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TEILDOKUMENT:




3. Zur politischen Lage

Nach den Präsidentschaftswahlen Ende 1995 und einem Jahr Wahlpause wird die polnische Politik des Jahres 1997 von den im Spätsommer zu erwartenden Parlamentswahlen bestimmt. Im Unterschied zu den Wahlen 1993 wird 1997 dem Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) ein etwa 30 Gruppierungen der zersplitterten „Rechten" vereinigendes Bündnis, die „Wahlaktion Solidarnosc" (AWS), unter Führung der Gewerkschaft NSZZ „Solidarnosc" gegenüberstehen.

Alle Umfragen zeigen eine Konsolidierung der AWS, die im November mit 15%-28% etwa gleichauf mit dem regierenden Linksbündnis SLD (16%-28%) lag. Diesen beiden folgen - unterschiedlich nach Umfragefirma - die regierende Bauernpartei (PSL) (8%-11%), die außerparlamentarische, rechtspopulistische Bewegung für den Wiederaufbau Polens (ROP) (5% bis 11%), die Union der Freiheit (5%-11%) und die aus der „Solidarnosc"-Bewegung stammende sozialdemokratische Union der Arbeit (4%-9%).

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Die Parteien ein Jahr vor den Wahlen

Wähleranalysen zeigen, daß im Unterschied zur Zeit vor den Wahlen 1993 und der Periode zwischen 1993 und Ende 1995 im Jahre 1996 nicht mehr das linke, sondern das rechte Wählerpotential gewachsen ist. Im November 1996 deklarierten sich etwa 30% der Befragten als „rechtsorientiert", 20% als links und 20% als unentschieden. Interessanterweise bezeichnen sich als „rechtsorientiert" nicht nur potentielle Wähler der Solidarnosc-Wahlaktion" (AWS) oder der Bewegung für den Wiederaufbau Polens (ROP), sondern auch der Freiheitsunion (UW) und gar der Arbeitsunion (UP), trotz ihrer zunehmenden Bemühungen, ihr linkes Profil zu schärfen.

Dies scheint eine Verfestigung der politischen Polarisierung des Präsidentschaftswahlkampfes von Ende 1995 zu belegen. Haltungen zu und Umgang mit der realsozialistischen Vergangenheit, Zweck und Art der Privatisierung und Ausmaß der sozialen Gleichheit bzw. deren Garantie durch den Staat sind die wesentlichsten Unterscheidungspunkte der Sympathisanten der relevanten Parteigruppierungen.

In allen anderen Fragen sind die Meinungsunterschiede erheblich geringer als Erklärungen führender Politiker erwarten lassen: Der größte Teil der Wählerschaft läßt Nostalgie für einen paternalistischen Wohlfahrtsstaat erkennen, reformorientierte Rhetorik scheint unpopulär zu sein. Allen politischen Parteien und ihren Führern wird eher das Verfolgen eigener Interessen als denen des Staates zugeschrieben. Alle Parteien (mit Ausnahme des SLD) gelten als ineffektiv. Dabei werden die meisten Parteiführer (mit Ausnahme der AWS) als hochqualifiziert, wenn auch ohne ethische Standards angesehen. Generell wird Politikern jedoch eine zu geringe Konzentration auf die Probleme des einfachen polnischen Bürgers vorgeworfen.

Übereinstimmung gibt es auch in der Akzeptanz der Bedeutung der Kirche für Polen ebenso wie in der Ablehnung ihrer Einmischung in politische Angelegenheiten. Letztere äußerten im Juni 93% der Wählerschaft des SLD, 79% von UW und PSL und sogar 68% der Anhänger der ROP, deren Führer sich recht kirchennah geben. Einen weitgehend ausgebauten Sozialstaat, die Notwendigkeit staatlicher Intervention im Agrarbereich, aber auch Offenheit gegenüber internationaler Kooperation werden von der gesamten Wählerschaft gewünscht.

Die relativ geringe Bedeutung von Tagespolitik und Wahlprogrammatik und der um so größere Stellenwert der Historie zeigen sich in der Einordnung der Parteien nach dem Links-Rechts-Schema: Lediglich die „postkommunistischen" SLD und PSL werden als links bezeichnet; Union der Arbeit gilt überraschenderweise ebenso vielen als links wie als Mitte, ein Drittel sehen sie sogar als rechte Partei. Eindeutig rechts werden die AWS und ROP eingeordnet. Die Union der Freiheit gilt bei einem Drittel der Befragten als rechte, bei einem Zehntel als linke und bei einem Fünftel als Mitte-Partei.

Die UW sieht sich als Partei der Mitte. Polnische Satiriker beschreiben sie als Klassenpartei, nämlich die der aussterbenden, bisher vom Staat alimentierten Klasse der traditionellen osteuropäischen Intelligenzija. Ein prominenter Politiker vom liberalen Flügel der UW bemerkte, ihre Führer hätten sich darauf spezialisiert, Ideen zu entwickeln und zu propagieren, die sie prinzipiell nicht realisieren könnten. Die kurze Geschichte der Partei sei durch Mangel an „leadership" und zwei strategische Irrtümer gekennzeichnet: Als die Umstände eine enge Zusammenarbeit von UW und „Solidarnosc" gefordert haben, habe UW sich verweigert. Als dann die Zeit gekommen sei, mit der SLD zu kooperieren, habe man wiederum die Zeichen nicht erkannt und sich aus eher ästhetischen, also für polnische Intellektuelle typischen Gründen geziert. Heute sei es für beide Optionen zu spät.

Von Seiten des SLD werden unterschiedliche Zeichen der Kooperation mit UW gesetzt. Während SdRP-Parteivorsitzender Józef Oleksy im November erklärte, die Zeit, in der das SLD die UW umworben habe, und damit die Chancen eines breiten vom SLD angestrebten Reformblocks mit UW seien vorbei, sprach Leszek Miller, seit kurzem „Überminister" für Inneres und Verwaltung und graue Eminenz der SdRP, von einer anzustrebenden Koalition mit UW und Union der Arbeit nach den Wahlen 1997. In der Tat suchte das SLD nach seinem Wahlsieg 1993, in verschiedensten Formen UW einzubinden. So bot sie ihr nach dem Wahlsieg Präsident Kwasniewskis erneut die Führung des Außenministeriums an und überließ ihr bis heute in der Person Bronislaw Geremeks den Vorsitz im Auswärtigen Ausschuß des Parlaments.

Im Munde von Vertretern der PSL, der ROP oder AWS klingt der die politische Orientierung der UW kennzeichnende Begriff „liberal" häufig wie ein Schimpfwort. Die Partei scheint „vereinsamt". Viele ihrer Politiker kommen aus der „Solidarnosc"-Bewegung, waren antikommunistische Aktivisten im Widerstand. Andererseits sind die Charakteristika der UW-Wählerschaft ähnlich denen eines Teils des Wählerpotentials des SLD: Wähler mittleren Alters, aus größeren Städten, viele mit Managerpositionen, Abitur- oder Universitätsabschluß.

SLD und UW haben für das gleiche Verfassungsprojekt plädiert, ihre Stellung gegenüber der Massenprivatisierung ist vergleichbar, UW stimmte ebenso wie SLD gegen das von „Solidarnosc" und Walesa betriebene Privatisierungsreferendum. Auch in der Außenpolitik stehen sich UW und SLD näher als die Parteien der derzeit regierenden Koalition. In ihren drei Flügeln, einem christdemokratischen, für die die Expremierminister Tadeusz Mazowiecki und Hanna Suchocka stehen, einem wirtschaftsliberalen unter Parteiführer Leszek Balcerowicz, und einem schon recht gezausten, zum Teil schon zum SLD migrierten sozialdemokratischen besteht für UW die Gefahr, zerrieben oder gespalten zu werden.

Wie für die Union der Freiheit war auch für die Union der Arbeit (UP) als sozialdemokratischer „Solidarnosc"-Nachfolgepartei das Verhältnis zum „postkommunistischen" SLD immer ein Zentralproblem. Auf ihrem Parteikongreß im Oktober wurde Ryszard Bugaj, der für eine klare Abgrenzung zu SLD/SdRP steht, wiedergewählt. Er vertritt die Auffassung, das postkommunistische SLD verstecke seine in Wirklichkeit wirtschaftsliberale Politik lediglich hinter sozialdemokratischen Slogans. Seine stärkste Opponentin, Frau Wieslawa Ziolkowska, Vorsitzende der Haushaltskommission des Sejm und Anwältin einer engeren Kooperation von UP und SLD, entschied, nicht gegen Bugaj anzutreten, obwohl ihr von vielen Beobachtern große Chancen auf einen parteiinternen Sieg eingeräumt wurden. Auch Frau Ziolkowska tritt aus wahltaktischen Gründen dafür ein, daß UP nicht mit einer Koalitionsaussage zugunsten des SLD in den Wahlkampf zieht. In einer Umfrage vom November ließ sich das Wählerpotential der UP nicht eindeutig bestimmen, außer, daß es überwiegend aus urbanen und gebildeten Bürgern ohne Vertretung von Unternehmern besteht.

Überraschend konnte sich der 36-jährige Parteivorsitzende und ehemalige Premierminister Waldemar Pawlak auf dem V. Parteikongreß der Bauernpartei (PSL) Ende November 1996 gegen seinen schärfsten Konkurrenten, Roman Jagielinski, Landwirtschaftsminister und stellvertretender Premierminister, klar durchsetzen. Jagielinski bekannte sich eindeutig zur Modernisierung polnischer Agrarstrukturen und Westintegration Polens und kritisierte Pawlak als Verantwortlichen für das negative Image der PSL als Partei prinzipienloser Postenjäger. Nur 402 von 1.219 Delegiertenstimmen dankten ihm dies. Aus dem „Solidarnosc"-Lager erhielt Pawlak Kritik, aus seiner Partei überwiegend Lob dafür, daß es ihm gelang, Organisationsstrukturen und Vermögen der - früher unter dem Namen „Vereinigte Bauernallianz" - jahrzehntelangen Blockpartei in die neuen Zeiten zu retten. Beide Faktoren machen heute die Stärke der mit rund 200.000 Mitgliedern größten Partei Polens aus. Unter Pawlaks Führung bedurften fast alle Regierungen seit 1989 der Hilfe oder Duldung der Bauernpartei. Pawlak, dessen Stern nach den nur 4,3% Wählerstimmen in den Präsidentschaftwahlen 1995 schon zu verblassen schien, gelang es, die PSL für 1997 als potentiellen Koalitionspartner der Wahlaktion Solidarnosc zu positionieren, ohne das Tischtuch zwischen den regierenden Koalitionsparteien gänzlich zu zerschneiden.

Die PSL definiert sich zunehmend als nationale, bäuerliche und christliche Partei. Ihre Weltanschauung ist klerikal-konservativ, ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen sind allerdings linkspopulistisch. Daher wird sie in Umfragen von 40% der Befragten als links, von 24% als Mitte und nur von 12% als rechts geortet. In ihren Zweifeln an den Prinzipien der Marktwirtschaft, der Infragestellung des Privatisierungsprozesses und den Vorbehalten gegenüber ausländischen Investoren und deren Möglichkeit, polnischen Boden zu erwerben, trifft sich die PSL mit der AWS und ROP. Darüber hinaus stimmen die drei Parteien auch in ihrer Kirchennähe, in der Ablehnung einer Abtreibungsgesetzgebung mit sozialer Indikation und in ihren Vorstellungen der Notwendigkeit eines paternalistischen Sozialstaates überein. Mit Ausnahme der Abtreibungsfrage haben die benannten gemeinsamen Postulate einen an der Vergangenheit der Volksrepublik Polen nostalgisch orientierten Charakter. Diese Gemeinsamkeiten erscheinen paradox, da sich die aus der „Solidarnosc"-Bewegung hervorgegangenen Politiker von AWS und ROP vor allem über ihren Antikommunismus definieren. Nach verschiedenen Versuchen im Verlaufe des Jahres 1996, ROP und AWS gemeinsam in den Parlamentswahlen antreten zu lassen, scheint nun sicher, daß sich ROP als eigenständige Partei versuchen wird. Der Vorsitzende der Partei und Ex-Premierminister Jan Olszewski begründet dies damit, daß sich ROP als stärkste Partei nicht wie die anderen AWS-Gruppierungen der Dominanz von NSZZ „Solidarnosc" unterordnen wolle.

Olszewskis Partei möchte die Ausdehnung westlicher Supermärkte auf Kosten der kleinen polnischen Läden beschränken, einen „Antiabtreibungs-" und christliche Werte fordernden Paragraphen in der polnischen Verfassung unterbringen und - vor allem - alle öffentlichen Positionen von „früheren Kommunisten" säubern. ROP wendet sich an die vom Transformationsprozeß Frustrierten und benennt die vermeintlich Schuldigen: Postkommunisten, Liberale, Ausländer, ausländisches Kapital, die korrupten Eliten der alten „Solidarnosc" und die omnipotente internationale jüdische Gemeinde. So befürwortet ROP zwar einen NATO-Beitritt Polens, äußert sich aber äußerst skeptisch gegenüber einer EU-Mitgliedschaft. ROP bewegt sich in Richtung der Radikalisierung der unvollendeten „Solidarnosc"-Revolution von 1989. Ihre Rhetorik ist in der Tradition von Frustrationsbewegungen eine seltsame Mischung aus unterschiedlichsten ideologischen Quellen: moralische und katholische Orthodoxie mit obsessivem Chauvinismus und sozialistisch-antikapitalistischen Wirtschaftsprogrammelementen. Olszewski betreibt den Kult eines Führers, der sich ernsthaft um die Benachteiligten, Unglücklichen und Beladenen sorgt.

Der bisherige Erfolg der Wahlaktion Solidarnosc" (AWS) scheint darin zu gründen, daß sie bisher weder Kandidaten benannt noch ein Programm vorgelegt hat, somit von einer unklar definierten „Solidarnosc"-Nostalgie zehren und alle Art von Protest-Sympathien anziehen kann. Dies nährt den Streit in der polnischen Presse darüber, ob ein Wahlerfolg der AWS Hoffnungen für die polnische Zukunft erlaubt oder aber diese bedroht. Derzeit zieht die Wahlaktion eine kleinere sich in der „Solidarnosc"-Tradition verstehende modernisierungsorientierte und eine - erheblich größere - Wählerschaft an, die allgemein mit dem Wandel seit 1989 unzufrieden ist, polnische Werte, Nähe zur Kirche und Scheu vor der Öffnung nach Westen empfindet. So äußerte Ende November ein Führer der nationalistischen Konföderation für ein Unabhängiges Polen (KPN), der stärksten Partei im Wahlbündnis, die derzeitige Regierungskoalition aus postkommunistischer Sozialdemokratie und postkommunistischer Bauernpartei wolle die alte Abhängigkeit von Moskau durch ein Brüsseler Diktat ersetzen. Allerdings kann AWS insgesamt nicht als „antieuropäisch" qualifiziert werden.

Beobachter befürchten, daß bei einem Wahlsieg der AWS Gewerkschafter der NSZZ „Solidarnosc" ohne ein in demokratischen Wahlen legitimiertes Mandat zu großen Einfluß auf das gesetzgeberische Geschehen im Sejm gewinnen könnten. AWS werde dann versuchen, einen „Solidarnosc"-Verfassungsvorschlag zu realisieren, der gesetzgeberisches Vorschlagsrecht und Konsultationspflicht mit den Gewerkschaften für jeden Haushaltsentwurf vorsah. Diese Gefahr sei um so größer, als die Gewerkschaft „Solidarnosc" fast ausschließlich Mitarbeiter des ineffizienten Staatssektors repräsentiere und damit vor allem staatliche Subventionen und staatliche Eingriffe suchen müsse. Bisher habe sie zudem beharrlich die notwendigen Reformen in der Schwerindustrie und im Bergbau wie auch im Erziehungssektor und in allen anderen Bereichen, in denen Reformen Entlassungen und die Beschränkung erworbener Privilegien bedeuten, blockiert.

Während Jan Olszewski mit seiner ROP von 18% Wählersympathie im Sommer auf ca. 11% im November absank, ist der Stern von Marian Krzaklewski als Vorsitzender von NSZZ „Solidarnosc" und inzwischen unbestrittenem Führer der AWS gestiegen. Er stellt den Ausbau des Wohlfahrtsstaates, breitgestreuten Anteil am Besitz der zu privatisierenden Staatsbetriebe, Familienorientierung der Regierungspolitik und - vor allem - eine Reform des liberalisierten Abtreibungsrechtes entsprechend den Wünschen der Kirche, aber auch die Dezentralisierung des Landes in den Mittelpunkt seiner Wahlaussagen. In der Sicht liberaler Journalisten liegt das Polen Krzaklewskis irgendwo zwischen dem Waldemar Pawlaks und der Heimat Jan Olszewskis.

Nach Meinung mancher Beobachter ist das stabilste Element der Regierungskoalition aus PSL und SLD die Permanenz ihrer Krisen. In der Tat sind die programmatischen Orientierungen der beiden Koalitionsparteien in den meisten Fragen recht unterschiedlich. Die Unterschiede betreffen Fragen des Staatsaufbaus bzw. der Dezentralisierung, Art und Geschwindigkeit der Privatisierung, Grad der Protektion unterschiedlicher Sektoren, vor allem der Landwirtschaft, Reform der Pensionsregelung, Reform der wirtschaftlichen Schlüsselressorts, ausländische Investitionen, Erwerb von Grundstücken durch Ausländer, aber auch weltanschauliche Fragen wie die Ratifizierung des Konkordats oder die Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes.

Wahlforschungen zeigen seit 1994 eine Tendenz zur stärkeren Trennung zwischen städtischem und ländlichem wie auch Normalbürger- und Elitenwahlverhalten. Das Bündnis der Demokratischen Linken wird zunehmend mit „Elite" identifiziert, ländliche Gegenden tendieren in höherem Maße zur PSL, und die städtische Wählerschaft scheint in größerem Maße zur Wahlenthaltung zu neigen. Alle drei Faktoren sind negativ für ein denkbares SLD-Wahlergebnis. Mit der Politik ihrer Führung ist auch die Wählerschaft des SLD stärker wirtschaftsliberal geworden. Teile der linken Wählerschaft, die eine aktivere Sozialpolitik der Regierung wünschen, sind vom SLD enttäuscht und könnten zu ROP oder AWS abwandern.
Ein Umfrageinstitut, das dem SLD noch im März 1996 mit 31% eine Mehrheit der Sitze zuschrieb (AWS 15%) und auch im September SLD mit 28% (AWS 22%) vorne sah, erhob im November eine leichte Führung der AWS (28%) vor dem SLD (26%).

Ein von SLD-Prominenten benanntes zentrales Dilemma vor den Wahlen ist die Divergenz zwischen seinem wirtschaftspolitischen Pragmatismus und den „linken" sozialpolitischen Forderungen seiner Wählerschaft. Die polnischen Sozialdemokraten erläutern, daß sie „rechter" als ihre westeuropäischen Kollegen agieren müssen, da diese schon von einem funktionierenden Kapitalismus ausgehen könnten, sie diesen aber erst schaffen müßten. „Es sind nicht wir, die in die Mitte gerückt sind, es ist die Wirtschaft, die in ihrer Natur eine Mittellage braucht", erklärte hierzu der SLD-Vizemarschall des Sejm und denkbare Premierminister späterer Koalitionen Marek Borowski.

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Präsident Kwasniewski: Ein Jahr nach dem Amtsantritt

Aleksander Kwasniewski, der nach seiner Wahl alle Parteiämter niederlegte und aus seiner Partei austrat, betont, nach Versöhnung streben und „Präsident aller Polen" werden zu wollen. In Umfragen erhält er ein erheblich höheres Ranking als sein Amtsvorgänger Lech Walesa.

Paradoxerweise scheint gerade der „Postkommunist" Kwasniewski Symbol für einen erfolgreichen Kapitalismus und für die polnische Westorientierung geworden zu sein.

Das Denken in Leid, Märtyrertum, Kämpfen und Konflikten, das Walesa repräsentierte, wird zunehmend in Polen als altmodisch betrachtet. Erfolg ist attraktiver, vor allem wenn er in einer nicht aggressiven, freundlichen Art erreicht wird. Hierfür stehen Aleksander Kwasniewski und seine jugendlich wirkende First Lady.

Kwasniewski arbeitet noch am Stil seiner Präsidentschaft. Er vermeidet Formalitäten und versucht der „Mann zum Anfassen", der „Olek aller Polen" zu sein. Die polnische Presse benennt als Kwasniewskis Vorbilder die professionelle Lässigkeit Bill Clintons, den Stil Felipe Gonzalez’, die Offenheit und Leichtigkeit im Umgang Vaclav Havels und die Jovialität Kohls. Die monarchische Pose Chiracs, die perfekte Korrektheit deutscher Präsidenten oder gar die versuchte majestätische Aura von Walesa liegen ihm weniger.

Zumindest in der Außenpolitik handelt er allerdings wie sein Vorgänger. Seine Auslandsreisen sind ähnlich häufig wie die Walesas. Gegen die Wünsche der Partei hat er und nicht der Premierminister oder Außenminister die zentrale Rolle in der polnischen Außenpolitik übernommen. Mit dem Segen der SdRP-Führung, aber gegen die Gefühle eines großen Teils der SLD-Basis bemühte er sich - bisher ohne Erfolg - um eine Aussöhnung mit dem Vatikan und um die Möglichkeit der Ratifizierung des von der letzten „Solidarnosc"-Regierung unter Premierministerin Suchocka 1993 ausgehandelten Konkordats. Seine Unterschrift unter das von der Mehrheit der Sejm-Abgeordneten beschlossene liberalisierte Abtreibungsgesetz bewirkte scharfe Kritiken derjenigen, die ihn ohnehin gerne als opportunistischen „Postkommunisten" sehen wollen. Die Mehrheit der polnischen Gesellschaft bevorzugt Politiker, die sich als überparteilich deklarieren und sich nicht mit Streitigkeiten, sondern mit „konkreter Arbeit" beschäftigen. Dieses Bild und das des smarten, auf diplomatischem Parkett gewandten, energischen Mannes kann Kwasniewski vermitteln. Seine Informalität nach amerikanischem Vorbild oder, wie Kritiker meinen, im Stil der Top-Funktionäre der kommunistischen Jugend der 80iger Jahre erlaubt ihm nicht, ein weiteres polnisches Wunschbild, nämlich das eines „Präsidenten ohne Fehl und Tadel" zu erfüllen.

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Das Kabinett Cimoszewicz - die beständigste Regierung seit der Wende

Von den bisherigen sieben Premierministern seit 1989 amtierte keiner viel länger als ein Jahr. Am kürzesten, mit knapp einem Monat, war die erste Amtszeit Waldemar Pawlaks im Jahre 1992. Mitte Februar löste Wlodzimierz Cimoszewicz als dritter Ministerpräsident der seit Herbst 1993 regierenden Koalition aus dem Bündnis der Demokratischen Linken und der Bauernpartei Józef Oleksy als Ministerpräsident im achten Amtswechsel seit 1989 ab. Nach derzeitigem Stand der Dinge dürfte Cimoszewicz die Koalition bis zu den Parlamentswahlen im Herbst 1997 führen und damit der beständigste aller Premierminister seit der Wende werden.

Ein nicht unmöglicher Sieg der SLD bei den Wahlen wäre dann zweifellos ein persönlicher Erfolg des Premierministers. Erst danach - so das Kalkül mancher seiner Sympathisanten - würde sich Cimoszewiczs bisher eigenwillige Position auch für ein konsequenteres und erfolgreicheres Regieren nutzen lassen. Seine parteipolitische Distanz, seine im September 1995 zusammen mit der publizistischen „Vaterfigur" Polens, Adam Michnik, veröffentlichten Grundsätze „Über Wahrheit und Versöhnung", mit denen er zur Überwindung der politischen Spaltungen und zum Dialog zwischen „Postkommunisten" und „Post-Solidarnosc-Anhängern"aufrief, sowie sein Image als Politiker mit „sauberen Händen" ließen ihn als Premierminister einer möglichen Koalition zwischen dem Bündnis der Demokratischen Linken und der Union der Freiheit geeignet erscheinen.

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Kirche und regierende „Linke": „Der schwarze Konflikt"

Nach einer erneuten Ablehnung der Ratifizierung des 1993 in den letzten Tagen der Suchocka-Regierung ohne Information der Öffentlichkeit beschlossenen Konkordats durch das Parlament im Juni und einer Abtreibungsliberalisierung mit Stimmen des SLD, der UP und kleineren Teilen der UW und PSL im August und Oktober des letzten Jahres hat sich der Konflikt zwischen der regierenden Linken, vor allem dem SLD und der Kirche, erneut verschärft.
Die Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes (soziale Indikation) wurde in einer Erklärung der polnischen Bischöfe im Dezember 1996 als Rückkehr zum Totalitarismus bezeichnet. Sie hebe grundlegende ethische Regeln auf und führe so zur Korruption, zum Zuwachs des organisierten Verbrechens und zur Hoffnungslosigkeit von breiten sozialen Schichten, die keine Entwicklungsperspektiven haben.

Offener Dialog und Diskussion mit den Gläubigen oder auch über eigene Schwächen gehören nicht zur Tradition der polnischen Kirche. Nach der jahrzehntelangen Bataille mit den Kommunisten konnte sie sich als geistiger Sieger fühlen und definierte ihre Rolle in den schwierigen Zeiten der Transformation als einzig gültige, strenge geistige Führungskraft der Nation. So entstand die Überzeugung, daß aus moralischem Recht auch die Macht folgen müsse, dieses Recht durchzusetzen. Ein größerer Teil des Episkopats scheint nicht auf Europa vorbereitet zu sein. Säkularisierung, Öffnung nach Westen und damit ein kirchlicher Rollenwandel werden noch nicht als Herausforderung angenommen.

In einer Umfrage vom Februar 1996 sprachen sich 85% der Polen gegen eine aktive politische Tätigkeit der Kirche aus, fast 60% gegen die Beibehaltung des damaligen Abtreibungsgesetzes ohne soziale Indikation, 59% gegen ein Scheidungsverbot und 73% gegen ein Verbot von Verhütungsmitteln. Die kirchenkritische Grundstimmung in einem großen Teil der Bevölkerung erhielt wohl durch nichts mehr Nahrung als dadurch, daß es in Polen eine Reprivatisierung praktisch nur für die Kirche gegeben hat. Seitens des SLD verweist man auf großes eigenes Entgegenkommen: So wurde beschlossen, die Gehälter der von der Kirche ausgewählten Religionslehrer und die Religionsunterrichtsmaterialien vom Staat zu zahlen, was den Staatshaushalt im Jahre 1997 mit etwa 300 Millionen Zloty belasten wird. Seit 1993 wurden der Kirche 36.000 ha Land und Wälder und eine große Anzahl von Gebäuden und Bauland zurückgegeben. Allein die Zollfreiheit kirchlicher Importe, vor allem von Kraftfahrzeugen, kostete den Steuerzahler im Jahre 1995 mehr als 5 Mio. DM.

Auch im Streit um Verfassungsfragen hat das Bündnis der Demokratischen Linken Zugeständnisse gemacht. Zunächst lehnte es mit Rücksicht auf einen großen Teil seiner Wähler jegliche invocatio dei in der Verfassungspräambel ab. Als man sich im Spätsommer zu einer solchen („im Namen Gottes und der Menschen") durchzuringen schien, forderte die Kirche einen zusätzlichen ausdrücklichen Bezug auf „christliche Werte". Hätte die Regierungspartei in dieser Frage nachgegeben, so fürchteten SLD-Abgeordnete, wäre die Folge eine Überprüfung aller Verfassungsnormen und eine Revision aller Gesetze, speziell des einer liberalisierten Abtreibung, unter Bezugnahme auf die Verfassungspräambel gewesen.

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Die „Oleksy-Affäre" als „roter Konflikt"

Nach monatelangen Enthüllungen über Doppelspione, Führungsagenten, exotische Treffplätze, abgehörte Telefongespräche, die Stoff für Spionagethriller boten, stellte die Staatsanwaltschaft im April 1996 die Untersuchung gegen Oleksy ein, da keinerlei Verdachtsmomente für eine Anklage gefunden worden seien. Auch auf Betreiben von Oleksy entschied Premierminister Cimoszewicz, ein Weißbuch mit Materialien und Dokumenten der Geheimdienstuntersuchungen gegen Oleksy zu veröffentlichen, um so der Öffentlichkeit ein besseres Bild zu geben. Die Veröffentlichung im Oktober belegte Oleksys jahrelange Kontakte zu russischen Botschaftsangestellten, darunter auch verdeckt arbeitenden Agenten des KGB und seiner Nachfolgeorganisationen, aber vor allem seine Unschuld in allen ihm gegenüber erhobenen Vorwürfen. Ein Sejm-Untersuchungsausschuß kam schließlich zum Schluß, der Geheimdienst habe bei seiner Arbeit gegen Oleksy Gesetze verletzt (Mehrheitsvotum), zumindest aber „bewährte Arbeitsprinzipien" übersehen (Minderheitsvotum). Auch der damalige Innenminister Andrzej Milczanowski habe das Recht gebrochen, als er im Dezember 1995 vor dem Sejm ohne ausreichende Grundlage Oleksy der Spionage anklagte.

Schon zu Beginn der Affäre gab es ernstzunehmende Stimmen, die nur Rußland als Nutznießer der Affäre erkennen konnten. Oleksy habe von Moskau geopfert werden sollen, um die „postkommunistischen" Sozialdemokraten vor ihrem eindeutigen Kurs der Westintegration zu warnen. Eine andere Variante besagte, Walesas Männer hätten die Kampagne zur Desavouierung der SdRP für später geplant, dann aber wegen der überraschenden Wahlniederlage Walesas vorzeitig gehandelt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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