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3. Die soziale Frage und die Einheit der Nation

Drei Ereignisse gegen Ende des vergangenen Jahres haben die soziale Frage plötzlich wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt und die Mehrzahl der Israelis aufgeschreckt:

  • Anfang Dezember legte ein fünftägiger Generalstreik das Land lahm: Tausende von Touristen und Geschäftsreisenden strandeten am Ben-Gurion Flughafen, Zehntausende kamen nicht oder verspätet zur Arbeit, in den Straßen von Tel Aviv und anderer Städte häuften sich die Müllberge, das Bargeld wurde knapp, weil die Geldautomaten geleert und die Banken geschlossen waren. Die schon totgesagte Gewerkschaft Histadrut zeigte ihre Muskeln, und ihr Vorsitzender Amir Peretz wurde in den Worten der konservativen Jerusalem Post zum „working class hero", aber auch zum Buhmann des Mittelklasse-Israel. Schon im Verlauf des Jahres war es immer wieder zu Streikaktionen in einzelnen Wirtschaftssektoren und auch schon einmal zu einem „kleinen" Generalstreik gekommen – Warnsignale, die das politische und wirtschaftliche Establishment nicht ernst genommen hatten.
  • Mitte Dezember entlud sich in der Entwicklungsstadt Ofakim im Negev der angestaute Zorn über wachsende Arbeitslosigkeit (14 %) und Armut in heftigen Unruhen, die jederzeit auf andere Armutsgebiete überspringen können. Premierminister Netanjahu, der bei den letzten Wahlen dort 74 % der Stimmen erhalten hatte, eilte ebenso hastig herbei wie Oppositionsführer Barak, dessen Strategie gerade auf die überwiegend von Sepharden und russischen Neueinwanderern bewohnten Entwicklungsstädte abzielt. Aktueller Anlaß für die Unruhen war die Schließung einer Textilfabrik, deren Produktion wegen des Lohngefälles zum Teil ins benachbarte Jordanien ausgelagert wird – Frucht des Friedensprozesses und Fluch für die Entwicklungsstädte, deren Friedensgeneigtheit damit wohl kaum zunehmen wird.
  • Die rituellen Auseinandersetzungen um den Staatshaushalt 1998 nahmen in diesem Jahr besonders heftige Formen an, weil es nicht nur um die übliche Verteilung des Kuchens unter die jeweilige Klientel ging, sondern auch und vor allem um die prinzipielle Auseinandersetzung zwischen Wirtschaftsliberalen und Sozialpolitikern. Diese Frage bietet mehr Sprengstoff für die regierende Koalition als der Friedensprozeß, wie das Ausscheiden der Gesher-Partei aus der Koalition beweist.

Die Wirtschaftsdaten machen deutlich, daß Israel im Jahre 1997 eine wirtschaftliche Talfahrt angetreten hat. Das Wachstum des Bruttosozialprodukts verlangsamte sich von 7,1 % im Jahre 1995, über 4,4 % 1996 auf nurmehr 2 % im letzten Jahr. Dies bedeutet bei einem Bevölkerungswachstum von 2,3 % einen Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit vom Tiefststand von 6,5 % im Juni 1996 (dem Amtsantritt von Netanjahu) auf nunmehr 8,1 %; als die Arbeitspartei 1992 die Wahlen gewann, betrug die Arbeitslosenrate noch 11,6 %. Doch gibt es auch Positives zu berichten: Die Inflation sank von 10,6 % im Jahre 1996 auf jetzt 8 %, die Auslandsverschuldung verringerte sich um 1,6 Milliarden Dollar, und die ausländischen Investitionen erreichten eine Rekordmarke von drei Milliarden Dollar – trotz des stagnierenden Friedensprozesses.

Diese Zahlen spiegeln den Streit zwischen den beiden wirtschaftspolitischen Schulen in Israel wider, die man verkürzt als „Modernisierer" einerseits und „Traditionalisten" andererseits bezeichnen kann.

Die „Modernisierer" setzen auf das freie Spiel der Kräfte, eine primär an der Inflationsbekämpfung orientierte Wirtschaftspolitik und die weitgehende Privatisierung und Deregulierung der Wirtschaft. Mit dem Argument der Wettbewerbsfähigkeit in Zeiten der Globalisierung weisen sie auf ihre Erfolge bei der Inflationsbekämpfung und der Schuldenreduzierung hin und sehen sich vom Internationalen Währungsfonds bestätigt, dessen Vizepräsident Stanley Fisher als Leiter einer IMF-Delegation die restriktive Fiskal- und Geldpolitik der israelischen Regierung lobte und trotz vorübergehender Wachstumsschwäche eine positive Entwicklung prognostizierte. Die prominentesten Vertreter dieser Schule sind neben Netanjahu Finanzminister Ne’eman und Zentralbankpräsident Frenkel, doch teilen auch Oppositionspolitiker wie der frühere Wirtschaftsminister Beilin von der Arbeitspartei im großen und ganzen ihre Meinung.

Die „Traditionalisten" setzen angesichts wachsender Arbeitslosenzahlen und zunehmender Armut in den Randgebieten und Entwicklungsstädten auf öffentliche Infrastrukturprogramme, auch wenn dies weitere Verschuldung bedeuten würde. Ihr Feind Nummer Eins ist die Zentralbank, deren Hochzinspolitik als Ursache allen Übels angesehen wird; dementsprechend heftig bekämpfen sie Vorschläge einer Regierungskommission, die eine größere Unabhängigkeit für die Zentralbank nach dem Muster der Deutschen Bundesbank vorsehen. Diese Schule präsentiert sich als lockere Koalition quer durch die Parteien; ihr prominentester Exponent ist Ex-Außenminister Levy von der Gesher-Fraktion des Likud, und dazu gehören die meisten Abgeordneten von Shas. Intellektueller Vordenker dieser Gruppe ist der Avoda-Abgeordnete Ben-Ami, während der Histadrut-Vorsitzende Peretz die außerparlamentarische Speerspitze bildet, und merkwürdigerweise gehört auch der Chef des Industriellen-Verbandes, Propper, zu den Kritikern der Regierungspolitik und insbesondere der Zentralbank.

Auch die soziale Frage spaltet also die Nation und es gehört zu den Merkwürdigkeiten des politischen Lebens in Israel, daß diejenigen, die am härtesten von der liberalen Wirtschaftspolitik der Regierung betroffen sind, zu deren treuesten Wählern gehören – und überwiegend den Friedensprozeß ablehnen. Doch zumindest das erstere könnte sich mittelfristig ändern, denn im Gegensatz zur Friedenspolitik scheint Netanjahu hinsichtlich der Neugestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft über klare Vorstellungen zu verfügen. Diese zielen nach den Worten von Naomi Chazan, Abgeordnete der linksliberalen Meretz, „auf die systematische Unterminierung Israels als Sozialstaat" ab. Und ein Blick auf das vom Finanzminister vorgelegte Budget macht diese Einschätzung verständlich: Der einstmals allmächtige Vorsorgestaat – früher in vielen Sozialfunktionen auch von der Histadrut vertreten – versucht, sich seiner sozialen Lasten zu entledigen und diese der privaten Vorsorge und dem bürgerschaftlichen Engagement zuzuschieben. Betroffen von den vorgesehenen harten Einschnitten in das soziale Netz sind vor allem die Alten und die Armen. Kürzungen im Gesundheitsetat, beim Kindergeld, bei den Renten (gemildert durch den Generalstreik), beim Wohngeld – betroffen ist vor allem die Klientel der Koalitionsparteien. Denn auch dies gehört zu den Merkwürdigkeiten der israelischen Politik: Die linke Wählerschaft berührt dies weniger, zählt sie doch in der Regel zu den besser Verdienenden und Ausgebildeten. Doch um das Verwirrspiel komplett zu machen: Glaubt man den Polemiken der liberalen Presse, dann ging es beim Generalstreik vor allem um die üppige Pensionsversorgung von Staatsdienern und Angestellten öffentlicher Unternehmen auf Kosten des Steuerzahlers.

Daß aber die neuentdeckte soziale Frage nicht nur ein Phantom, sondern harte politische Realität ist, zeigt die heftige Auseinandersetzung um den Haushalt 1998. Dabei steht – wenig überraschend – nicht die parlamentarische Opposition im Mittelpunkt, sondern innerhalb der Regierung wird der Streit in aller Öffentlichkeit ausgetragen, wird von verschiedenen Seiten mit dem Bruch der Koalition gedroht. Die Protagonisten dieses Streits sind der Finanzminister Ne’eman auf der einen Seite, der als Hauptvertreter der Wirtschaftsliberalen sich mit einem eisernen Sparkurs profilieren möchte, und auf der anderen Seite vier Koalitionsparteien, die in erster Linie die Interessen ihrer Klientel im Auge haben:

  • Die Gesher-Partei von Ex-Außenminister Levy, früher Teil des Likud-Bündnisses, bestand auf der Einhaltung eines im Juli letzten Jahres abgeschlossenen Abkommens zwischen Levy und Netanjahu, in dem ein ganzes Bündel sozialer Maßnahmen verabredet wurde, u.a. die Ausdehnung des Ganztagsunterrichts an israelischen Schulen. Gesher wird überwiegend von Juden marokkanischer Herkunft gewählt und versteht sich als Repräsentantin eines sozialen Kurses im rechten, säkularen Lager.
  • Shas lehnt die Einschnitte im Gesundheitswesen, beim Kindergeld und der Wohnungssubventionierung ab, von denen vor allen die ärmeren sephardischen Schichten betroffen sind.
  • Die ultra-orthodoxe Vereinte Thora Liste beharrt vor allem auf der umfassenden Wohnungssubventionierung und der Bereitstellung günstiger Kredite für Wohnungsbau, da die Haredim in ihren Stadtvierteln in äußerst beengten Verhältnissen leben und sie zu den einkommenschwächsten Schichten zählen, weil die Männer meistens keinem Beruf nachgehen sondern lebenslange Thora-Studien betreiben.
  • auch für die Partei der russischen Einwanderer, Ba’Aliya, steht die Wohnungsfrage im Mittelpunkt, da die Neueinwanderer oft jahrelang in behelfsmäßigen Unterkünften leben müssen und angesichts der hohen Immobilienpreise in Israel ein Umzug in bessere Stadtviertel ohne staatliche Zuschüsse kaum möglich ist.

Diese klar definierten Interessenparteien sind es vor allem, die von der sozialen Frage in Israel reden und diese auf die Tagesordnung gesetzt haben. Sie haben sich bei den Auseinandersetzungen um den Haushalt auch weitgehend gegen den Sparkurs von Finanzminister Ne´eman durchgesetzt, obgleich dieser nur von Mehrausgaben in Höhe von 70 Mio. NIS redet; in Wahrheit dürften es mehrere hundert Millionen sein. So bestätigt sich das Bild, wonach in Israel die politische Linke weniger die sozialen Belange der ärmeren Schichten, als die Interessen des Establishments vertritt. Angesichts der sich verschärfenden sozialen Gegensätze und der zunehmenden Kluft zwischen arm und reich kann sich dieses Image bei den nächsten Wahlen ebenso verhängnisvoll auswirken wie der Abstand zum sephardischen Bevölkerungsteil. So hat Avoda-Parteichef Barak auch hier eine Neuorientierung der Parteistrategie und –programmatik eingeleitet.

Die wachsende soziale Kluft trägt zweifellos zur weiteren Spaltung der israelischen Gesellschaft bei, und viele sehen hier den eigentlichen Bruch mit dem zionistischen Ideal der Anfangszeit des Staates und die größte Gefährdung der nationalen Einheit, weil sie den Sprengstoff liefert für die ethnisch-religiös motivierten egoistischen Forderungen der verschiedenen Interessengruppen. Eine negative Koalition ethnischer, religiöser und sozialer Gruppen gegen das herrschende Establishment als einziger verbleibender Klammer der Nation, der Aufstand der armen Randbezirke und Entwicklungsstädte gegen die wohlhabende Metropole Tel Aviv, die an einem Shabbat-Abend den Religiösen als Sündenbabel, den Armen aus den Vorstädten als unerreichbarer Traum erscheinen mag – das ist der Alptraum der aufgeklärten, modernen Schichten, die Israel noch vor kurzem als modernen High-Tech-Staat, als Hongkong des Nahen Ostens in greifbarer Nähe sahen und deren Traum seit dem Regierungswechsel 1996 in weite Ferne zu rücken scheint.

Doch auch in dieser Hinsicht läßt die Widersprüchlichkeit der israelischen Gesellschaft Hoffnung aufkeimen: Der religiöse Finanzminister Ne’eman entpuppt sich als – vorerst zumindest – effizienterer Vertreter einer modernen Wirtschaftspolitik als alle seine Vorgänger aus dem linken Lager, und im Wirtschaftsteil der Zeitungen wird er allmählich zum Liebling der säkularen Modernisierer. Auf der anderen Seite hat es den Anschein, als ob sich die Histadrut – für die meisten Israelis noch immer Sinnbild einer unheilvollen Symbiose von Staats- und Klasseninteressen – langsam zu einer modernen Interessenvertretung der Arbeitnehmer entwickeln und somit eine wichtige Funktion beim Ausgleich sozialer Interessen und damit auch für die Einheit der Nation übernehmen könnte. Zwar sind die Wunden des radikalen Schnitts von 1995 noch nicht ganz verheilt, als die Histadrut ihre Monopolstellung bei der Krankenversicherung aufgeben mußte und die Hälfte ihrer Mitglieder verlor. Doch inzwischen ist die Mitgliederzahl wieder auf 750 000 gestiegen, und immer mehr Arbeitnehmer sehen in ihr inzwischen die einzige Bastion gegen Sozialabbau und überbordende Privatisierungswellen. Auch ist die Gewerkschaft heute die einzige große gesellschaftliche Organisation, in der sich nahezu alle Segmente der israelischen Gesellschaft wiederfinden; gesteuert wird sie von einer Koalition, in der Avoda, Meretz, Shas, die (überwiegend arabische) Kommunistische Partei und die Arabische Demokratische Partei vertreten sind. Über allem thront der populistische Vorsitzende Amir Peretz, der in seiner Person den möglichen Kompromiß der Zukunft symbolisiert: Sepharde und Avoda-Abgeordneter, Peacenik der ersten Stunde und trotzdem in der Entwicklungsstadt Sderot 1983 zum Bürgermeister gewählt – eine seltene Mischung, die den Weg eines westlichen Staates in einer orientalischen Umwelt weist und dem Land den inneren und äußeren Frieden bescheren könnte.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 1999

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