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1991–1994: Unabhängigkeit und Krise

Die ukrainische Staatsnation konstituierte sich als Folge eines historischen Kompromisses. Die parlamentarische Unabhängigkeitserklärung vom 24. August 1991 und die Bestätigung dieser Entscheidung in einem landesweiten Referendum am 1. Dezember desselben Jahres wurde von drei wichtigen strategischen Gruppen vorangebracht: der Nationalbewegung, den Bergarbeitern des ostukrainischen Donezk-Beckens (Donbass) und einem Teil der kommunistischen nomenklatura.

Bei der vor allem im Westteil des Landes und in der Hauptstadt Kiew starken Nationalbewegung herrschten Vorstellungen einer an Sprache und Kultur gebundenen ukrainischen Nation und deren Demokratisierung vor; wirtschaftliche Aspekte spielten nur eine untergeordnete Rolle. In der weitgehend russischsprachigen Ostukraine war dies genau umgekehrt: hier versprach man sich vom neuen ukrainischen Nationalstaat in erster Linie die Lösung der Strukturprobleme der Region und stand den kulturell-sprachlichen Ideen der Nationalbewegung in der Regel ablehnend gegenüber. Noch im März 1991 hatte die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung den Abschluß eines neuen Vertrags aller Sowjetrepubliken zur Fortsetzung der Union befürwortet.

Politisch konnte die Unabhängigkeit nach dem August-Putsch gegen den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow durchgesetzt werden, weil ein Teil der nomenklatura unter der Führung des Parlamentssprechers Leonid Krawtschuk vollständig auf den Unabhängigkeitskurs einschwenkte. Dieser konnte dann die erste Präsidentenwahl am 1. Dezember 1991, vor allem im bevölkerungsreichen Osten, für sich entscheiden.

Der nationale Konsens war also kurzfristig zustandegekommen und erwies sich als fragil, da sehr unterschiedliche Erwartungen an ihn geknüpft waren. Während die Anhänger der Nationalbewegung einen großen Teil ihrer Ziele allein durch die Tatsache der staatlichen Unabhängigkeit erfüllt sahen, erlebte die ostukrainische Bevölkerung eine doppelte Enttäuschung. Erstens dominierten kulturnational geprägte Ukrainisierungsvorstellungen den öffentlichen Diskurs. Zweitens fiel die Ukraine unter Krawtschuk in einen wirtschaftlichen Sturzflug ungeahnten Ausmaßes: da die notwendigen Reformmaßnahmen ausblieben, brach die Produktion ein, ohne daß der Strukturwandel vorankam.

Drei Faktoren waren für diese Entwicklung verantwortlich: erstens mußten viele Institutionen des Staats neu aufgebaut werden und waren dementsprechend schwach. Zweitens herrschten noch stark planwirtschaftliche Vorstellungen, die zu falschen strategischen Leitbildern einer weitgehend staatlich gelenkten Wirtschaft führten. Drittens setzten sich deshalb in der konkreten Wirtschaftspolitik zunehmend Strategien des rent seeking durch. Innerhalb kürzester Zeit führte die durch Lobbygruppen im Parlament und in der Regierung durchgesetzte unkontrollierte Gewährung von Krediten und Subventionen zur Hyperinflation, die vor allem die Sparguthaben der Bevölkerung vernichtete.

Als Folge dieser doppelten Enttäuschung sank im Osten nicht nur die Popularität des Präsidenten (die von einem entsprechenden Popularitätsgewinn im Westen begleitet wurde), sondern auch die der staatlichen Unabhängigkeit. Stattdessen blühten Sowjet-Nostalgie und separatistische Ideen. Im Donbass entstanden mehrere Bewegungen, die eine Wiedererrichtung der Sowjetunion oder den Beitritt der Region zu einer neuen Union befürworteten und mit der Sprachfrage beträchtliche Mobilisierungserfolge erreichen konnten.

Wesentlich konkretere Formen nahm der Separatismus auf der mehrheitlich von ethnischen Russen besiedelten Krim an. Hier war bereits im Januar 1991 (mit Zustimmung des ukrainischen Parlaments, der Werchowna Rada) der nach dem 2. Weltkrieg aberkannte Autonomiestatus wiederhergestellt worden, und einige politische Gruppen traten offensiv für die staatliche Unabhängigkeit oder den Anschluß an die Russische Föderation ein. Zudem kehrten nun die von Stalin am Ende des 2. Weltkriegs deportierten Krim-Tataren zurück und erhoben Anspruch auf das gesamte Territorium der Halbinsel. Damit gerieten sie in Konflikt zu den inzwischen etablierten Einwohnern. Die Lage eskalierte nach der Wahl des prorussischen Vorsitzenden der Republikanischen Partei der Krim, Jurij Meschkow, weil dieser eigene politische Strukturen und Machtapparate aufbaute.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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