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Überblick

1997 brachte Polen eine Reihe „guter Nachrichten": Einladungen zu NATO- und EU-Beitrittsverhandlungen, stabiles Wirtschaftswachstum, Steigerung von Reallöhnen und Lebensstandard, einen Optimismus und Einigkeit inspirierenden Papst-Besuch, pro-europäischen Haltungswandel von Teilen des polnischen Episkopats, eine neue „große" Verfassung und – für viele – mit der neuen „Post-Solidarnosc"-Regierungskoalition verbundene Hoffnungen. Das Jahr brachte aber auch „bad news": die katastrophale Jahrhundert-Flut vom Sommer, eine überhitzte Wirtschaft mit bedrohlich steigenden Handels- und Leistungsbilanzdefiziten, aggressiver Klerikalismus und Chauvinismus des rechtskatholischen Radio Maryja, radikale Auswechslungen und Personal-„Säuberungen" auf allen Verwaltungsebenen nach Antritt der neuen Regierung und die Ankündigung von Gebühren-, Mehrwertsteuer- und Konsumsteuererhöhungen ab 1998 zwecks wirtschaftlicher Abkühlung.

Aus diesem Puzzle konnte sich jeder Pole ein eigenes Bild vom Jahreswechsel zusammenstellen. Daß sich dieses schon gegenüber der Optimismuswelle nach den Wahlen zu ändern scheint, zeigen im Januar veröffentlichte Umfragedaten, die eine wachsende Zahl von Polen, die die Aussichten ihres Landes pessimistisch bewerten, und ein Absinken der optimistischen Sichtweisen ausweisen.

1) Obwohl füreinander nicht Wunschpartner, gelang es der neuen Koalition aus Wahlaktion Solidarnosc (AWS) und Union der Freiheit (UW), nach siebenwöchiger Verhandlung ein vielversprechendes Programm vorzulegen. Premierminister Prof. Jerzy Buzek verkündete eine „zweite Etappe der Transformation" mit tiefgreifenden Strukturreformen, Dezentralisierung, Privatisierung, Renten-, Gesundheits- und Bildungsreform. Kritiker verweisen auf einen unüberwindbaren Widerspruch im Regierungsprogramm zwischen familienorientierten Wahlversprechen und notwendigen Reformen, insbesondere in den weiterhin in staatlicher Hand befindlichen Hochburgen der Gewerkschaft „Solidarnosc", der die schwierigste Spannungslinie zwischen den Koalitionspartnern bilden wird.

Die ersten Regierungsentscheidungen hatten politisch-demonstrativen Charakter: Als Geschenk an den frommen Teil der Stammwählerschaft und die Kirche wurde vom Sejm die Entscheidung des Verfassungsgerichts über die Verfassungswidrigkeit des von der SLD/ PSL-Koalition verabschiedeten liberalen Abtreibungsgesetz bestätigt. Das noch von der Suchocka-Regierung ausgehandelte Konkordat, dessen Ratifizierung von der letzten Regierung – wegen seiner in Europa ungewöhnlichen Sonderrechte für die Kirche – verhindert worden war, wurde im Januar ratifiziert. Die Versuche, den ebenfalls von der letzten Regierung eingeführten Sexualkundeunterricht in den Schulen zu stoppen und Privilegien bei den Rentenerhöhungen von Polizisten, Offizieren und Grenzschutzbeamten, die zum großen Teil SLD wählen, abzubauen, scheiterten am Veto des Präsidenten und ließen sich gegen Stimmen aus UW bzw. Bauernpartei nicht durchsetzen.

2) Die „Cohabitation a la Polonaise" zwischen „linkem" Staatspräsidenten und „rechter" Regierungskoalition verspricht, schwierig zu werden. Betrieben von AWS, begann sofort nach den Wahlen eine Politik der Nadelstiche gegenüber der Präsidentschaft. Der Präsident befindet sich in einem grundsätzlichen Dilemma. Auch wenn er „Präsident aller Polen" sein will und kontroverse Entscheidungen vermeiden möchte, kann er es sich – mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 – nicht leisten, seine eigene Basis, das SLD, allzu sehr zu enttäuschen.

3) Der strahlende Wahlsieger, Marian Krzaklewski, Vorsitzender der Gewerkschaft Solidarnosc, suchte für sich, auch im Blick auf die Präsidentschaft im Jahre 2000, die Rolle politischer Führerschaft ohne Regierungsverantwortung. Als Fraktionsvorsitzender der AWS gründete er, wie vor den Wahlen angekündigt, die Partei „Soziale Bewegung Wahlaktion Solidarnosc" (RS AWS). 50% der befragten Polen geben ihr Chancen, einmal die gewünschte christlich-demokratische Volkspartei zu werden, die die Gewerkschaft Solidarnosc von ihrer bisherigen Doppelrolle als Akteur auf der politischen Bühne und zugleich Verteidiger der Arbeitnehmerinteressen in den Unternehmen entlasten würde. Der derzeitige „Superstar der Rechten" und „Mann des Jahres" hat die schwierige Aufgabe, die rechtskatholischen, nationalistischen Teile der AWS, die „Radio-Maryja-Familie", zu zentristischeren Positionen zu bewegen oder in anderer Form einzubinden. Sollte ihm dies auch mit Hilfe der neu gegründeten RS AWS gelingen, könnte die Koalition lange Zeit regieren.

4) Für die polnische Linke, das Bündnis der Demokratischen Linken (SLD), das in den Wahlen fast 7% zulegte, dennoch als größerer Koalitionspartner abgewählt wurde, und die Union der Arbeit (UP), die an der 5%-Hürde scheiterte, kann die Zukunft schwierig werden. SLD und die es führende Sozialdemokratie Polens (SdRP), die eine insgesamt positive vierjährige Regierungsbilanz vorweisen können, befinden sich in einer seltsamen Situation: Einerseits wird ihre politische Zukunft in hohem Maße von der performance anderer Spieler auf der politischen Bühne, AWS und Kirche, bestimmt. Andererseits sind sie zum ersten Mal seit ihrer Formierung nach der Wende in ihren Handlungsmöglichkeiten frei. Trotz der Versicherungen ihres neuen Vorsitzenden, Leszek Miller, man werde eine konstruktive Opposition sein, wird befürchtet, SLD werde, auch wegen der knappen Zeit bis zu den im Sommer 1998 vorgesehenen Kommunalwahlen, eine populistische Wählerfangpolitik verfolgen. Viele Führungsmitglieder von SLD und SdRP, auch manche der UP, sprechen von der Notwendigkeit einer Neuformierung einer vereinigten Linken. Test der Bewegungschancen des sich sozialdemokratisch verstehenden Lagers in Polen werden die Kommunalwahlen sein.

5) Die Unterzeichnung der Beitrittsprotokolle im Dezember, die Polens förmlichen Aufnahmeprozeß in die NATO einleiten, ist die glückliche Lösung eines 250 Jahre alten Dilemmas. Der Beitritt gilt als endgültige Überwindung der geostrategischen Isolation Polens und die lange gesuchte Sicherung durch die Schutzmacht USA. Daß eine NATO-Mitgliedschaft des Landes auch – zum ersten Mal seit 1000 Jahren – eine Bündnisgemeinschaft mit Deutschland konstituiert, wird in Polen betont.

6) Am 13. Dezember 1997 wurde Polen zu im April 1998 beginnenden EU-Beitrittsverhandlungen eingeladen. Seit 1992 hat Deutschlands größter östlicher Nachbar eine bemerkenswerte Wirtschaftsdynamik erlebt, die sich auch 1997 mit ca. 6% Wachstum fortgesetzt hat. Der Erholungsprozeß war in Polen schneller und stärker als in allen anderen Ländern der Region. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen – nach Kaufkraftparitäten berechnet – von etwa 7.000 US-$ Ende ‘97, damit ca. 32% des EU-Durchschnitts-Pro-Kopf-Einkommens, bleibt der Abstand, selbst zu den ärmsten EU-Ländern, groß. Finanzminister Balcerowicz und andere Vertreter der Regierung wissen, daß Polen für einen raschen Aufholprozeß einen neuen „push forward" benötigt. Verbesserung der Funktionsweise der Märkte, Privatisierung, Deregulierung, mikroökonomische Restrukturierung, institutionelle und administrative Reformen wie auch eine feste Orientierung auf Westeuropa sind nicht nur wünschenswert, sondern nötig für den zu beschleunigenden Modernisierungsprozeß des Landes. Die Überhitzung der Wirtschaft und die sich aus dem steigenden Leistungsbilanzdefizit ergebenden Gefahren ihrer Infizierung mit dem „asiatischen Grippevirus" lassen die Aufgabe für Regierungsverantwortliche nicht leichter werden. In den Wahlen hat Polen – so Adam Michnik – seine Reifeprüfung abgelegt. Unabhängig von politischen Präferenzen scheint die Übung der AWS im Regieren und des SLD in der Opposition für die politische Kultur des Landes förderlich. Ein Aufbrechen der ideologischen und wirtschaftspolitischen Spannungen innerhalb der AWS und zwischen AWS und ihrem Koalitionspartner UW – zu Beginn des Jahres ‘98 gab es mancherlei Anzeichen hierfür – würde niemandem dienen.

7) Deutschland ist Polens wichtigster Handelspartner und zweitgrößter Auslandsinvestor. In Polen und Deutschland wird gerne betont, das Verhältnis zwischen beiden Ländern sei so gut wie nie zuvor. Statt „Versöhnung" werde nun „Normalität" das Schlüsselwort. In der Tat trifft und spricht man sich auf politischer Ebene häufig, die Kontakte in Städtepartnerschaften, Freundschaftsgesellschaften, über Vereine oder Stiftungen haben erheblich zugenommen. Dennoch ist Polen für die meisten Deutschen eine stereotypenbesetzte terra incognita. In Teilen der polnischen Bevölkerung besteht die geschichtlich begründete Angst vor einem zu starken deutschen Einfluß. Das Unwissen von Deutschen über Polen, gerade im Vergleich zu den Kenntnissen in Polen über Deutschland, ist beeindruckend. Weder in Polen noch in Deutschland scheinen die Konsequenzen einer Öffnung der EU ausreichend und – vor allem – ehrlich diskutiert zu werden.

Die gern benutzte Formel, das deutsch-polnische Verhältnis müsse und werde sich nach dem Vorbild des deutsch-französischen gestalten, übersieht die sehr unterschiedlichen, geschichtlich bedingten Voraussetzungen. Während in den deutsch-französischen Beziehungen ein etwa ausgeglichenes historisches Konto und ähnlicher Wirtschaftsstand bei gegenseitigem Respekt ein Gleichgewicht bewirken, müssen zwischen Polen und Deutschen erst die Erfahrungen langjähriger, fruchtbarer gesellschaftspolitischer Zusammenarbeit Grundlagen für gleichwertige Anerkennung legen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1999

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