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2. Zur wirtschaftlichen Lage

Der wirtschaftliche Erholungsprozeß nach der Anpassungsrezession infolge der Wende war schneller als in allen anderen Ländern der Region. Nach Berechnungen der EU hat das polnische BIP pro Kopf schon im Jahre 1995 (andere Quellen sprechen vom Jahre 1996) das Niveau von 1989 überschritten, während Tschechien und Ungarn erst etwa 90% erreichten und Rußland auf ca. 50% des Niveaus von 1989 abfiel.






Nach dem Rekordjahr 1995, in dem Polen (7%) zusammen mit Irland das höchste Wachstum Europas erreichte, prognostizierten alle Experten für 1996 ein Wachstum zwischen 4,7 und maximal 5,5%. Trotz dieser pessimistischer Prognosen lag das Wachstum 1996 bei 6,5%. Daß Polen 1996 in einen Pfad langsamerer Entwicklung einbiegen würde, erwartete man wegen der Konjunkturschwäche der EU, die als Absatzmarkt für die polnischen Exporteure von überragender Bedeutung ist, und der geringeren Profitabilität polnischer Exporte, bedingt durch die realen Zloty-Aufwertungen von ca. 10% im Jahre 1995 und über 6% im Jahre 1996.

Die wirtschaftliche Entwicklung wurde 1996 vor allem durch Investitionen und Konsum angeregt. Investitionen nahmen nach Angaben der Weltbank real um 22% zu, die Ausgaben der privaten Haushalte stiegen um reale 11%. Die Nachfrage wuchs stärker als die Produktion. Exporte nahmen um 7% bis 8% in Dollarwerten zu, Importe wuchsen zwischen 24%-30%. Importe sind stark durch Investitionen, auch ausländische Direktinvestitionen, bestimmt. Die polnische Nationalbank schätzt, daß jede Million US Dollar ausländische Direktinvestitionen etwa 400.000 US Dollar an Importen bewirkt. Die für 1996 geschätzten 4-5 Mrd. Direktinvestitionen hätten damit alleine 1,6-2,0 Mrd. US Dollar an zusätzlichen Investitionsimporten bewirkt.

Die überraschend hohe Steigerung der privaten Nachfrage war möglich wegen der Verringerung der Arbeitslosigkeit um ca. 350.000 Personen und wegen der Steigerung der realen Kaufkraft und der Verbilligung von Konsumentenkrediten, die auch im Jahre 1996 um etwa 60% gegenüber dem Vorjahr zugenommen haben. Demzufolge ergab sich ein in der polnischen Presse breit kommentierter „Kaufrausch". Allein der Verkauf von Automobilen nahm im Jahre 1996 um ca. 40% zu. Experten befürchten daher eine „Überhitzung" der polnischen Wirtschaft, ähnlich den negativen Beispielen in der Tschechischen und der Slowakischen Republik. Auch 1996 ist die polnische Inflationsrate gesunken; mit ca. 18,0 % wird sie allerdings - anders als in den Vorjahren - um kaum 1% die Zielgröße überschreiten.
Die Polnische Nationalbank rechnet die Preisentwicklung bei Dienstleistungen und Nahrungsmitteln zu den wichtigsten Inflationsquellen. Gerade bei letzterer habe sich die Bauernpartei in der Regierung mit protektionistischen Maßnahmen zur Abschottung des Binnenmarkts durchgesetzt. Weitere Faktoren der Inflation sind die Erhöhung der Geldmenge durch Anstieg der offiziellen Devisenreserven, die Erhöhungen der staatlichen Gas-, Strom- und Wärmeversorgungs-Tarife wie auch die Lohn- und Gehaltsanhebungen im letzten Quartal 1996.

Die höher als prognostiziert ausfallenden Wachstums- und Inflationsraten werden wie in den beiden Vorjahren wohl dazu beitragen, das mit 2,4% schon unter dem Maastricht-Kriterium liegende angepeilte Haushaltsdefizit zu unterschreiten.

Wirtschaftsindikatoren Polens 1990-1996

1990

1991

1992

1993

1994

1995

1996
Prognose




Vorjahr

= 100




BIP

92-93

93,0

102,6

103,8

105,2

107,0

106,5

Industriesektor

76,8

92,0

102,8

106,4

112,1

109,7

108,50

Bausektor

89,3

111,4

106,6

108,0

100,5

108,1

107,0

Agrarsektor

97,8

98,4

87,3

106,8

90,7

110,7

99,0

Investitionen

89,9

95,9

100,4

102,3

108,2

119,0

120,6

Inflation Dez.-Dez.

349,3

160,4

144,3

137,6

129,5

121,6

118,0

Beschäftigung

92,8

95,6

97,2

98,3

101,1

100,3

100,8

Durchschnittl. Nettomonatsgehalt (real)

75,6

99,7

97,3

97,1

100,5

104,5

107,6

Arbeitslosenrate (Ende des Jahres)

6,5

12,2

14,3

16,4

16,0

14,9

13,5

Exporte

.

104,6

88,5

107,3

124,8

135,0

106,0

Importe

.

161,1

101,0

118,4

112,0

138,9

130,0

Haushaltdefizit in % BSP

- 0,4

3,8

6,0

2,8

2,7

2,6

2,4

Öffentliche Schuld in % BSP

95,0

81,4

85,2

86,2

69,5

56,2

54,0


Quelle: Zentrales Planungsamt (CUP), Warschau Nov.96 und Jan.97

Die Situation auf dem Arbeitsmarkt hat sich nach offiziellen Angaben verbessert. Die Arbeitslosenrate wird Ende 1996 13,5% (1995: 14,9%) betragen. Damit ist sie allerdings eine der höchsten aller europäischen OECD-Länder. Lediglich Spanien (23%) und Finnland (17%) verzeichnen eine höhere Rate; unter den Visegrad-Ländern sind nur die Arbeitslosenraten der Slowakischen Republik und Sloweniens ähnlich alarmierend.

Die Struktur der Arbeitslosigkeit ist vergleichbar der in anderen OECD-Ländern, mit einer Ausnahme. Die Altersgruppe ab 45 verzeichnet in Polen eine erheblich geringere Arbeitslosigkeit: Der Grund dafür sind die nach der Wende eingeräumten Möglichkeiten frühzeitiger Pensionierung, die die Sozialpläne ersetzten. Die Altersgruppe mit der höchsten fast 30%igen Arbeitslosigkeit ist die der 25-jährigen. Personen mit nur geringer Berufserfahrung haben bis zu 40% keinen Job. Im Jahr 1994 fanden nur 19% der Hauptschulabgänger und 31% der Berufsschulabgänger innerhalb eines Jahres eine Stelle. Graduierte in Universitäten wurden zu 78% beschäftigt.

Regional sind die Arbeitschancen in Polen sehr unterschiedlich verteilt. Während im Südosten, Osten und Nordosten die Arbeitslosigkeit um und über 30% beträgt, verzeichnet sie in großen Städten wie Posen oder Warschau lediglich Werte um 7%. Arbeitsmarktpolitik ist eine der zentralen Herausforderungen in der näheren polnischen Zukunft. Zwischen 500.000 und 2 Mio. Menschen gelten derzeit schon in der Landwirtschaft als unter- bzw. scheinbeschäftigt. Die bisher verschobenen, in den nächsten Jahren aber unumgänglich werdenden Umstrukturierungen in den großen Industriesektoren wie Kohle, Stahl und Chemie werden eine erhebliche Anzahl von Arbeitskräften zusätzlich freisetzen.

Dabei hat sich in den letzten Jahren das Wirtschaftswachstum Polens vom Arbeitsmarkt abgekoppelt. Die abnehmende Arbeitsintensität der Produktion führte dazu, daß das polnische Wachstum ein „jobless growth" ist. Nach Berechnungen der Warsaw School of Economics entsprach jedes Prozent BIP-Wachstum zwischen 1992-1995 einer 0,2%igen Abnahme der Beschäftigung. Es scheint daher zweifelhaft, ob die ehrgeizigen Ziele des im Frühjahr 1996 vom Finanzminister vorgestellten Wirtschaftspakets 2000, in vier Jahren eine einstellige Arbeitslosenrate zu erreichen, realistisch sind.

Insgesamt ist weiterhin eine leichte Konsolidierung der wirtschaftlichen Lage festzustellen: Bei Arbeitern, Bauern, Rentnern, selbständigen Unternehmern und selbständigen „professionals" ergaben Befragungen ab 1995 auch eine subjektiv empfundene Verbesserung ihrer Lebensumstände. Zugleich stieg die Sparrate bei allen fünf Gruppierungen. Der im September erschienene OECD-Report „Poland 1997" kommt daher zum Schluß, daß ein „trickle down" der Früchte des Wachstums begonnen hat. Nach Angaben des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche betrug das polnische Inlandprodukt pro Kopf der Bevölkerung nach Kaufkraftparität im Jahre 1995 USD 5.424 und damit 31,6% des EU-Durchschnitts.



Nach Berechnung der EU würde, bei Annahme einer Wachstumsrate von 5% in Polen und 2% im EU-Durchschnitt, Polen etwa 17 Jahre benötigen, um die Hälfte des durchschnittlichen EU-Pro-Kopf-Einkommens zu erreichen.

Regierungsnahe und oppositionelle Wirtschaftsexperten stimmten in einer Befragung Ende 1996 überein, daß in den letzten drei Jahren Einkommen und Wohlstand gewachsen sind und Polen gute Möglichkeiten für ein weiteres schnelles Wachstum hat. Allerdings müsse die Politik endlich die mittelfristigen Wachstumshemmnisse beseitigen.

Leszek Balcerowicz, früherer Finanzminister und Vater der Schocktherapie nach der Wende, derzeit Vorsitzender der oppositionellen Freiheitsunion, benannte folgende Bedingungen, um Chancen für ein gewünschtes Wachstum zu eröffnen:

  • Trennung von Wirtschaft und Politik durch Beschleunigung des Privatisierungsprozesses;
  • Entmonopolisierung, vor allem in strategischen Sektoren wie Energie und Telekommunikation;
  • Restrukturierung und Privatisierung des Kohlesektors und anderer unrentabler Bereiche, die Staatssubventionen verschlingen;
  • dringende Reform des Sozialversicherungssystems;
  • Steuerreduktion, -vereinfachung und -stabilisierung unter besonderer Berücksichtigung der Kostenentlastung für Unternehmen;
  • Reform des Erziehungswesens, vor allem des Berufsschulwesens, das derzeit ein Hauptproduzent von Arbeitslosigkeit ist;
  • weitgehende Dezentralisierung nicht nur von Aufgaben, sondern auch von Finanzen entsprechend der Regel: je weniger Zentralisierung, um so weniger Verschwendung.

Seiner Ansicht nach könnten alle Reformen in den nächsten drei Jahren durchgeführt werden. Zudem seien sie entgegen dem allgemeinen Glauben nicht besonders schmerzhaft. Erheblich schmerzvoller sei ihre Verschiebung oder Aufgabe. Dies könnte nicht nur eine Verringerung der Wachstumskräfte bewirken, sondern zur Stagnation des Transformationsprozesses führen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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