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1994–1997: Konsolidierung

Die umfangreichen Wahlen des Jahres 1994 strukturierten die politische Landschaft der Ukraine grundlegend neu. Bei den ersten Parlamentswahlen nach der Unabhängigkeit konnten die drei rückwärtsgewandten Parteien einen beachtlichen Erfolg verbuchen: die nach dem Verbot der KPdSU gegründete Sozialistische Partei (SPU), die neugegründete Kommunistische Partei (KPU) und die Landpartei der Kolchosdirektoren (SelPU). Kräfte der Nationalbewegung und des politischen Zentrums schnitten schwach ab. Die Mehrheit der Abgeordneten gehörte aber überhaupt keiner Partei an und verfolgte als „Unabhängige" ihre eigenen Partikularinteressen – im parlamentarischen Geschehen wurden sie zum Zünglein an der Waage.

Bei den im Juli stattfindenden Präsidentenwahlen konnte sich Leonid Kutschma, ehemaliger Premierminister und Direktor der größten sowjetischen Raketenfabrik Jushmasch, gegen den Amtsinhaber Krawtschuk durchsetzen – abermals mit den Stimmen aus dem Ostteil des Landes. Gegen stärker werdende Widerstände aus den Reihen der Parlamentarier konnte sich der neue Präsident zunächst übergangsweise weitgehende politische Befugnisse sichern und die dringend benötigten Wirtschaftsreformen einleiten.

Nach einem zähen Machtkampf verabschiedete das Parlament dann am 28. Juni 1996 eine Verfassung, die ein weitgehendes System von checks and balances festschreibt. Die Regierung ist im wesentlichen dem Präsidenten untergeordnet, muß aber ihr Programm vom Parlament genehmigen lassen. Die in der Verfassungsberatung umstrittene Verteilung politischer Kompetenzen zwischen Zentralstaat und Regionen (oblasty) muß zu einem späteren Zeitpunkt per Gesetz geregelt werden, einer zweiten Parlamentskammer der Regionen wurde eine Absage erteilt – und damit auch den Föderalismusempfehlungen einiger westlicher Berater.

Die regionalen Eliten auf der Ebene der oblasty, die direkt nach der Unabhängigkeit in vielen Bereichen quasi autonom waren, vertraten in der Regel föderalistische Vorstellungen, weil damit die Hoheit über Privatisierungsverfahren und regionale Budgetmittel verbunden war. Nach den Bedrohungen der staatlichen Einheit durch den real existierenden Separatismus der Jahre 1993–1994 entwickelten sie aber ein verstärktes Interesse am ukrainischen Nationalstaat, da dieser das neue Eigentum nach innen und außen schützen sollte. So setzten sich bei den Regionalwahlen im Donbass hauptsächlich Vertreter der „Neuen Ökonomischen Eliten" gegen separatistische, prorussische und zumeist sowjetnostalgische Kräfte durch. Die Ausschaltung dieser Kräfte wurde mit dem Zugriff auf die lukrativen Privatisierungsobjekte und der politischen Verfügung über umfangreiche Steuer- oder Quasi-Steuermittel belohnt.

Besonders deutlich wurde die Dominanz ökonomischer Interessen über ethnische Identitäten auf der Krim. Der Anfang 1994 gewählte Krim-Präsident Meschkow hatte aus Moskau eine Regierung unter dem russischen Wirtschaftspolitiker Saburow angeworben, die den Ausbau der Halbinsel zu einem russischen off-shore-Bankenplatz betrieb und eine radikale Privatisierung vorbereitete. Nachdem Kiew die Kontrolle über die Krim im Sommer 1994 weitgehend verloren hatte, übertrug die ukrainische Zentralregierung die Hoheit über das Privatisierungsverfahren an die Krimbehörden und trug damit zu einer rasanten Spaltung der dortigen Eliten bei. Um russisches Kapital fernzuhalten, wurden Meschkow und seine Regierung gestürzt. Seitdem ist zwar die innere Ordnung durch die gewaltsamen Auseinandersetzungen um Geschäftssphären bedroht, aber der Austritt aus dem ukrainischen und womöglich der Eintritt in den russischen Staatsverband sind als reale Optionen nicht mehr gegeben.

Nach einer Phase der Konsolidierung des regionalpolitischen Zugriffs auf ökonomische Ressourcen wuchs das Interesse der Regionaleliten an der nationalstaatlichen Politik-ebene. Deutlich wurde dies nach der Berufung Pawlo Lasarenkos zum Premierminster im Juni 1996. Der – ebenso wie Präsident Kutschma – aus Dnipropetrowsk stammende und mit dem dortigen Kapital verbundene Politiker griff aktiv in die politischen Strukturen der Nachbar-oblast ein und durchbrach damit das politische Monopol der dortigen Eliten auf die Ressourcenverteilung im Donbass. Auch die politischen Gegenstrategien der Donezker Eliten verlagerten sich inzwischen auf die nationale Ebene – vor allem durch die Bildung der Parlamentsfraktion „Sozial-Marktwirtschaftliche Wahl" um die in Donezk beheimatete Liberale Partei (LPU) herum. Der Schutz des neuen Privateigentums wurde zum wichtigsten Motiv zur Stärkung des ukrainischen Nationalstaats gerade bei denen, die von einer nationalistischen Ideologie weit entfernt waren.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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