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Strukturwandel als wirtschaftliches Kernproblem

Zwei Jahre nach Beginn der Reformen, Ende 1996, war in der Ukraine – wie auch in anderen Reformländern – noch kein sichtbarer Aufschwung zu verzeichnen. Positiv war lediglich, daß sich der unvermeidliche Einbruch der offiziell erfaßten Produktion offensichtlich verlangsamte. Die schattenwirtschaftlichen Aktivitäten nahmen auf geschätzte 50% des BIP zu. Damit wurden zwar Einkommen und Beschäftigung geschaffen, aber die staatliche Steuerbasis weiter untergraben. Der Staat versäumte es, durch eine Reform des alten Steuersystems mit seinen utopisch hohen Steuersätzen eine Rückkehr der Schattenwirtschaft in die offizielle Ökonomie zu fördern. Das Stabilitätsziel konnte deshalb nur erreicht werden, weil gleichzeitig die Zahlungsrückstände für staatliche Löhne und Sozialleistungen anstiegen – sie wurden mit bis zu 177 Billionen Karbowanez (ca. 1 Mrd. US-Dollar) angegeben.

Die Exporte konnten gerade mit westlichen Ländern gesteigert werden, das Defizit der Leistungsbilanz nahm aber – nicht zuletzt wegen der Energieimporte – trotzdem zu. Zwar standen nun vermehrt ausländische Kredite zu dessen Deckung zur Verfügung, damit stieg jedoch die Auslandsverschuldung der Ukraine. Durch höhere Importzölle und Qualitätskontrollen werden seit Ende 1996 die lokalen Produzenten von Nahrungs- und Genußmitteln stärker geschützt.

Die institutionelle Liberalisierung blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Die Kommerzialisierung und teilweise Privatisierung der alten staatlichen Monopole führte zur Entstehung verzerrter Märkte. Die Branchenministerien waren personell und geschäftlich weiterhin eng mit den Unternehmen, über die sie die planwirtschaftliche Aufsicht ausgeübt hatten, verflochten und schützten deren Geschäftsbereich durch ihre Regulierungsmöglichkeiten. Zudem entstand eine oligopolistische Aufteilung vieler Märkte auf oblast-Ebene. Die seit Juni 1996 amtierende Regierung unter Pawlo Lasarenko konzentrierte sich weniger auf den Fortschritt bei den Reformen (prominente Reformer haben die Regierung inzwischen verlassen), sondern verstärkt auf die Mehrung der Kontrollgewalt befreundeter Unternehmen über lukrative Wirtschaftsbereiche.

Die monopolistischen Strukturen erschwerten besonders neuen Unternehmen ohne entsprechende Verbindungen den Zugang zum Markt. Zudem mußte ein neues Gewerbe nicht nur registriert, sondern ausdrücklich genehmigt werden. Angesichts zweideutiger oder widersprüchlicher Rechtsvorschriften bestanden mitunter mehrere Behörden auf ihrer Zustimmungspflicht. Das Genehmigungsverfahren war nicht nur zeitraubend, sondern durch die oft notwendigen Schmiergeldzahlungen auch teuer.

Ähnliche Zugangsbehinderungen gab es zum Außenmarkt. Nach der Abschaffung von Quoten und Lizenzen waren die Außenhandelsgeschäfte weiterhin registrierungspflichtig. Zudem war ein staatliches System von Indikativpreisen für Exporte eingeführt worden, die von Exporteuren um maximal 10% unterschritten werden durften. Offiziell sollte das System zur Vermeidung von Dumping-Verfahren dienen, es wurde jedoch als Hort der Korruption und Mittel der Protektion alter Außenhandelsmonopole gebrandmarkt.

Während die „Kleine Privatisierung" mit ihren Hunderten von dezentralen Auktionen 1996 erfolgreich abgeschlossen wurde, verlief die „Große Privatisierung" insgesamt eher enttäuschend und mußte 1996 und 1997 fortgesetzt werden. An jedem dritten „privatisierten" Unternehmen war der Staat weiterhin mit mehr als 50% beteiligt. Auch im veränderten Verfahren der Massenprivatisierung blieben ausländische Investoren eher die Ausnahme.

Mit 800 Millionen US-Dollar erfaßter ausländischer Direktinvestitionen zwischen 1992 und 1996 bildete die Ukraine im postsowjetischen Raum fast das Schlußlicht. Der Hauptgrund für das geringe Interesse von Ausländern an Investitionen in der Ukraine waren bürokratische Prozeduren und das instabile Rechtssystem, bei dem sich Gesetze monatlich änderten, ihre Durchsetzung zufällig war und die mit einer Institution (z.B. einer Gebietsverwaltung) abgeschlossenen Verträge von anderen Institutionen (z.B. Branchenministerien) nicht anerkannt wurden. Trotz vieler öffentlich gewordener Korruptionsfälle wurde in keinem einzelnen Fall eine Verurteilung bekannt, und durch ihre aktive Teilnahme an dieser Praxis behinderten die investitionswilligen ausländischen Unternehmen einen Wandel in dieser Hinsicht. Die Weltbank hat inzwischen weitere Hilfe an die Einleitung eines Anti-Korruptions-Programms geknüpft.

Die ukrainische Justiz erwies sich als weitgehend unfähig oder unwillig, gegen korrupte Praktiken vorzugehen; bei der Verfassungsdebatte wurde offensichtlich, daß sie in hohem Maße politisch instrumentalisierbar war und Verfahren nach Gefälligkeit einleitete bzw. verschleppte. Auch die Gesetzgebung ist in wichtigen Bereichen des bürgerlichen Rechts noch nicht abgeschlossen.

Der mangelnde wirtschaftliche Strukturwandel bedrohte die bisherigen Erfolge in den übrigen wirtschaftspolitischen Feldern. Zum einen bot die Sektorstruktur weiterhin Anlaß zur Sorge: der ohnehin schon überdimensionierte schwerindustrielle Anteil am Bruttoinlandsprodukt war sogar noch gestiegen, vor allem in der Schwarzmetallurgie (Eisen- und Stahlindustrie). Der Anteil der Landwirtschaft betrug weiterhin hohe 18%, und der Dienstleistungsbereich war nach wie vor minimal. Allerdings war der schwerindustrielle Bereich, und hier insbesondere die Stahlindustrie, der exportstärkste Sektor der Ökonomie, so daß offensichtlich von einer positiven Inwertsetzung dieses Strukturerbes gesprochen werden konnte. Zudem war aufgrund des anhaltenden Wachstums der Schattenwirtschaft durchaus ein Strukturwandel zugunsten von Dienstleistungen zu vermuten. Entscheidend war somit die Frage, ob der gesamtwirtschaftlich nur unzureichend erfaßte Strukturwandel von einer Umstrukturierung auf der betrieblichen Ebene begleitet war. Wählte man Konkursverfahren als Indikator für einen tiefgreifenden Strukturwandel, so lautete die Antwort Nein: obwohl der formale Gesetzesrahmen bereits seit 1992 bestand, fanden keine offiziellen Betriebsschließungen statt.

Gleichzeitig untermauerte der ukrainische Staat seine Absicht auf politische Steuerung der Umstrukturierungsprozesse Dabei dominierten weiterhin planwirtschaftliche Ideen einer vertikalen Industriepolitik, deren Ziel die Erhaltung und Förderung der jeweiligen Branchen durch die Erstellung und Finanzierung von Investitionsplänen war. Auf Anforderung der Branchenministerien und Staatskomitees erstellte das aus der staatlichen Planbehörde Dershplan hervorgegangene Wirtschaftsministerium weiterhin Fünf- und Ein-Jahres-Pläne für die unterschiedlichen Branchen. In vielen Bereichen erwiesen sich diese Pläne als Simulation, da sie noch weniger als zu Sowjetzeiten mit der Kontrolle realer Prozesse zu tun hatten. Insbesondere die Branchenprogramme ließen eine vernünftige Konzeption und realistische Finanzierungsvorschläge für die immer wieder beschworene Modernisierung vermissen.

Das Reformergebnis war also zwiespältig: tatsächlich entstanden Marktstrukturen, die aber durch rent seeking weiterhin stark verzerrt waren, durch den Versuch, Einkommen aus politisch durchgesetzter Umverteilung zu gewinnen. Strukturell entscheidend war es, daß sich durch die Stabilisierung und Liberalisierung der Charakter des rent seeking änderte. So entfiel die Möglichkeit, durch negative Realzinsen, Preisunterschiede zwischen Administrativ- und Marktpreisen und den Zugang zu quantitativen Handelshemmnissen Arbitragegewinne und Monopolrenten zu erzielen. Dagegen gewannen Kämpfe um die oligopolistische Aufteilung von Märkten an Bedeutung, und die Klagen über Korruption wiesen darauf hin, daß staatliche Regulationen und Garantien als Quelle für Einkommen fortbestanden. Das Resultat war weniger als Planwirtschaft zu bezeichnen, sondern eher als ein Politischer Kapitalismus, in dem kurzfristige politische Einflußmöglichkeiten über langfristige politische Planungen dominierten. Die damit verbundenen Fehlallokationen und Reibungsverluste ließen auch für die Zukunft große Probleme beim Strukturwandel erwarten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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