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1. Überblick

1. Der wirtschaftliche Erholungsprozeß nach der Anpassungsrezession infolge der Wende war in Polen schneller als in allen anderen Ländern der Region. Dennoch beträgt das Pro-Kopf-Einkommen Polens, nach Kaufkraftparität berechnet, 1996 nur wenig mehr als 30% des durchschnittlichen EU-Pro-Kopf-Einkommens (neue Bundesländer ca. 70%, Spanien ca. 67%, Tschechien ca. 55%, Griechenland ca. 44%).

2. Nach dem Rekordergebnis (7%) im Jahre 1995 wird Polen auch im Jahre 1996 mit ca. 6,5% eine vielversprechende Wachstumsrate haben. Dieses die Prognosen übertreffende Ergebnis basiert auf unerwartet hohen (auch ausländischen) Investitionen und einer durch günstige Konsumentenkredite erleichterten überraschenden Steigerung der privaten Nachfrage. Der in der Presse breit kommentierte polnische „Kaufrausch" läßt Experten eine Überhitzung der polnischen Wirtschaft befürchten.

3. Armut und Einkommensungleichheit haben nach 1989 stark zugenommen. Die Ergebnisse von Umfragen und die Erhöhung von Konsumausgaben und Sparrate in unterschiedlichen Schichten der Bevölkerung seit 1995 deuten darauf hin, daß ein „trickle down" der Früchte des Wachstums begonnen hat.

4. Ein Jahr nach seiner Wahl scheint der als „Postkommunist" kritisierte Präsident Aleksander Kwasniewski Symbol für einen erfolgreichen Kapitalismus und die weiterhin von einer großen Mehrheit der Bevölkerung getragene polnische Westorientierung geworden zu sein. Sein Sympathie-Ranking hat sich, auch wegen seines Stils eines „Präsidenten zum Anfassen", auf einem doppelt so hohen Niveau wie dem seines Vorgängers Lech Walesa stabilisiert. Ebenso wie dieser hat Kwasniewski die zentrale Rolle in der polnischen Außenpolitik übernommen.

5. Mitte Februar 1996 löste Wlodzimierz Cimoszewicz im achten Amtswechsel nach der Wende Józef Oleksy als Premierminister ab. Seine parteipolitische Unabhängigkeit und sein Image als Politiker mit „sauberen Händen" kamen ihm in der Öffentlichkeit zugute. Selbst wenn er, mit Ausnahme der Reform der Zentralverwaltung, keine der anstehenden großen Reformen, Sozialversicherung, Dezentralisierung, Restrukturierung der Landwirtschaft u.a.m., gegen seinen Koalitionspartner, die Bauernpartei, voranbringen konnte und trotz seiner Eigenschaft, zu administrieren statt zu regieren, wird er die Koalition bis zu den Parlamentswahlen im Herbst 1997 führen und damit der beständigste aller Premierminister seit der Wende sein.

6. Polens innenpolitische Lage ist weiterhin durch den „roten Konflikt", also die Auseinandersetzung um die Aufarbeitung und Behandlung der realsozialistischen Vergangenheit und ihrer Funktionsträger, und den „schwarzen Konflikt", die Konfrontation zwischen Kirche und regierender „Linken", vor allem des SLD, geprägt. Die Reaktion auf die Einführung einer sozialen Indikation im Abtreibungsrecht und die Blockadehaltung der Kirche in Verhandlungen um die Ratifizierung des noch von der Suchocka-Regierung beschlossenen Konkordats wirken, angesichts der wirklichen Transformationsprobleme des Landes, übertrieben. Ein großer Teil der Kirche scheint auf die Herausforderungen der Modernisierung und Öffnung Polens nach Westen nicht vorbereitet und scheut diese Herausforderung.

7. Die polnische Parteienszene kann nicht nach einem einfachen Links-Rechts-Muster gezeichnet werden. Um sie zu verstehen, ist zwischen der wirtschaftspolitischen Orientierung einer Wahlaktion, einer Partei oder eines politischen Bündnisses und ihrer „Weltanschauung" zu trennen.

8. In den Parlamentswahlen im Herbst 1997 wird dem Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) ein unter Führung der Gewerkschaft NSZZ „Solidarnosc" etwa 30 Gruppierungen vereinigendes Bündnis, die „Wahlaktion Solidarnosc" (AWS), auf der „Rechten" gegenüberstehen. AWS steht in Wählerumfragen zu Jahresbeginn gleichauf oder vor dem SLD. Ihr bisheriger Erfolg scheint darin zu liegen, daß sie weder Kandidaten benannt noch ein Programm vorgelegt hat, somit von einer unklar definierten „Solidarnosc"-Nostalgie zehren und alle Art von Protestsympathien, auch die der vom Transformationsprozeß Benachteiligten, anziehen kann. Ihr deklarierter Antikommunismus, ihre Nähe zur Kirche, ihr Hochhalten polnischer Werte und ihre Scheu vor der Öffnung nach Westen lassen sie als „rechte" Bewegung erscheinen. Ihre Wirtschaftsvorstellungen sind jedoch etatistisch-linkspopulistisch.

9. Die regierende Koalition aus SLD und Bauernpartei hat sich trotz ihrer internen Kontroversen und ihrer programmatisch-weltanschaulich unterschiedlichen Orientierungen als erheblich stabiler als frühere „Solidarnosc"-Regierungskoalitionen erwiesen. Wegen der Vergangenheit beider Parteien wird die Koalition als „postkommunistisch" bezeichnet. Dieser Begriff beschreibt aber weder die eindeutig westorientierte Außen-, noch die Innen- oder die Wirtschaftspolitik der Koalition adäquat, die im Prinzip den Kurs der früheren „Solidarnosc"-Regierungen fortsetzt. Zentrales Dilemma des SLD für die Wahlen ist die Divergenz zwischen seinem wirtschaftspolitischen Pragmatismus und den „linken" sozialpolitischen Forderungen seiner Wählerschaft. Allerdings wurde bisher in allen Vorwahlumfragen und soziologischen Analysen die Kampagnen-Fähigkeit des SLD und somit sein späteres Wahlergebnis unterschätzt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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