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Brasilien: Verlierer oder Gewinner der Asien-Krise?

Spekulationsattacken zeichnen sich vor allem durch ihre Unberechenbarkeit aus. Zumindest solange die Krise in Asien anhält, kann niemand mit vollständiger Sicherheit sagen, ob jetzt das Risiko eines Crashs in Brasilien ausgeräumt ist; entsprechend finden sich in der Presse ständig Spekulationen über einen bevorstehenden erneuten spekulativen Angriff auf die brasilianische Währung. Denn Brasilien gehört, angesichts seiner nach wie vor überbewerteten Währung, dem gestiegenen Außendefizit und den unsicheren öffentlichen Finanzen, ganz offensichtlich zu der Gruppe der potentiellen Opfer von Spekulationsattacken.

Daß sich die Stimmung in Brasilien - im Vergleich zu den Krisenwochen - andererseits doch wieder sichtbar entspannt hat, liegt nicht zuletzt daran, daß die Reaktion der brasilianischen Regierung tatsächlich sehr rasch und sehr entschieden war. Hierin unterscheidet sich das überaus krisenerprobte Land tatsächlich sehr deutlich von der Mehrzahl der asiatischen Staaten, die sich trotz sichtbarer Krisenzeichen über Monate weigerten, entsprechende wirtschaftspolitische Kurskorrekturen vorzunehmen und die sich jetzt vom IWF Austeritätsprogramme diktieren lassen müssen, die eine längerfristige Rezession erzeugen werden.

Damit kehren sich die Verhältnisse um: Bis vor kurzem noch galt beispielsweise Südkorea als musterhaftes Beispiel dafür, wie ein Land auf die internationale Schuldenkrise zu reagieren hätte, während Lateinamerika wegen unzureichender und falscher Politikreaktionen ein ganzes Jahrzehnt verloren habe. Heute werden die lateinamerikanischen Länder als Vorbilder präsentiert, die auf Krisen flexibel mit einer Vertiefung und Beschleunigung von Markt- und Strukturreformen reagieren. Präsident Cardoso hält es sich in diesem Sinne auch sehr zugute, am Beginn eines Wahljahrs - im Oktober ‘98 sind Wahlen, und der Präsident setzt seit langem alles auf seine Wiederwahl - zum Wohl des Landes solch unpopuläre Maßnahmen durchgesetzt zu haben.

Hinzu kommt das Argument, daß Brasilien, ebenso wie ganz Lateinamerika, eigentlich fälschlicherweise von der Krise Asiens betroffen sei. Der Kurssturz an den Börsen der Region und der daraufhin einsetzende Abfluß von Kapital könnten nämlich auch damit begründet werden, daß die großen internationalen Investmentfonds Teile ihrer Investitionen in Brasilien liquidieren mußten, um die hohen Verluste in Asien ausgleichen zu können. In eine ähnliche Richtung geht die Argumentation, daß die Mehrzahl dieser Fonds im Krisenfall unfähig sei, zwischen vertrauenswürdigen Ländern einerseits und risikobehafteten Ländern andererseits zu unterscheiden. Ein solches „Herdenverhalten" war schon bei der Mexikokrise im Jahr 1994 zu beobachten und setzte auch damals schon Brasilien unter erheblichen Druck.

Allerdings wird das Argument der rein externen Ursachen zumindest teilweise dadurch entkräftet, daß sich auf dem future-Markt für Dollar in Brasilien schon einige Wochen zuvor die Spekulation auf eine Abwertung des brasilianischen Real abzeichnete. Und niemand will ernsthaft bestreiten, daß, wenn die internationalen Investoren es darauf anlegen, sie die brasilianische Zentralbank auf jeden Fall zu einer Abwertung zwingen können.

Paradoxerweise scheint auch die drastische Reaktion der brasilianischen Regierung auf die erste Attacke aus dieser Perspektive gesehen hochgradig problematisch für die Zukunft. Denn zum einen zieht das aktuelle Zinsniveau zusätzliches spekulatives Portfoliokapital an- was die Wahrscheinlichkeit einer Krise wiederum verstärkt. Und zum anderen scheint der Spielraum der öffentlichen Reaktion auf eine neue Attacke deutlich verengt: noch höher können die Zinsen kaum gesetzt werden, ohne erst recht ein panisches Abfließen von Kapital zu verursachen; und auch auf der fiskalischen Seite gibt es - gerade in einem Wahljahr - auf die Schnelle wohl nicht mehr sehr viel einzusparen.

Bei näherer Betrachtung der Folgen der harten Geld- und Fiskalpolitik kommt zudem ein schwerwiegendes Problem der brasilianischen Staatsfinanzen zum Vorschein, das aus den Zeiten der Hochinflation vererbt ist: die strukturelle Schwäche der öffentlichen Finanzen. Die Austeritätspolitik wird aufgrund des Konjunkturrückgangs nicht nur die staatlichen Steuereinnahmen verringern, sondern vor allem den staatlichen Schuldendienst drastisch erhöhen. Denn die interne Staatsverschuldung beläuft sich zwar nur auf etwa 20 Prozent des BIP, aber sie ist größtenteils aus de facto sehr kurzfristigen bonds zusammengesetzt, die Zinsänderungen extrem rasch widerspiegeln und die im brasilianischen Finanzmarkt nach wie vor eine zentrale Rolle spielen. Deshalb muß damit gerechnet werden, daß der staatliche Schuldendienst auf bis zu 7,5 Prozent des BIP ansteigen wird, je nachdem, wie rasch die Zinsen wieder gesenkt werden können; im schlechtesten Fall wären das also 56 Milliarden US-Dollar. Damit wird erschreckend klar, daß ein nicht unwichtiger Teil der überaus schmerzhaften öffentlichen Einsparungen von 20 Milliarden ausschließlich der Bedienung spekulativer Finanzinvestitionen dienen wird. Und so müssen wohl die Hoffnungen auf eine baldige Senkung des öffentlichen Defizits, das letztes Jahr noch immer bei drei Prozent lag, begraben werden.

Mindestens ebenso beunruhigend ist die Nachricht, daß der Staat in den letzten Monaten zur Beruhigung der nationalen und internationalen Investoren in steigendem Maße öffentliche Schuldpapiere ausgegeben hat, die zwar in heimischer Währung notiert sind, deren Wert jedoch an den Wechselkurs gebunden ist. Wer diese Papiere kauft, ist damit gegen das Risiko einer Abwertung versichert - das hat nun der Staat übernommen. Setzt die Regierung damit einerseits auch noch einmal ein Signal, daß sie eine Abwertung in jedem Fall verhindern will, so wären die öffentlichen Kosten dafür umso höher, falls diese doch eintreten sollte. So gesehen, könnte diese staatliche Garantie auch als Einladung für eine Währungsattacke verstanden werden, da der Preis derselben zumindest teilweise vom Markt auf den Staat abgewälzt werden kann.

Jenseits dieser strukturell angelegten Schwächen der öffentlichen Finanzen, die nicht nur für Brasilien, sondern aufgrund der stark verwurzelten Inflationstradition für die Mehrzahl der lateinamerikanischen Länder gilt, bietet der Kontinent - und bietet insbesondere der latecomer Brasilien - aber auch deutliche Vorteile gegenüber den gestrauchelten asiatischen Tigern, insbesondere was die fundamentals angeht. Zum einen wiesen diese vor Ausbruch der Krise teilweise erheblich höhere Leistungsbilanzdefizite auf; das von Thailand beispielsweise lag mit acht Prozent etwa doppelt so hoch wie das Brasiliens. Auch könnten die nach wie vor sehr hohen brasilianischen Devisenreserven im Falle einer erneuten Attacke massiv zur Verteidigung des Wechselkurses eingesetzt werden.

Dagegen steht allerdings die traditionell hohe Exportdynamik der asiatischen Länder, die in Brasilien bisher weitestgehend gefehlt hat. Die Kombination aus Binnenmarktkrise und hohen Abwertungen wird die asiatische Exportpolitik noch einmal deutlich agressiver auf dem Weltmarkt wirken lassen, so daß sich zwangsläufig in vielen Bereichen die Chancen für lateinamerikanische Exporte verschlechtern.

Das optimistisch stimmende Hauptargument der brasilianischen Regierung ist jedoch, daß die asiatischen Tigerstaaten am Ende eines langen Investitions- und Wachstumszyklus stehen. Brasilien dagegen hat endlich den Ausweg aus einer lang andauernden Phase der Krise und Stagnation gefunden und befindet sich - so die Hoffnung - am Anfang eines lang andauernden Aufschwungs. Vor allem hat das Land mit hohen Privatisierungen für das ausländische Kapital hochgradig attraktive Aktiva zu bieten. Allein aus der Privatisierung des Energie- und des Telekommunikationssektors werden für die kommenden Jahre Einnahmen zwischen 50 und 90 Mrd. Dollar erwartet. Auch bietet der große Binnenmarkt im Zusammenhang mit dem Mercosur gerade im Bereich der Konsumgüter attraktive Bedingungen für ausländische Direktinvestitionen.

Aus diesem Grund sieht die Regierung die Perspektive zur stabilen Finanzierung des Leistungsbilanzdefizits auch dann gewährt, wenn die internationale Liquidität nicht nur kurzfristig, wie derzeit zu beobachten, sondern für einen längeren Zeitraum schrumpfen sollte. Mit dem Crash des asiatischen Wirtschaftswunders verbindet Brasilien - mehr oder weniger offen - gemeinsam mit dem gesamten Kontinent die Hoffnung, als neue Zukunftsregion „entdeckt" zu werden, die angesichts ihrer fortgeschrittenen Marktorientierung die Probleme der Vergangenheit abgestreift und einen langen Wachstumszyklus vor sich liegen habe.

Die Interpretation der Perspektiven Brasiliens hängt jedoch davon ab, ob überhaupt die Voraussetzungen für einen lang andauernden Wachstumsprozeß gegeben sind. Die genauere Betrachtung der derzeitig eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Strategie stimmt allerdings nicht allzu optimistisch.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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