diese Zusammenhänge:

In den USA ist die Arbeitsproduktivität kaum mehr gestiegen, bei gedämpftem Wirtschaftswachstum wurde ein steigender Teil der „labor force" in solchen Bereichen beschäftigt, in denen die Kapitalausstattung, die Qualifikationsanforderungen und die Entlohnung der Arbeitskräfte unter dem gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt liegen. In Deutschland sind hingegen Arbeitsproduktivität und Reallöhne in den letzten 25 Jahren weiter gestiegen. Die steigende Effizienz der deutschen Wirtschaft ließ aber bei schwachem Wachstum die Arbeitslosigkeit stark zunehmen. Dies dämpfte den Anstieg der Reallöhne und die Lohnquote ging zurück.

Nach systemischer Sicht hat die Organisation des Bildungswesens einen erheblichen Einfluß auf die Entwicklung von Arbeitsproduktivität, Reallohn(ansprüchlichkeit), Arbeitslosigkeit und Einkommensverteilung: Das überwiegend privatwirtschaftlich organisierte Bildungssystem der USA „produziert" auf allen Stufen Absolventen mit einer relativ großen Streuung ihrer Ausbildungsqualität; dem entspricht ein hohes Angebot an Jobs, welche keine spezifischen Qualifikationen erfordern. Das deutsche Bildungssystem ist in hohem Maß darauf ausgerichtet, auf allen Stufen bzw. Ausbildungszweigen einheitliche Qualitätsstandards sicherzustellen, der Anteil von "low-skill jobs" ist deshalb in Deutschland wesentlich kleiner als in den USA.

Page Top

Arbeitslosigkeit oder Armut

In systemischer Sicht kann das Anwachsen von Arbeitslosigkeit oder der Ungleichheit in der Einkommensverteilung durch ökonomische Variable allein nicht erklärt werden, sondern nur im Kontext der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung.

Die mit dem „Krisensyndrom" verbundenen Tendenzen zu sozialer Desintegration manifestieren sich in (Kontinental)Europa in erster Linie in der steigenden Arbeitslosigkeit; die Folgeprobleme wie wachsende Einkommensungleichheit, Armut, soziale Ausgrenzung und steigende Kriminalität konnten hingegen durch die Systeme der sozialen Sicherheit in Grenzen gehalten werden. In den USA zwang das schwache Wachstum „guter" Arbeitsplätze angesichts eines wenig ausgebauten Sozialstaats immer mehr Menschen, schlecht bezahlte Jobs anzunehmen.

Die mit dem „Krisensyndrom" verbundene Ineffizienz der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung manifestierte sich somit in den USA in Begleiterscheinungen wie der steigenden Einkommensungleichheit, der wachsenden Armut, insbesondere in den Randschichten der Gesellschaft, und der Kriminalität (Abbildung 5):

  • Der Anteil von Kindern in Haushalten mit einem Pro-Kopf-Einkommen unter der Armutsgrenze ist seit 1973 von 14% auf 22% gestiegen.
  • Während 1969 10% der weißen und 20% der schwarzen männlichen High-School-Absolventen weniger verdienten als nötig, um eine vierköpfige Familie über der Armutsgrenze zu erhalten, waren es 1991 50% bzw. knapp 30%. Die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit sowie von Mehrfachjobs dürfte deshalb auch eine Folge der sinkenden Reallöhne sein.
  • Der „Index of Social Health", welcher die soziale Effizienz einer Gesellschaft als Gesamtsystem abschätzt, verschlechterte sich für die USA seit 1970 deutlich.
  • Zwischen 1973 und 1995 hat sich die Zahl der Strafgefangenen verfünffacht, sie stieg von 0,33 auf 1,66 Millionen Menschen, 1995 saßen etwa 2% der männlichen Erwerbsbevölkerung der USA im Gefängnis, der Anteil der Schwarzen war etwa achtmal so hoch wie der Weißen (6,9% gegenüber 0,9%).







© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

Previous Page TOC Next Page