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Weiterhin problematisch: das Verhältnis zu Rußland

Außenpolitisch steht die Ukraine vor der Notwendigkeit, ihr Verhältnis zur Russischen Föderation, zur Europäischen Union und zu den USA zu definieren. Die Determinanten der Beziehungen zu Rußland sind wirtschaftliche Abhängigkeiten, politische Abgrenzung gegen imperiales Streben und der Wunsch nach einem gutnachbarschaftlichen Verhältnis. Vom Westen verspricht man sich dagegen Sicherheitsgarantien und Hilfestellung in fast allen Bereichen der Transformation. Aufgrund der geographischen Lage der Ukraine ist ihre Außenpolitik von besonderer geopolitischer Bedeutung. Dies hat die politische Führung als politisches Kapital nutzen können.

Nach der Wahl Kutschmas wurden im In- und Ausland Befürchtungen laut, der neue Präsident würde eine Unterordnung unter hegemoniale Ansprüche der Russischen Föderation betreiben – eine Option, wie sie in Weißrußland immer stärker sichtbar wurde. Tatsächlich änderte sich an den von Krawtschuk gelegten Fundamenten der ukrainischen Außenpolitik aber nur wenig. In der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) blieb die Ukraine das Mitglied mit den stärksten Vorbehalten gegen russisches Hegemoniestreben. Zwar wurden viele wirtschaftliche Abkommen unterzeichnet und damit der Wille zur ökonomischen Integration unterstrichen, Verträge über eine stärkere politische oder militärische Integration lehnte die Ukraine jedoch ab. Dabei dürfte die bei offiziellen Verhandlungen und in der öffentlichen Berichterstattung erkennbare russische Sitte, die Ukraine wie einen „kleinen verlorengegangenen Bruder", aber nicht wie einen gleichberechtigten Partner zu behandeln, eine wesentliche Rolle gespielt haben.

Auch mit ihrer Krim-Politik führte die Russische Föderation Spannungen im Verhältnis zur Ukraine herbei. Selbst außenpolitische „Tauben" wie der ehemalige russische Außenminister Andrej Kosyrew bezweifelten die Legitimität der 1954 erfolgten Übertragung der Krim von Rußland an die Ukraine. Offiziell vertrat die russische Regierung eine Position, daß die Grenzen der Ukraine unverletzlich und die Auseinandersetzungen auf der Krim eine innere Angelegenheit des Nachbarlands seien, betrieb aber gleichzeitig verdeckte machtpolitische Spiele. Dies wurde im März 1995 deutlich, als die russische Botschaft in Kiew eine konsularische Gruppe nach Simferopol entsandte, die den dortigen Bürgern auf Wunsch sofort russische Pässe ausstellte. Da mit der Russischen Föderation kein Abkommen über eine doppelte Staatsbürgerschaft bestand, widersprach die Ausstellung russischer Pässe an ukrainische Staatsbürger der ukrainischen Gesetzgebung, und das Kiewer Außenministerium intervenierte in Moskau.

Schärfster Streitpunkt in den offiziellen ukrainisch-russischen Beziehungen blieb die Zukunft der Schwarzmeerflotte, nachdem die Präsidenten Leonid Krawtschuk und Boris Jelzin bereits im April 1994 eine politische Einigung über die Aufteilung der Flotte erzielt hatten (Massandra-Gipfel). Danach waren aber keine Fortschritte bei den konkreten Modalitäten zu ereichen. Nach der Wahl Kutschmas stiegen die Hoffnungen auf eine Regelung der Flottenfrage, und am 8. Juni 1995 unterzeichneten die beiden Staatspräsidenten Kutschma und Jelzin in Sotschi eine neue Vereinbarung. Wie bereits in Massandra verabredet, sollten beide Länder jeweils die Hälfte der Flotte erhalten und die Ukraine dann den Großteil an die Russische Föderation verkaufen. Der russischen Flotte wurde das Recht eingeräumt, Marineeinrichtungen in Sewastopol zu pachten. Der wichtigste Konfliktpunkt blieb: Während Kutschma auf der Mitbenutzung Sewastopols durch die ukrainische Flotte bestand, forderte die russische Administration die alleinige Nutzung der Hafenstadt. Die russische Duma beanspruchte wiederholt die staatliche Zugehörigkeit Sewastopols zur Russischen Föderation – letztmalig im November 1996.

Die Flottenfrage erwies sich auch als wesentlicher Hinderungsgrund, einen Freundschafts- und Nachbarschaftsvertrag zwischen beiden Ländern zu unterzeichnen. In der ukrainischen Verfassung vom 28. Juni 1996 wurden dann Regelungen, die über den Sotschi-Kompromiß hinausgingen, grundsätzlich ausgeschlossen und die Stationierung ausländischer Truppen auf ukrainischem Territorium nur für eine Übergangszeit erlaubt. Derweil setzte sich die von vielen Offizieren betriebene Praxis fort, alle wertvollen Objekte der Schwarzmeerflotte zu veräußern. Im August 1996 stellte der Kommandant der ukrainischen Marine, Vize-Admiral Wolodymyr Beskorowajnyj, einigermaßen fassungslos fest, daß sich die für die Ukraine bestimmten Schiffe nicht nur in einem schlechten technischen Zustand befänden, sondern teilweise regelrecht geplündert worden seien.

Der Durchbruch kam erst Ende Mai 1997 und steht im direkten Zusammenhang mit der bevorstehenden NATO-Osterweiterung. Da sich die Beziehungen zwischen der Ukraine und der NATO wesentlich verbessert haben (s.u.), ist das Interesse der Russischen Föderation an einer Entspannung der nachbarschaftlichen Beziehungen gewachsen. In der letzten Maiwoche konnte die Aufteilung der Schwarzmeerflotte und ihrer Einrichtungen einvernehmlich gelöst werden, indem die russische Flotte in Zukunft drei Buchten in Sewastopol nutzen darf, aber die Anwesenheit ukrainischer Marineeinheiten auf dem Restterritorium akzeptieren wird. Direkt nach dieser Vereinbarung und der Unterzeichnung des Abkommens zwischen NATO und Russischer Föderation in Paris setzten Jelzin und Kutschma in Kiew ihre Unterschriften unter den lange erwarteten Freundschaftsvertrag.

Die Entwicklung des ukrainisch-russischen Verhältnisses zeigt, daß Kutschma trotz der zunächst geäußerten Befürchtungen keinen Ausverkauf der Ukraine oder ihrer Souveränitätsrechte betrieb. In der Frage der Schwarzmeerflotte wurden keine grundsätzlichen Zugeständnisse gemacht, und der lange verhandelte Freunschaftsvertrag mit der Russischen Föderation kam nicht über das Stadium eines Entwurfs hinaus. Kutschmas Umgang mit der Krim unterschied sich nicht wesentlich von dem seines Vorgängers. Allerdings ließ sich beim zweiten ukrainischen Präsidenten ein gelassenerer Umgang mit russischen Querschlägen erkennen, der für ein größeres Selbstbewußtsein der nationalen Eliten stand. Als die russische Duma am 15. März 1996 einen Antrag der Kommunisten annahm und damit die Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 für nichtig erklärte, wurde dies von Kutschma nicht als eine elementare Bedrohung der ukrainischen Unabhängigkeit interpretiert und dementsprechend äußerst lapidar kommentiert mit den Worten: „Man kann die Geschichte nicht zurückspulen wie ein Tonbandgerät."


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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