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Die wirtschaftspolitischen Reformen seit 1991

Nach der Unabhängigkeit im Jahre 1947 verfolgte Indien zunächst eine liberale, Auslandsinvestitionen gegenüber flexible und pragmatische Politik. Mit Beginn der 50er Jahre wurde dann staatlichen Unternehmen bei der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes eine zunehmend größere Rolle zugesprochen. Dem schloß sich in den 60er Jahren eine engere Zusammenarbeit mit der ehemaligen Sowjetunion an. Ein immer umgfangreicheres Lizenzsystem wirkte sich in Verbindung mit Investitions- und Devisenkontrollen prohibitiv auf den Zustrom von Auslandskapital aus. Mit der stärkeren Regulierung und Binnenorientierung der Wirtschaft entstand eine technologische Lücke in der indischen Industrie. Zusätzlich aufgrund hoher Zollbarrieren wurden die indischen Unternehmen international immer weniger wettbewerbsfähig und arbeiteten schließlich auch national mit Verlusten. Seit den 60er Jahren war die indische Industriepolitik wesentlich von folgenden Prinzipien geprägt:

  • Der aus der indischen Unabhängigkeitsbewegung entsprungene Grundsatz der Self-reliance, also der Versuch, eine hohes Maß an wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu erreichen, begünstigte wirtschaftlich immer weniger vertretbare Abkopplungs- bzw. Autarkiebestrebungen.
  • Der indische Staat setzte verbindliche Planvorgaben fest, was eine rasche Anpassung an veränderte makroökonomische Rahmenbedingungen verhinderte.
  • Der öffentliche Wirtschaftssektor nahm eine starke Stellung ein. Der Staat reservierte sich alle wesentlichen Basisindustrien und Dienstleistungssektoren.
  • Kleine Unternehmen (Cottage and Village Industries) erfuhren eine massive staatliche Förderung (u.a. durch umfangreiche Subventionierung). In einigen Wirtschaftssektoren wurde gleichzeitig eine moderne, großindustrielle Produktion unattraktiv gemacht.
  • Der Grundsatz der regionalen Ausgewogenheit industrieller Entwicklung führte in der Umsetzung durch Kapazitätsaufteilungen häufig zu mehreren ineffizienten Einheiten in unterschiedlichen Regionen.
  • Das rigide indische Monopolrecht verhinderte in fast jedem industriellen Bereich die Bildung ökonomisch optimaler Unternehmensgrößen.

Die gesamte industrielle Investition, von der Unternehmensgründung bis zur Produktions- bzw. Standortveränderung, wurde durch ein umfangreiches Regulierungssystem staatlich kontrolliert. Dabei ließen administrative Entscheidungsspielräume genug Platz für Unsicherheiten und insbesondere Korruption.

Eine erste strukturelle Veränderungen initiierende Liberalisierungsbewegung entstand bereits in den 80er Jahren unter Rajiv Gandhi. Sie brachte allerdings nur vorübergehend eine leichte Besserung des Investitionsklimas. Noch Ende der 80er Jahre wurden zwei Drittel der Ressourcen des Landes für die Aufrechterhaltung sowie Expansion des öffentlichen Sektors verwendet. Ein Großteil der heimischen Ersparnis wurde durch den verstaatlichten Finanzsektor in den Staatssektor umgeleitet. Durch einen der höchsten Außenzölle der Welt schützte die indische Regierung massiv die heimische Industrie vor internationalem Wettbewerb. Der private Sektor fungierte im wesentlichen als Zulieferer für staatliche Unternehmen bzw. den Staat selbst.

Infolge der Auswirkungen des zweiten Golfkrieges, durch die Kosten des militärischen Engagements in Sri Lanka sowie durch die Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion als wichtigstem Handelspartner schrumpften die indischen Devisenreserven Anfang 1991 derart zusammen, daß sie nur noch einen Einfuhrbedarf von etwa 2 Wochen deckten. Die externe Verschuldung betrug annähernd 70 Mrd. US$, die Inflation nahm zu, und die Budget- und Leistungsbilanzdefizite stiegen sprunghaft an. Die sich ergebende Zahlungsbilanzkrise setzte zu Beginn der 90er Jahre tiefgreifende vom Internationalen Währungsfonds (IWF) begleitete strukturelle Reformen in Gang, deren erste Erfolge sich nicht mehr rückgängig machen lassen und Indien zu einem international attraktiven Handels- und Kooperationspartner machen. Trotz der instabilen Regierung kann man davon ausgehen, daß die Grundrichtung der Reformen und damit die Integration Indiens in die Weltwirtschaft eine breite Mehrheit finden.

Die Reformen konzentrierten sich auf die folgenden vier miteinander verbundenen Bereiche:

Sanierung des Staatshaushaltes, insbesondere Rückführung des Haushaltsdefizits: Im Rahmen eines weitgehend vom IWF vorgegebenen Strukturanpassungsprogramms wurden vor allem Subventionen und Militärausgaben reduziert sowie auf der Einnahmenseite Steuern und Abgaben deutlich erhöht, um das Budgetdefizit von 7 Prozent in 1991 auf 4,8 Prozent in 1993 zu senken.

Liberalisierung der Industriepolitik: Das stark regulierte, binnenorientierte wirtschaftliche Regime Indiens vor Beginn der Reformen brachte eine Reihe struktureller Charakteristika des industriellen Wachstums hervor: Import substituierende Volkswirtschaften sind i.d.R. durch eine relativ geringe Spezialisierung gekennzeichnet. In Indien zeigte sich dieses Phänomen insbesondere auf der Ebene des einzelnen Unternehmens, bei dem die Produktpalette im allgemeinen relativ breit ist und die Produktion häufig nur eine suboptimale Größe erreicht. Der Schutz vor übermäßiger Konkurrenz in Verbindung mit dem umfangreichen Lizenzsystem führte dann dazu, daß viele Unternehmen in ihren begrenzten Produktbereichen annähernd eine Monopolstellung besaßen. Die Einsicht in diese Zusammenhänge führte u.a. zur Lockerung der Kontrollen über große Industrieunternehmen in den 80er Jahren. Nach Beginn des Liberalisierungsprozesses Anfang der 90er Jahre wurde das Fehlen von Spezialisierung zu einem entscheidenden Problem der indischen Industrie. In Unternehmen mit ungünstigen Kostenstrukturen kamen durch die zunehmende Konkurrenz finanzielle Schwierigkeiten hinzu.

Das insbesondere für ausländische Investoren interessante Kernstück des Reformpaketes bildet die mit einer außenwirtschaftlichen Öffnung verbundene Liberalisierung der verarbeitenden Industrie. Die Maßnahmen führen zur Abschaffung der umfangreichen staatlichen Auflagen und dienen im wesentlichen der Privatisierung der Wirtschaft. Das ehemalige Lizenzierungssystem wurde für die meisten Industriebereiche abgeschafft. Weiterhin lizenziert sind im wesentlichen Bereiche mit strategischem bzw. umweltrelevanten Belangen (z.B. Petroleum und Destillationsprodukte, Tabakwaren und Zucker). Die Regierung ist bemüht, die Zahl der lizenzpflichtigen Branchen weiter zu reduzieren. Seit Mitte der 50er Jahre waren 17 Industriebereiche dem Staat vorbehalten; inzwischen wurden sie auf weniger als die Hälfte mit vornehmlich sicherheitspolitischer und strategischer Natur reduziert (z.B. Waffen, Atomenergie, Kohle, Mineralöl, Eisenbahntransport). Die meisten Genehmigungspflichten für Neuinvestitionen und Änderungen der Produktionsprogramme wurden aufgehoben. Die strenge Monopolgesetzgebung wurde so geändert, daß sie sich nur noch auf effektiv monopolistische, restriktive oder unfaire Handelspraktiken bezieht.

War die Auslandsbeteiligung früher auf maximal 40 Prozent beschränkt, so ist in vielen Industriebereichen nunmehr eine ausländische Kapitalmehrheit genehmigungsfrei bis 51 Prozent, auf Antrag teilweise sogar bis 100 Prozent möglich. Das Verfahren bei den verbliebenen genehmigungspflichtigen ausländischen Direktinvestitionen wurde über die Einrichtung des Foreign Investment Promotion Board und seit kurzem auch eines Foreign Investment Promotion Councils vereinfacht.

Zahlreiche weitere Reformmaßnahmen haben zu erheblichen Investitionserleichterungen geführt: Z.B. werden Direktinvestitionen auch ohne einen damit verbundenen Kapitaltransfer zugelassen. Bis zu 24 Prozent kann sich ausländisches Kapital auch an Klein- und Mittelunternehmen beteiligen. Bei neuen Investitionen bzw. Produktionsverfahren verzichtet man jetzt auf die bislang übliche Local-content-Klausel, die einen zunehmend höheren inländischen Produktionsanteil verbindlich vorschrieb. Der Gewinntransfer wurde entbürokratisiert und einige diesbezügliche Beschränkungen aufgehoben. Zwar gelten für die Beschäftigung ausländischer Fachkräfte noch immer einige Restriktionen, doch ist sie nicht mehr genehmigungspflichtig. Ausländische institutionelle Investoren können zuvor verbotene Portfolioinvestitionen in Form des Kaufs oder Verkaufs von Anteilen an indischen Firmen tätigen. Auch auf dem lokalen Markt dürfen nun ausländische Handelsmarken benutzt werden. Mit Ausnahme der 23 Großstädte mit einer Bevölkerung von über einer Million wurden Standortgenehmigungen generell abgeschafft.

Die Privatisierung bzw. Teilprivatisierung von Staatsbetrieben ist noch nicht zufriedenstellend gelöst. Die 1991 angekündigten Maßnahmen wie die Aufgabe der Privilegierung öffentlicher Unternehmen, z.B. über Markteintrittsbarrieren oder Wettbewerbsbeschränkungen, die Restrukturierung potentiell rentabler bzw. die Liquidierung maroder staatlicher Unternehmen und die Einführung von mehr Autonomie und Ertragsorientierung wurden anscheinend nur halbherzig beschlossen und daher auch nicht zufriedenstellend umgesetzt. Hohe Desinvestitionen waren mit der Ausnahme relativ kleiner Aktienpakete, die zur Mobilisierung fiskalischer Ressourcen an das breite Publikum und Investmentfonds gingen, im allgemeinen nicht Teil der Strategie zur Reform öffentlicher Unternehmen.

Liberalisierung der Handels- und Währungspolitik: Hierzu dienten deutliche Zollsenkungen und die Abschaffung der Importlizenzen sowie der Exportsubventionen. Vor der Reform betrug der Maximalzoll 250 Prozent, anschließend nur noch 80 Prozent. Mittlerweile liegt der Spitzenzollsatz bei 40 Prozent und ist damit noch immer höher als in anderen asiatischen Staaten. Bis zum Jahr 2000 sollen die Zölle dem in der asiatischen Region üblichen Niveau angepaßt werden. Diese Maßnahmen tielen datauf ab, das Leistungsbilanzdefizit über Exportwachstum zu begrenzen. Dabei ergibt sich aber das Problem, daß die Außenhandelsliberalisierung zwar zu einem Anstieg der Importe führte, daß aber das Exportwachstum die Erwartungen nicht erfüllte.

Auch in der Währungspolitik gab es Erleichterungen. Nach einer Abwertung wurde zunächst die beschränkte, dann mit Inkrafttreten des Budgets 1993/94 eine weitgehende Konvertierbarkeit der indischen Rupie (Rs) zugelassen. Die völlig freie Konvertierbarkeit wird zum Jahr 2000 angestrebt.

Neustrukturierung des Finanzsektors: Die großen Banken wurden 1969 verstaatlicht. Die verbliebenen kleineren privaten Banken scheuten fortan das Wachstum aus Angst vor dem gleichen Schicksal. Versicherungsgesellschaften waren schon seit den 50er Jahren verstaatlicht, so daß staatliche Finanzintermediäre den Markt für Depositen, langfristige Schulden sowie Aktien dominierten. Die schlechte Kapitalstruktur, also ein hohes Verhältnis von Fremd- zu Eigenkapital, machte die Industrie empfindlich gegenüber Ertragsschwankungen. Relativ leicht gerieten die Unternehmen in Liquiditätskrisen und in die Zahlungsunfähigkeit. Bankrotten staatlichen Unternehmen wurde mit höheren öffentlichen Krediten geholfen. Bankrotten privaten Unternehmen verweigerte man i.d.R. die genehmigungspflichtige Auflösung, so daß diese in einem Interimszustand - weder Liquidation, noch Fortführung der Geschäfte - zum Teil jahrelang verharrten.

Mit der Verstaatlichung der Banken und Versicherungsgesellschaften wurden die Gehälter den staatlichen Leistungen angepaßt. Insbesondere senkte man die Bezüge der Führungskräfte, was den Weg für Korruption ebnete. Zudem wurde die Leitungsebene nunmehr weitgehend politisch besetzt. Bei gleichzeitiger Überbesetzung mit häufig unqualifiziertem Personal („over-staffing") führte dies zu einem insgesamt recht ineffizienten Bankwesen, verbunden mit einem Mangel an Engagement und zum Teil auch an Integrität. Hinzu kamen Zwangskredite an politisch unterstützte Gruppen (Kleinunternehmen, Landwirte, Handwerker) und Quersubventionen bei Zinssätzen, die die geringen Erträge der Finanzintermediäre weiter schmälerten. Auf dieser Grundlage sank, unterstützt durch politisch motivierte, breit angelegte Schuldenerlasse bei besonders geförderten Kreditnehmern, die Zahlungsmoral der Schuldner rapide und trug zu einer erheblichen Masse an notleidenden Krediten bei. Dies ging einher mit einer immer stärkeren Regulierung der Banken. Zu Beginn der 90er Jahre war das Bankensystem stark zentralisiert und von einem inkompetenten, systemisch ineffizienten Management gekennzeichnet. Mit den Reformen wollte die indische Regierung, das Bankensystem wieder lebensfähig machen. Die Liquidierung maroder Unternehmen wurde vorangetrieben , die weitere Kreditvergabe an bankrotte Unternehmen wurde unterbunden. Staatliche Banken erhielten zusätzliches Kapital, und die Anforderungen an die Liquiditätsreserven wurden verringert. Ferner wurde über staatliche Finanzhilfen, Kapitalerhöhungen und die Einrichtung von Sondergerichten versucht, die Abtragung notleidender Kredite in Höhe von etwa 5,3 Mrd. US$ zu erleichtern.

Weitere Maßnahmen waren die Erhöhung eines zuvor lange fixierten Diskontsatzes, die zu einer Anhebung des generellen Zinsniveaus führte. 1990 hatte die Zinsstruktur noch über 20 unterschiedliche, staatlich vorgeschriebene Sätze. Inzwischen wurden Zinssatzbeschränkungen weitgehend aufgehoben und das Zinssystem vereinfacht: Es gibt Höchstgrenzen für Spareinlagen und subventionierte Sätze für Klein- bzw. Exportkredite. Alle anderen Sätze werden nicht mehr kontrolliert. Der Kapitalmarktzugang wurde freigegeben. Zur Verstärkung des Wettbewerbs wurden neue Banken zugelassen und der Markteintritt bzw. die Expansion ausländischer Banken erleichtert. Die Baseler Normen zur Kapitaladäquanz sollten bis Ende 1996 umgesetzt werden, was etwa zwei Drittel der staatlichen Banken gelungen ist.

1992 hob die Regierung die Preiskontrollen auf, die in der Vergangenheit bei indischen Aktienemissionen regelmäßig zum Underpricing führten und führte eine Börsenregulierung ein. Die Börsenaufsicht obliegt dem Security and Exchange Board of India (SEBI). Emissionen wurden dadurch für die indischen Unternehmen attraktiver. In den zwei darauffolgenden Jahren verdoppelte sich die Zahl der Emissionen, und das aufgebrachte Kapital vervierfachte sich. In der Zeit nach 1991 nahmen die Unternehmen dann vermehrt Eigen- statt (staatliches) Fremdkapital auf. 1992 gestattete man indischen Unternehmen, ausländische Portfolioinvestitionen sowie Wertpapieremissionen am Luxemburgischen Markt zu tätigen. Renommierte ausländische Finanzinstitutionen wurden nach Registrierung bei der SEBI am indischen Kapitalmarkt zugelassen. Diese Öffnungen führten zu einem Anstieg der Aktienkurse und machten insbesondere den Bombay Stock Exchange (BSE) zu einem attraktiven Emerging Market.

Die bisherigen Erfolge haben zu einem breiten Konsens geführt, den Reformkurs - trotz der weiterhin schwachen Regierung - beizubehalten und auch neue Bereiche in Angriff zu nehmen, wenn auch in einem langsameren Tempo. Nachdem dieser Prozeß in den Jahren 1995 und 1996 fast zum Stillstand gekommen war, setzt der wegen seiner Wachstums- und Reformorientierung gelobte Haushalt 1997/98 neue Akzente: Die Reduzierung der Einkommensbesteuerung sowie die Herabsetzung der Unternehmensbesteuerung, der Abbau und die Verfahrensvereinfachung bei Importzöllen und Verbrauchssteuern, eine Erhöhung der Mittel für Infrastrukturvorhaben sowie ein begleitendes wirtschaftspolitisches Maßnahmenpaket zur Stimulierung des Geldmarktes und zur Stimulierung privater Investitionen in Infrastrukturprojekte stellen einen Schritt in die richtige Richtung dar. Ein starkes Signal geben auch die zahlreichen, genau spezifizierten Reformziele, darunter z.B. ein angestrebtes Wirtschaftswachstum von über 7 Prozent p.a., die Begrenzung des Budgetdefizits auf maximal 4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), hohe staatliche Investitionen in die Infrastruktur (bis 6 Prozent des BIP) sowie eine allgemeine Öffnung des Versicherungsmarktes.

Die Stimmung der indischen Wirtschaft war zu Beginn des Jahres 1997 dennoch eher schlecht, was im wesentlichen an der weiterhin instabilen politischen Situation, am verlangsamten Reformprozeß, dem verhaltenen Wachstum bei der Kreditvergabe, dem unzureichenden Zustand der Infrastruktur, der geringen Nachfrage und an den damit verbundenen schlechten industriellen Produktionszahlen lag.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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