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Ägäisstreit - prinzipiell lösbar...

Wie viele andere Konflikte wäre auch der Ägäis-Streit bei gutem Willen auf beiden Seiten durchaus lösbar. Es sind vier miteinander verwobene Streitfragen, die die beiden Ägäisanrainer immer wieder entzweien: erstens die Abgrenzung und Nutzung des Festlandsockels, zweitens die Abgrenzung der Territorialgewässer, drittens die Grenzen des nationalen Luftraums sowie die Kontrolle in der gesamten Ägäis und viertens der Status der ostägäischen Inseln. Geht es beim Festlandsockel vor allem um die Ausbeutung der in der Ägäis vorhandenen oder vermuteten Ressourcen, so stand in letzter Zeit die Frage der Teritorialgewässer immer wieder im Vordergrund. Griechenland nimmt für sich das geltende Seerecht, insbesondere die Seerechtskonvention der Vereinten Nationen von 1982, in Anspruch, um daraus das Recht abzuleiten, die jetzigen Hoheitsgewässer um griechische Inseln herum von derzeit sechs auf zwölf Seemeilen auszudehnen. Die türkische Seite bestreitet dieses Recht mit dem Argument, in der besonderen Situation der Ägäis sei das internationale Seerecht nicht anwendbar. Obendrein würde die Ägäis zu einem "griechischen Binnenmeer", wenn es zur Ausdehnung der Territorialgewässer käme. Die westanatolischen Häfen wären von der Hohen See abgeschnitten, die Fahrt türkischer Schiffe ins Mittelmeer müßte durch griechische Gewässer erfolgen und die türkische Marine hätte keine Möglichkeit mehr, in internationalen Gewässern zu üben, ohne vorher griechisches Hoheitsgebiet zu passieren. Die Ausdehnung der Hoheitsgewässer auf zwölf Seemeilen wurde daher von türkischer Seite zum "casus belli" erklärt.

Betrachtet man die Streitfragen im Detail, dann schälen sich - jenseits von Maximalpositionen - auf beiden Seiten folgende Mindestvoraussetzungen heraus, die bei einer Konfliktlösung befriedigt sein müssen: Für die Türkei ist ein "angemessener" Anteil am Festlandsockel und die freie Navigation in der Ägäis unverzichtbar, während Griechenland auf jeden Fall darauf bestehen muß, daß die Ägäisinseln nicht auf Teilen des türkischen Festlandsockels liegen und daß die Kontrolle des Flugverkehrs zu den Ägäisinseln in griechischer Hand verbleibt. Aus griechischer Sicht stellen diese Minimalpositionen gegenüber dem Status quo eine Preisgabe griechischer Rechte dar. Daß sich Griechenland mit einer solchen Perspektive anfreunden könnte, ist nur dann realistisch, wenn eine stabile Friedensordnung in den Bereich des Möglichen rückt, die den Zwang entfallen ließe, gegenüber der "Bedrohung aus dem Osten", wie man die Türkei in Griechenland sieht, das stärkste Rüstungspotential in der NATO zu unterhalten, wenn man es am Anteil der Rüstungssausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) mißt (1996 4,9%).

Daß eine Konfliktlösung Zug um Zug möglich wäre, läßt sich besonders anschaulich am Beispiel der Territorialgewässer erläutern. Griechenland hält hier einen durch internationales Recht gedeckten Titel, der allerdings nicht umsetzbar ist. Der Grund liegt nicht nur darin, daß die türkische Seite bei einer Ausdehnung der Hoheitsgewässer den Kriegsfall erklärt hat, sondern auch darin, daß die Konsequenzen einer Erweiterung der Hoheitsgewässer für die Türkei kaum hinnehmbare Zumutungen enthielte. Warum sollte also angesichts dieser Sachlage nicht eine Kompromißformel ins Spiel gebracht werden, daß Griechenland seine Territorialgewässer zwar ausdehnt, aber nicht auf zwölf sondern nur auf acht Seemeilen? Innerhalb seiner Hoheitsgewässer könnte Griechenland zusätzlich einen engeren Sicherheitsbereich definieren, außerhalb dessen der Türkei die freie Schiffspassage auch für militärische Zwecke eingeräumt werden könnte. Die Türkei hätte ihrerseits das griechische Entgegenkommen durch ein entsprechendes Zugeständnis zu honorieren. Beide Seite könnten diesen Kompromiß als Erfolg gegenüber dem derzeitigen Status legitimieren und damit einen Annäherungsprozeß auch bei den übrigen Streitfragen einleiten. Wege zu Entspannung und Konfliktbändigung sind durchaus vorstellbar und werden unter Experten in Griechenland durchaus für umsetzbar gehalten. (Was hier knapp erörtert werden kann, ist ausführlich in der mit Heinz Kramer verfaßten Schrift des Autors "Entspannung im Ägäiskonflikt? Griechisch-türkische Beziehungen nach Davos", Baden-Baden 1990 dargestellt.)


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 1999

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