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Annäherung an die Nachbarn und an transatlantische Strukturen

Als erste GUS-Republik nahm die Ukraine an dem NATO-Programm „Partnerschaft für den Frieden" teil und hat Ende Mai 1997 ein Partnerschaftsabkommen mit der NATO unterzeichnet. Eine Mitgliedschaft im westlichen Verteidigungsbündnis wird von der außenpolitischen Führung nicht angestrebt, obwohl die neue Verfassung den Eintritt des bisher neutralen Staates in Militärblöcke zuläßt. Das Interesse der Ukraine an ihrer staatlichen Konsolidierung korrespondiert mit einem mehr oder minder starken Interesse des Westens, auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion kein neues, undemokratisches und womöglich aggressives Imperium etabliert zu sehen.

Die Überlegungen zur Bildung eines sicherheitspolitischen Ostsee–Schwarzmeer-Paktes unter Einbeziehung der baltischen Staaten und Weißrußlands sind angesichts der unterschiedlichen Entwicklungen dieser Länder ad acta gelegt worden – die baltischen Staaten streben in die NATO, Weißrußland in eine Slawische Union mit Rußland und die Ukraine nach einem eigenständigen Weg. Dabei werden gut nachbarschaftliche Beziehungen zu allen Ländern gesucht. Besonders intensiv entwickelt sich das historisch belastete Verhältnis zu Polen. Mit Rumänien konnte ein Kompromiß über das weitere Vorgehen im Streit über die Seegrenze vor der Donaumündung erzielt werden, bei dem es vor allem um Öl- und Gasvorkommen geht. Die Beziehungen zum wichtigen Handelspartner Weißrußland sind selten Gegenstand der öffentlichen Debatte.

Seit Ende 1995 ist die Ukraine Mitglied des Europarats. Während die allgemeine Situation der Menschenrechte im Vergleich zu den anderen GUS-Republiken als gut angesehen wird, sorgte die Ukraine mit der 1996 erreichten Rekordzahl von 89 vollzogenen Todesurteilen für Irritationen, da die bisherigen Ratsmitglieder die Abschaffung der Todesstrafe in der Ukraine gemäß der Satzung des Europarates erwartet hatten.

Nach der Unterzeichnung eines Interimsabkommens mit der Europäischen Union ist die Ukraine einer der größten Empfänger im Rahmen des Tacis-Programms geworden, das vor allem auf verbesserte Marktbeziehungen abzielt. Beim Marktzugang in den „sensiblen" Bereichen Landwirtschaft und Stahl leiden ukrainische Unternehmen unter Zugangsbarrieren. Die von der EU zugestandene Stahlquote konnte jedoch nicht erfüllt werden, da sie zu 50% Spezialstähle betrifft, die die Ukraine nicht exportieren kann. Die nach der Unabhängigkeit vor allem von der EU und den USA eingeleiteten Dumpingverfahren gegen ukrainische Exporteure im schwerindustriellen Bereich hängen als Damoklessschwert über den heutigen Exportstrategien.

Von Deutschland erwartet man sich außer den direkten Wirtschaftsbeziehungen Hilfe beim Zugang zur europäischen Ebene. Die auf ein gutes Verhältnis zur Russischen Föderation konzentrierte deutsche Außenpolitik scheint aber – trotz zweier Kanzlerbesuche in Kiew – die in Moskau vorherrschende Herablassung gegenüber dem kleineren slawischen Nachbarn zu übernehmen und das langfristige bilaterale Verhältnis damit unnötig zu erschweren. Daß es anders geht, zeigten die USA und ihr Präsident Bill Clinton. Nach dem Abbau der Nuklearwaffen und der Einleitung von Wirtschaftsreformen entstand eine besonders enge Kooperation zwischen den beiden Staaten.

Dabei hatte die ukrainische Seite nicht nur sicherheitspolitische, sondern auch ökonomische Interessen, bei denen sie auf die politische Unterstützung der USA angewiesen war – sowohl bei der Gewährung westlicher Hilfsgelder als auch beim Zugang zu politisch regulierten oder sensiblen Segmenten des Weltmarkts. Dies betraf insbesondere den Rüstungssektor (Panzer-, Flugzeug- und Werftindustrie). Kutschma selbst verband aufgrund seiner Herkunft aus einem Raumfahrtunternehmen mit den Exportmöglichkeiten dieses Sektors große Hoffnungen. Im Zentrum dieser Überlegungen standen kommerzielle Satellitenstarts durch die Dnipropetrowsker Trägerraketen Ziklon (für Nutzlasten bis 4 Tonnen) und Senit (für Nutzlasten bis 12 Tonnen). Letztere wurde in ihrer Klasse sogar von westlichen Experten als beste verfügbare Trägerrakete eingestuft. Auch der Jushmasch-Transportsatellit Sitsch-1 stand kurz vor der Erprobung.

Ohne politische Flankierung war keines der ehrgeizigen Exportprojekte der Rüstungsindustrie zu realisieren. Auf der technischen Seite waren die ukrainischen Unternehmen von der Kooperation mit russischen Zulieferern abhängig, zu denen sie sich auf dem Weltmarkt in Konkurrenz befanden. Zudem war die Ukraine auf dem internationalen Parkett ein neuer Akteur und hatte einen erheblichen Rückstand gegenüber den Marktstrategien anderer Anbieter. Viele Auslandsreisen der ukrainischen Spitze dienten deshalb der Eröffnung des Marktzugangs. Der damalige Verteidigungsminister Walerij Schmarow fädelte einen im Juli 1996 unterzeichneten Vertrag mit Pakistan ein, in dessen Rahmen die Ukraine 320 Panzer der Baureihe T-80 im Gesamtwert von 550 Millionen US-Dollar liefern soll. Außenminister Hennadij Udowenko bereitete im März 1996 eine Zusammenarbeit zwischen dem ukrainischen Verteidigungsministerium und dem Inselstaat Indonesien vor, deren Schwerpunkt umfangreiche Wartungs- und Modernisierungsarbeiten für die Marine bildeten.

Im Jahr 1995 konnte die Ukraine Kooperationsabkommen mit Rußland, China und den USA sowie den lateinamerikanischen Staaten Argentinien, Brasilien und Chile abschließen, die auf den Raumfahrtbereich zielten. Der Aufstieg in den kleinen Club der Raumfahrtnationen gelang nur mit Unterstützung der USA, z.B. bei der Gewährung von Quoten für kommerzielle Satellitenstarts. Gegen den Widerstand der amerikanischen Konzerne McDonnell Douglas und Lockheed Martin wurden der Ukraine 16 bis 20 Starts bis zum Jahr 2001 zugestanden, die maximal zu 85% des Weltmarktpreises angeboten werden dürfen.

Drei Raketenstarts der Senit mit jeweils 12 Telekommunikationssatelliten wurden an das internationale Konsortium Global Star verkauft. Im September 1995 wurde der erste Jushmasch-Satellit Sitsch-1 vom russischen Kosmodrom Plessezk ins All geschossen. Auch am Projekt Sea Launch, das mit kommerziellen Satellitenstarts von einer Plattform im Pazifischen Ozean vor allem der europäischen Ariane Konkurrenz machen will, wurde Jushmasch zu 15% beteiligt. Das Unternehmen, an dem der US-amerikanische Konzern Boeing, die norwegische Kvaerner Rosenberg-Gruppe und der russische Konzern Energija beteiligt sind, konnte bereits 10 Aufträge der amerikanischen Hughes Aircraft einwerben.

Der nuklearfreie Status der Ukraine ist nach dem vollständigen Abbau der Atomsprengköpfe inzwischen Realität geworden. Der ursprüngliche Atomwaffenbefürworter Kutschma wirkte nach seiner Wahl auf die Werchowna Rada ein, den Atomwaffensperrvertrag zu ratifizieren und damit das im Januar 1994 geschlossene trilaterale Abkommen mit den USA und der Russischen Föderation über den Abbau der Nuklearwaffen zu bestätigen. Im Gegenzug erhielt die Ukraine völkerrechtlich verbindliche Sicherheitsgarantien der Nuklearmächte und US-Finanzhilfen zum Abbau der Sprengköpfe, die in der Russischen Föderation zu Brennstoff für die ukrainischen Kernkraftwerke verarbeitet wurden.

Die pragmatische Annäherung an die transatlantischen Strukturen entspricht einer realistischen Interessenanalyse der ukrainischen Führung. Weiterhin wird der Status der Blockfreiheit beibehalten. Mit ihren Hegemoniebestrebungen hat die russische Seite zwar bei allen politisch einflußreichen Gruppen der Ukraine – mit Ausnahme der Kommunisten – Abgrenzungsbestrebungen gefestigt, aber gleichzeitig hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß zur Zeit keine reale militärische Bedrohung der ukrainischen Unabhängigkeit besteht. Eine Konfrontation mit der Russischen Föderation soll angesichts der bestehenden ökonomischen Abhängigkeiten vermieden werden, so daß eine NATO-Mitgliedschaft als Option ausscheidet. Durch die gewählte Strategie, einen eigenständigen Weg zwischen den beiden Blöcken zu beschreiten, kann die Ukraine deshalb das Höchstmaß an außenpolitischen Freiräumen, wirtschaftlichen Zugeständnissen und realen Sicherheitsgarantien beider Seiten erreichen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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