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Der fragwürdige Kausalzusammenhang zwischen Reallohn- und Beschäftigungsentwicklung

Bei annähernd gleichem Wachstumstempo haben sich Beschäftigung, Arbeitsproduktivität und Reallöhne in den letzten 25 Jahren zwischen den USA einerseits und Deutschland andererseits signifikant unterschiedlich entwickelt: In den USA ist die Arbeitslosigkeit etwa konstant geblieben, gleichzeitig haben Arbeitsproduktivität und Reallöhne nahezu stagniert, in Deutschland ist umgekehrt die Arbeitslosigkeit stark gestiegen, bei gleichzeitig deutlicher Zunahme des Produktivitäts- und Reallohnniveaus.

Zum „Regimewechsel" von anhaltender Vollbeschäftigung zu steigender Arbeitslosigkeit werden zwei Erklärungsansätze angeboten: Die neoliberale Hypothese geht davon aus, daß über Beschäftigung am Arbeitsmarkt entschieden wird, die „systemische" Hypothese nimmt hingegen an, daß die Beschäftigungsentwicklung von der gesamtgesellschaftlichen (In)Kohärenz abhängt und damit von der Interaktion verschiedener ökonomischer, sozialer und politischer Variabler.

Nach der neoliberalen Hypothese bestimmen Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt die Höhe der Reallöhne und damit das Beschäftigungsniveau. Steigt die Arbeitslosigkeit als Folge von „Schocks" wie etwa den beiden Ölpreissteigerungen an, so können die Beschäftigungsverluste nur durch eine Reallohnzurückhaltung wettgemacht werden; dies erfordert eine hohe Lohnflexibilität, welche durch Arbeitslosenunterstützungen und sonstige „Rigiditäten" wie Kündigungsschutz, Mindestlöhne und die Macht der Gewerkschaften eingeschränkt wird. Zusätzlich zum Niveau der Reallöhne muß auch ihre Verteilung flexibel sein: Wenn sich infolge der technologischen Entwicklung und der Globalisierung die Arbeitsnachfrage zu Lasten der schlechter Qualifizierten verschiebt; müssen deren Löhne sinken. Andernfalls bleiben viele von ihnen ohne Arbeit.

Als Bestätigung dieser Hypothese wird die unterschiedliche Entwicklung in den USA und Europa angeführt. Weil es in den USA keinen Arbeitnehmerschutz gibt, die Arbeitslosengelder und Mindestlöhne niedrig und der Einfluß der Gewerkschaften gering sind, hätten sich Niveau und Streuung der Reallöhne den Strukturverschiebungen angepaßt: Zwar stagnieren die Reallöhne in den USA seit 25 Jahren, während gleichzeitig ihre Verteilung immer ungleicher wurde (etwa 80% der Arbeitnehmer mußten Lohneinbußen in Kauf nehmen), dafür ist aber die Beschäftigung um mehr als 50% angestiegen. In der „rigiden" EU hingegen nahmen die Reallöhne um mehr als 50% zu, die Beschäftigung wuchs deshalb nur geringfügig.

Eine Reihe von Beobachtungen läßt die empirische Relevanz dieses Kausalzusammenhangs fragwürdig erscheinen:

Reallöhne und Arbeitsproduktivität: Der Beitrag des Faktors Arbeit zu den Produktionskosten ergibt sich nicht aus der Entwicklung der Reallöhne allein, sondern nur in Relation zur Arbeitsproduktivität. Während sich in den USA Reallöhne und Arbeitsproduktivität in den letzten 25 Jahren parallel entwickelten (nämlich stagnierten), wuchs in Deutschland die Produktivität des Faktors Arbeit (noch) rascher als seine Entlohnung (Abbildung 1):





Lohnquote: Dementsprechend blieb die Lohnquote in den USA annähernd konstant, in Deutschland ist sie hingegen seit fast 20 Jahren gesunken - gleichzeitig nahm die Arbeitslosigkeit in Deutschland zu, in den USA hingegen ab. In der Vollbeschäftigungsphase war die Lohnquote umgekehrt in Deutschland (und generell in Europa) deutlich gestiegen (Abbildung 2).





Rigidität und Flexibilität: Das im Vergleich zu den USA viel höhere Wachstum der Arbeitsproduktivität in Europa widerspricht der neoliberalen Hypothese: Wäre die „Rigidität" der europäischen Arbeitsmärkte von großer Bedeutung, so müßte sich dies auch in einer weniger effizienten Allokation der Arbeitskräfte und damit in schwächerem Produktivitätswachstum äußern.

Die Streuung der Arbeitslosenquote nach Regionen, Alter, Geschlecht und Qualifikationsniveau ist in den „flexiblen" USA höher als im „rigiden" Deutschland, in Italien oder Frankreich. Wären Lohnzurückhaltung und Lohnflexibilität die Hauptursachen für des Beschäftigungswachstum in den USA, so müßte genau das Gegenteil zu beobachten sein.Besonders markant zeigt sich dieser Widerspruch an der Entwicklung von Arbeitslosenquote und Lohnniveau nach Qualifikationsstufen: Obwohl die Lohnunterschiede in den USA bei weitem am stärksten zugenommen haben, stieg die relative Arbeitslosenquote bei den gering Qualifizierten in den USA an und ist wesentlich höher als etwa in Deutschland.

Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitskräften: Die von der neoliberalen Hypothese angenommene Verschiebung der Nachfrage zuungunsten von gering qualifizierten Arbeitskräften wird durch die Daten nicht bestätigt: Seit Mitte der achtziger Jahre ist nämlich die Arbeitslosigkeit der besser Qualifizierten stärker gestiegen als jene der gering Qualifizierten. Auch durch detallierte Analysen wie jene der OECD im Rahmen der „Jobs Study" läßt sich ein (positiver) Zusammenhang zwischen der Höhe der Arbeitslosenunterstützung und der Arbeitslosigkeit nicht belegen.

Fluktuationsrate: Je größer der Einfluß von „Rigiditäten", desto geringer müßte die Fluktuationsrate am Arbeitsmarkt sein. Tatsächlich ist die Häufigkeit von Jobwechsel in vielen europäischen Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit wie Frankreich, Italien, Dänemark oder Schweden größer als in den USA.

Das Fundament der neoliberalen Erklärung der Arbeitsnachfrage bildet eine (neoklassische) Produktionsfunktion, in welcher der Einsatz von Kapital und Arbeit substituierbar ist, und zwar in Abhängigkeit von den relativen Faktorpreisen: Wird Arbeit im Vergleich zu Kapital billiger, so wird arbeitsintensiver produziert, im umgekehrten Fall kapitalintensiver. Angesichts der skizzierten Widersprüche zwischen den Aussagen der neoliberalen Hypothese und der empirischen Evidenz ist ein vergleichender Blick auf die tatsächliche Entwicklung von Faktoreinsatz, Faktorpreisen und Produktion in den USA, Deutschland und Japan seit 1960 angebracht. Dabei ergeben sich folgende, zum Teil überraschende, Fakten:

  • Die Arbeitsproduktivität wächst in der Industrie sowie in der Gesamtwirtschaft annähernd im gleichen Schritt mit der Kapitalausstattung je Arbeitsplatz (Kapitalintensität), im Bereich der traditionellen Dienstleistungen langsamer, im Verkehrs- und Kommunikationswesen rascher.
  • Die Kapitalintensität wächst in jedem Jahr, und zwar unabhängig von den Faktorpreisen. So dämpfte die enorme Verteuerung von Kapital relativ zur Arbeit als Folge der Hochzinspolitik Ende der siebziger Jahre (in Deutschland nochmals Anfang der neunziger Jahre) den Einsatz von Kapital relativ zur Arbeit nicht (Abbildung 3).
  • Wie Abbildung 3 zeigt, besteht kein Zusammenhang zwischen den Schwankungen in der Relation von Arbeits- und Kapitalkosten einerseits und der stetigen Zunahme der Kapitalausstattung der Arbeitsplätze andererseits. Vielmehr „materialisiert" sich in letzterer der irreversible technische Fortschritt.






  • Die starken Schwankungen der Relation von Arbeits- und Kapitalkosten sind eine Folge der Volatilität der Kapitalkosten. Dagegen entwickeln sich die Stundenlöhne stabil, da sie sich an der Arbeitsproduktivität orientieren. Die Instabilität der Kapitalkosten ist selbst auf die Zinsschwankungen zurückzuführen und damit indirekt auf die Geldpolitik.
  • In allen drei Ländern ist die Wachstumsrate von Kapitaleinsatz und Produktion nach 1973 auf weniger als die Hälfte gesunken. Gleichzeitig wurde das Produktionspotential sowohl von Arbeit als auch von Kapital in viel geringerem Ausmaß genützt als vorher: Die Arbeitslosigkeit nahm zu, die Kapazitätsauslastung des Kapitals ging zurück.

Die Koinzidenz von Wachstumsverlangsamung, geringerer Faktorauslastung und beschleunigtem technischen Fortschschritt als Folge der Mikroelektronik läßt es zweifelhaft erscheinen, daß die langfristige Wirtschaftsentwicklung nur durch Angebotsfaktoren bestimmt wird.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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