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Unterschiedliche Wachstumspfade

Aus der Gesamthöhe der Realkapitalbildung und der Kapitalausstattung je Arbeitsplatz ergeben sich drei unterschiedliche Wachstumspfade.

Lenken die Rahmenbedingungen das Gewinnstreben systematisch auf die Gütermärkte, entwickeln sich Realkapitalbildung und Wirtschaftswachstum so dynamisch, daß sowohl die Beschäftigung als auch die Arbeitsproduktivität und damit die Realeinkommen kräftig wachsen. Ist Vollbeschäftigung erreicht, so kann das Wirtschaftswachstum nur mehr durch eine Erhöhung und damit Verbesserung der Kapitalausstattung je Arbeitsplatz realisiert werden, die Ziele hoher Beschäftigung und steigender Effizienz ergänzen einander.

Verschlechtern sich die Rahmenbedingungen für die Realakkumulation nachhaltig, wird insbesondere kurzfristig-spekulative Veranlagung auf den Finanzmärkten relativ profitabler, so dämpft dies das Wirtschaftswachstum und läßt so einen Konflikt zwischen den Zielen steigender Beschäftigung und steigender Effizienz entstehen:

  • Auf dem beschäftigungsintensiven Wachstumspfad wird das Effizienzpotential einer Volkswirtschaft nicht ausgeschöpft: zwar wächst die Beschäftigung, die Kapitalausstattung je Arbeitsplatz und die Arbeitsproduktivität nehmen jedoch kaum mehr zu (wie in den USA seit Anfang der siebziger Jahre).
  • Auf dem kapitalintensiven Wachstumspfad steigen hingegen Arbeitsproduktivität und Reallöhne stetig an, aber das Beschäftigungspotential wird nicht ausgeschöpft: die Arbeitslosigkeit steigt (wie in Deutschland seit Anfang der siebziger Jahre).

Welcher von den drei Wachstumspfaden realisiert wird, hängt von den angeführten Bestimmungsfaktoren für das Tempo der Realkapitalbildung und der Kapitalintensität ab. Im Hinblick auf die makroökonomischen Rahmenbedingungen lassen sich das „Prosperitätssyndrom" und das „Krisensyndrom" unterscheiden, im Hinblick auf das Verhältnis von Markt zu Staat kann man zwischen dem „Laissez-faire-Modell" und dem „Wohlfahrtsstaat-Modell" differenzieren.

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„Prosperitätssyndrom" und „Krisensyndrom"

Das generelle Unterscheidungskriterium zwischen dem „Properitätssyndrom", das die Nachkriegsentwicklung bis Anfang der siebziger Jahre prägte, und dem seither wirksamen „Krisensyndrom" besteht in der relativen Attraktivität von Aktivitäten auf Gütermärkten im Vergleich zu solchen auf Finanzmärkten.

Das „Prosperitätssyndrom" bildet ein „Anreizsystem", das das Gewinnstreben auf langfristig orientierte Investitionen und Innovationen auf Gütermärkten lenkt, also auf güterwirtschaftliche Spekulationen (durch feste Wechselkurse, niedrige Zinssätze, stabile Rohstoffpreise, mäßig steigende Aktienkurse, eine aktive Konjunktur-, Wachstums- und Beschäftigungspolitik, kooperative Gestaltung der „labor relations", sinkende Einkommensungleichheit und damit auch Nachfragestimulierung).

Das „Krisensyndrom" ist hingegen ein „Anreizsystem", welches das Gewinnstreben in stärkerem Maß auf kurzfristig orientierte Investitionen und Innovationen auf Finanzmärkten lenkt, also auf finanzwirtschaftliche Spekulationen (durch schwankende Zinssätze, Wechselkurse, Rohstoffpreise, hohe, nämlich über der Wachstumsrate liegende Zinssätze, neue Spekulationstechniken, insbesondere durch Kombination von Futures und Optionen, Deregulierung und Rückzug des Staates von einer aktiven Wirtschaftspolitik).

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„Laissez-faire-Modell" und „Wohlfahrtsstaat-Modell"

Im „Laissez-faire-Modell" beschränkt sich der Staat im wesentlichen auf die Setzung der „Spielregeln" und die Kontrolle ihrer Einhaltung: Was, wie und für wen produziert wird, entscheiden ausschließlich die Marktprozesse.

Im „Wohlfahrtsstaat-Modell" greift der Staat in diese Prozesse ein mit dem Ziel, die Ungleichheit in der Vorbereitung auf das Erwerbsleben (Bildungssystem), im Erwerbsleben (Arbeitnehmerschutz) und bei Ausscheiden aus dem Erwerbsleben (Krankheits-, Unfall-, Arbeitslosen- und Pensionsversicherung) auszugleichen.

Da sich in der Gestaltung des Bildungswesens, der Arbeitsverhältnisse und der sozialen Sicherheit lange Traditionen unterschiedlicher gesellschaftspolitischer „Kulturen" verfestigen, differieren diese Rahmenbedingungen zwischen Ländern stärker als in der Zeit.

Von den großen Volkswirtschaften ist das „Laissez-faire-Modell" am ehesten in den USA verwirklicht:

  • Die Bildungseinrichtungen sind überwiegend privatwirtschaftlich organisiert.
  • Die Arbeitsbeziehungen werden nicht vom Staat geregelt: es gibt keine gesetzliche Schranke für eine Praxis von „hire and fire".
  • Der Einfluß der Gewerkschaften ist gering, eine solidarische Lohnpolitik daher kaum ausgeprägt.
  • Eine sozialstaatliche Absicherung gegen Einkommensverluste als Folge von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall oder des Pensionsantritts gibt es kaum.

Das für die meisten Länder Kontinentaleuropas charakteristische „Wohlfahrtsstaat-Modell" wird durch folgende Merkmalskombination geprägt:

  • ein überwiegend vom Staat organisiertes Bildungssystem, das auf eine einheitliche Qualifikation der Absolventen der jeweiligen Ausbildungsstufe abzielt.
  • ein auf mehrfache Weise ausgebauter Arbeitnehmerschutz.
  • eine relativ zu den USA starke Machtposition der Gewerkschaften.
  • ein umfassendes System der sozialen Sicherheit.

Entsprechend der nach Perioden und nach Ländern unterschiedlichen Rahmenbedingungen lassen sich vier Entwicklungskombinationen unterscheiden.

Kontinentaleuropa bis Anfang der 70er: Prosperitätssyndrom & Wohlfahrtsstaat-Modell: Bei stabilen monetären Rahmenbedingungen, einer aktiven Konjunktur-, Wachstums- und Sozialpolitik, und einer korporatistischen Gestaltung der Arbeitsbeziehungen konzentrierte sich das Gewinnstreben der Unternehmer auf die Investition, die Innovation und die Produktion auf Gütermärkten. Diese komplementären Bedingungen ermöglichte in Ländern wie Deutschland ein historisch einmalig hohes Wirtschaftswachstum. Bereits Anfang der sechziger Jahre wurde Vollbeschäftigung erreicht; unter dieser Bedingung konnte der Wachstumspfad nur dadurch fortgesetzt werden, daß die Arbeitskräfte mit mehr und effizienterem Kapital ausgestattet und entsprechend weitergebildet wurden: Hohe Beschäftigung und starke Steigerungen der Arbeitsproduktivität standen in keinem Gegensatz zueinander, sondern ergänzten sich.

USA bis Anfang der 70er: Prosperitätssyndrom & Laissez-faire-Modell: Zwar förderten die makroökonomischen Rahmenbedingungen das Wachstum von Realkapital und Produktion, doch wurde ihr Expansionstempo durch die übrigen Rahmenbedingungen beschränkt. Insbesondere das hohe Bevölkerungswachstum und der große Anteil an relativ schlecht qualifizierten Arbeitskräften übten einen Druck zur Schaffung von Arbeitsplätzen in Sektoren mit einer unterdurchschnittlichen Kapitalausstattung aus. Dementsprechend blieb das Wachstum der Arbeitsproduktivität in höherem Maß hinter jenem von Deutschland zurück als das Wirtschaftswachstum insgesamt.

USA seit den 70ern: Krisensyndrom & Laissez-faire-Modell: Bei einer makroökonomisch verursachten Wachstumsabschwächung erweist sich das „Steuerungssystem" als sehr „elastisch" in der Absorption eines steigenden Arbeitsangebots, insbesondere durch Schaffung von Niedriglohnjobs; denn bei erhöhter Unsicherheit im Hinblick auf Zinssätze, Wechselkurse und Rohstoffpreise, und damit einer gedämpften Bereitschaft der Unternehmer, sich in/an Realkapital zu binden, kann eine merkliche Ausweitung der Beschäftigung nur durch Schaffung von Jobs ermöglicht werden, die mit wenig Kapital ausgestattet sind, also geringe Kapitalkosten erfordern. Aus diesen Gründen fiel das Wachstum der Arbeitsproduktivität in den USA noch deutlicher hinter jenes von Deutschland zurück als in der Prosperitätsphase. In dem Konflikt zwischen effizientem und beschäftigungsintensivem Wachstum wurde mit der Ausweitung von "Niedriglohnjobs" die zweite Variante realisiert.

Kontinentaleuropa seit den 70ern: Krisensyndrom & Wohlfahrtsstaatmodell: Der Entwicklungspfad der kontinentaleuropäischen Länder seit Anfang der siebziger Jahre führte zu zunehmender Inkohärenz in ökonomischer, sozialer und politischer Hinsicht. Der Erfolg des "europäischen Weges" in der Prosperitätsphase trug dazu bei, daß die Kapitalausstattung je Arbeitsplatz und die Effizienz der Arbeitskräfte weiterhin in höherem Maß gesteigert wurde als in den USA; die Arbeitsproduktivität nahm stetig zu und ermöglichte steigende Realeinkommen.

Da allerdings das Wachstum von Realkapital und Gesamtproduktion halbiert worden war, nahm die Zahl der Arbeitsplätze langsamer zu als das Arbeitsangebot, die Arbeitslosigkeit stieg markant an: Im Konflikt zwischen effizientem und beschäftigungsintensivem Wachstum wurde in Europa daher die erste Variante realisiert.

Der Widerspruch zwischen einer neoliberalen Gestaltung der makroökonomischen und der wohlfahrtsstaatlichen Organisation der mesoökonomischen Rahmenbedingungen trug in hohem Maß zur steigenden Staatsverschuldung und damit dazu bei, daß der Sozialstaat immer schwerer finanziert werden konnte; denn die im Vergleich zu den USA hohen Sozialstandards können nur dann aufrecht erhalten werden, wenn Arbeitslosigkeit ein konjunkturelles Phänomen bleibt.

Die Inkohärenz der Kombination „Krisensyndrom & Wohlfahrtsstaatmodell" ließ nicht nur Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stark steigen, sondern (damit) auch die Ungleichheit in der Verteilung der Einkommen und allgemein der „Entfaltungschancen" zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen, zwischen Männern und Frauen und zwischen „Jungen" und „Alten". Dadurch gerät die ökonomische und soziale Entwicklung in Europa immer stärker in einen Widerspruch zu den tradierten Wertvorstellungen, Lebensgewohnheiten und Erwartungen eines großen Teils der Bevölkerung.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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