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6. Maßstäbe für Entwicklungs- und Schwellenländer und die Spekulation



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6.1. Die Maßstäbe für Entwicklungs- und Schwellenländer

Urteilen über Ereignisse sollte man erst, wenn man Maßstäbe besitzt, an denen man die Wirklichkeit messen kann und wenn man einen solchen Vergleich mit Hilfe statistischer Unterlagen vornimmt. Zunächst sollte man sich über die Bedingungen klar sein, die ein stabiles und hohes Wirtschaftswachstum in den Entwicklungs- und Schwellenländern ermöglichen. Gekennzeichnet sind diese Länder im allgemeinen durch relativ hohe Preissteigerungsraten, einen Mangel an Investitionskapital und unzureichende Infrastruktur.

Der Preisauftrieb in Entwicklungs- und Schwellenländer muß grundsätzlich, wie auch in den Industrieländern, durch eine angemessene Geld- und Kreditpolitik gebremst werden. Das ist in den Entwicklungs- und Schwellenländern nicht ganz einfach, da es dort meist an entwickelten Geld- und Kapitalmärkten fehlt, die für eine wirksame monetäre Politik nun einmal erforderlich sind. Daher ist es sinnvoll, die Währungen dieser Länder durch feste Wechselkurse mit anderen Währungen, z.B. mit dem US-Dollar, zu verbinden. Da im allgemeinen die Preissteigerungen in den Entwicklungs- und Schwellenländern höher sind als z.B. in den USA, bedeutet die Bindung dieser Währungen an den US-Dollar, daß die Währungen dieser Länder real aufwerten. Das unterstützt die Bestrebungen der Zentralbanken, das Preisniveau zu stabilisieren. „Die [estnische] Krone steht bekanntlich seit fünf Jahren in einem fixen Austauschverhältnis von 8:1 zur D-Mark, ein Arrangement, das nicht nur einen zentralen Stabilisierungsfaktor für die Wirtschaft des Landes darstellt, sondern auch den Werterhalt ausländischer Investitionen gewährleistet." [ „Implosion der Börsenkurse in Estland", Neue Zürcher Zeitung, 11.11.1997, S. 22]

Ein fester Wechselkurs bei relativ hohen Preissteigerungsraten stimuliert aber auch das Wirtschaftswachstum. Die mit der realen Aufwertung verbundene Dämpfung der wirtschaftlichen Entwicklung bildet für Unternehmen einen Anreiz, durch zusätzliche Investitionen die nationale und die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Der feste Wechselkurs gibt außerdem allen Beteiligten eine sichere Kalkulationsbasis. Das erleichtert den Export und den Import sowie die grenzüberschreitenden Geld- und Kapitaltransaktionen.

Wenn die Preissteigerungsraten in den Entwicklungs- und Schwellenländern höher sind als in den USA, dann zeigt die Kaufkraftparität eine Wertminderung dieser Währungen an. Dem muß aber nicht unbedingt eine Abwertung folgen. Häufig sind die Währungen der Entwicklungs- und der Schwellenländer so stark unterbewertet, daß zunächst einmal nur die Unterbewertung geringer wird. Mit anderen Worten: Diese Länder haben einen Zeitraum zur Verfügung, in dem sie durch eine angemessene Geld- und Kreditpolitik, unterstützt durch eine reale Aufwertung, die Preissteigerungsraten zurückführen können. Gelingt ihnen das nicht und tendiert die Währung zur Überbewertung, dann sind allerdings Wechselkurskorrekturen unvermeidlich. Eine dann notwendige Abwertung führt dann jedoch zu erneuten Preisschüben.





Entwicklungs- und Schwellenländer werden Armut und Hunger in ihren Ländern nur beseitigen und die niedrigen Lebensstandards nur anheben können, wenn sie Kapitalhilfe von außen erhalten. Vor allem die Industrieländer, Staaten und Unternehmen, leisten eine solche Hilfe in verschiedener technischer Form, so z.B. durch Übertragungen, Kredite und Beteiligungen. Das bedeutet, die Kapitalbilanzen der Entwicklungs- und Schwellenländer weisen Überschüsse auf. Da eine Zahlungsbilanz immer ausgeglichen ist, muß die Leistungsbilanz ein Defizit aufweisen. Wer den Ausgleich der Leistungsbilanzen dieser Ländern fordert, fordert damit gleichzeitig die Einstellung der monetären Hilfen.

Defizite in den Leistungsbilanzen der Entwicklungs- und Schwellenländer sind also das Spiegelbild des notwendigen Kapitalimports. Umstritten sein kann nur der Umfang solcher Defizite und die Struktur des Kapitalimports. Der Kapitalimport sollte vor allem zusätzliche Investitionen ermöglichen. Es ist beanstandet worden, daß zuviel Kapital importiert wurde, das vor allem in Finanzanlagen geflossen ist. Mittel, die in Investmentfonds fließen, kommen aber auch direkt oder indirekt der Entwicklung einer Wirtschaft zugute. Außerdem hat man vor den spekulativen Attacken die Liberalität vieler asiatischer Länder im Kapitalverkehr gerühmt. Zu dieser Liberalität gehören aber auch Finanzanlagen.

In den Entwicklungs- und Schwellenländern - nicht allerdings in den südostasiatischen Ländern - tendieren die öffentliche Ausgaben und Einnahmen im allgemeinen zu einem Defizit. Da das Sozialprodukt pro Kopf und damit die Einkommen relativ niedrig sind, ist auch das Steueraufkommen bescheiden. Auf der anderen Seite ist der Mittelbedarf öffentlicher Haushalte groß. Vor allem die Infrastrukturinvestitionen, die notwendig sind, um private Investitionen zu ermöglichen, verschlingen erhebliche Mittel.

Ein Maßstab, um zu beurteilen, in welcher Höhe öffentliche Defizite zu tolerieren sind, können die Kriterien zur Überwachung der Haushaltslage durch die Kommission der Europäischen Union sein. Sie verlangen, daß die öffentlichen Schulden 60 vH des BIP nicht übersteigen sollen. Bei einem normalen Wirtschaftswachstum in Europa um real 3 vH und einer unvermeidlichen Preissteigerungsrate von 2 vH, also einer Zuwachsrate des nominalen Sozialprodukts von 5 vH, ergibt sich ein maximal tolerierbares laufendes Defizit von 3 vH (5vH von 60 vH). Der Internationale Währungsfonds geht davon aus, daß nach der „Ginseng-Krise" das Sozialprodukt der südostasiatischen Volkswirtschaften wieder real um 7-8 vH wachsen kann. Bei einer unvermeidlichen Preissteigerungsrate von 3 vH steigt das nominale Sozialprodukt also um rd. 10 vH. Soll auch in Asien die öffentliche Verschuldung 60 vH nicht überschreiten, dann ist ein laufendes Defizit von maximal 6 vH (10 vH von 60 vH) mit den wirtschaftlichen Gegebenheiten in diesem Raum vereinbar.

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6.2. Ein statistischer Befund

Man sollte sich zunächst einige Zahlen vor Augen führen, die die wirtschaftliche Lage in den asiatischen Staaten in den Jahren vor den spekulativen Wellen wiedergeben. Stellvertretend für diese Staaten sind in der Tabelle „Wirtschaftliche Grunddaten in Thailand vor 1997" die Daten dieses Landes angegeben. Sie basieren auf der Statistik des Internationalen Währungsfonds.

Das Wirtschaftswachstum war in Thailand beachtlich. Mit rund 8 vH entsprach es den Vorstellungen über den Wirtschaftsverlauf von Entwicklungs- und Schwellenländern, die zu den Industrieländern aufschließen wollen. Beachtlich waren die Anstrengungen, die Preissteigerungsraten in Zaum zu halten. Die Preissteigerungsraten waren einstellig. Thailand gelang es, sich der Ziellinie eines Entwicklungs- und Schwellenlandes von rd. 4 vH, auch nach Rückschlägen, immer wieder zu nähern. Zu dem Erfolg hat die reale Aufwertung, die sich aus festen Wechselkursen gegenüber dem US-Dollar ergab, beigetragen.

Auch die monetäre Politik in Thailand hat zu dieser Stabilisierung geführt. Bei einem Wirtschaftswachstum von rd. 8 vH und einer Preissteigerungsrate zwischen 3 vH und 6 vH liegen Zuwachsraten der Geldmenge zwischen 12 vH und 18 vH durchaus noch im Bereich des Tolerierbaren. Das gelegentlich zu hörende Argument, in den südasiatischen Staaten wäre die Geldmenge zu rasch gestiegen, läßt sich nicht belegen.

Der Saldo der Leistungsbilanz Thailands war mit rd. 5 vH gemessen am nominalen BIP durchaus angemessen. Sein Anstieg auf 8 vH in den Jahren 1991 und 1995 mag als zu hoch angesehen werden. Aber dem Land flossen auch umfangreiche Mittel aus dem Ausland zu. Im Jahre 1996 waren das 19,5 Mrd. US-$. Sie kamen weitgehend privaten und öffentlichen Investitionen zugute. Nur 3,6 Mrd. US-$ oder 18,5 vH der Zuflüsse waren Portfolioinvestitionen. Sie waren angesichts der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung und angesichts der Erwartungen eines fortschreitenden wirtschaftlichen Aufschwungs nicht überhöht.

Wenn eine Wirtschaft expandiert und günstige Aussichten für einen Aufschwung bestehen, dann kommt es auch zu Übertreibungen. So ist der Bauboom in Thailand und anderen südasiatischen Staaten über den Bedarf hinausgegangen. Solche Erscheinungen gibt es allerdings auch in den Industriestaaten. Japan ist ein Beispiel dafür. Auch in Deutschland überstieg der gewerbliche Bau den Bedarf. Büroflächen stehen leer. All das rechtfertigt aber keine spekulativen Attacken auf die Währungen dieser Länder, die zu starken Rückschlägen in der wirtschaftlichen Entwicklung führen.

Immer wieder wird betont - so auch in der zitierten Analyse von Carola Kaps - die öffentlichen Defizite seien in den „Ginseng-Staaten" zu hoch. Weder in Thailand noch in einem anderen südostasiatischen Staat, deren Währungen von der Spekulation attackiert wurden, gab es in den zentralen Haushalten öffentliche Defizite. Alle diese Staaten wiesen vielmehr Überschüsse auf. Legt man die vom Internationalen Währungsfonds publizierten Daten zugrunde, fällt es schwer, eine Rechtfertigung für die spekulativen Attacken zu finden.

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6.3. Die Einschätzung der Spekulation

Die Spekulation hat in der Struktur makroökonomischer Größen in den Entwicklungs- und Schwellenländer nicht Bedingungen für ein stabiles und hohes Wirtschaftswachstum gesehen, sondern sie hat diese Struktur zum Anlaß ihrer spekulativen Attacken genommen. Die Kombination von festen Wechselkursen und hohen Preissteigerungsraten sah sie nicht als ein Mittel an, den Preisauftrieb durch eine reale Aufwertung zu bremsen. Vielmehr betrachtete sie die Kombination als unhaltbar. Defizite in der Leistungsbilanz waren für die Spekulation nicht das Spiegelbild freiwilliger, meist privater Kapitalimporte. Sie war der Ansicht, die Entwicklungs- und Schwellenländer würden über ihre Verhältnisse leben. Defizite öffentlicher Haushalte wurden von der Spekulation nicht als erforderlich angesehen, um möglichst umfangreiche Infrastrukturvorhaben als Voraussetzung privater Investitionen zu ermöglichen. Die Spekulation sah in solchen Defiziten, wie z.B. in der Tschechischen Republik, eine unsolide Haushaltspolitik.

Alle Währungen in Asien, die in der zweiten Hälfte 1997 spekulativen Angriffen ausgesetzt waren, wiesen ein Bild auf, das dem Gedankengebäude der Spekulation entsprach. Die Unruhe weltweit auch in anderen Entwicklungs- und Schwellenländern beruht darauf, daß auch sie ein ganz ähnliches Bild abgeben, wie die von der Spekulation getroffenen asiatischen Staaten.

Der einzige Weg, auf dem Entwicklungs- und Schwellenländer ihren Rückstand im Lebensstandard vermindern können, ist ein höheres Wirtschaftswachstum als in den Industrieländern. Aber selbst das wurde in Frage gestellt. „Der Wirtschaftswissenschaftler Walden Bello (Manila und Bangkok) ... ist überzeugt davon, daß es sich bei der gegenwärtigen Krise nicht um ein kurzzeitiges Phänomen, sondern um die Krise eines Entwicklungsmodells handle: Der Versuch, mit kräftigen Sprüngen, ermöglicht dank großzügiger Zuflüsse ausländischen Kapitals, in kurzer Zeit das Niveau entwickelter westlicher Industriestaaten zu erreichen, habe sich als Illusion erwiesen." [ „Asiens Krise fordert Opfer", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.11.1997, S. 16] Immerhin haben die südostasiatischen Staaten mehr als zwei Jahrzehnte gebraucht, um auf das noch weit vom Lebensstandard der Industrieländer entfernte Niveau zu gelangen.

Die Einschätzung der makroökonomischen Struktur durch die Spekulation und ihre darauf beruhenden spekulativen Angriffe, haben der Entwicklungsstrategie schwer geschadet. Die für eine wirtschaftliche Entwicklung der ostasiatischen Länder notwendige Struktur ist zusammengebrochen. Diese Länder werden in ihrer Entwicklung gebremst.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1999

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